NATO-Erweiterung +++ Wehrpflicht +++ Kampfpanzer V: Der Zeitpunkt der Entscheidung und die Sachlage (Umfragen, Kommentar) | Briefing 120 | Geopolitik, Ukrainekrieg, Aufrüstung, Atommächte

Frontpage | Briefing 120 (hier zu 119, dessen Fortsetzung der aktuelle Beitrag darstellt) | Geopolitics, Ukraine War and beyond

Liebe Leser:innen, die Woche startet bei uns mit einem Roundup zum Krieg in der  Ukraine – in Form von Umfragen, die in den letzten Tagen gestellt wurden und bei denen Sie noch mitmachen können.

Ganz aktuell ist die Frage, ob Schweden der NATO beitreten sollte:

Civey-Umfrage: Sollte die NATO Ihrer Meinung nach Schweden als Mitgliedstaat aufnehmen? – Civey

Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson bekräftigte am Donnerstag erneut den Wunsch eines NATO-Beitritts seines Landes. Schweden und Finnland hatten sich im Frühjahr 2022 um eine Mitgliedschaft beworben. Mit Ausnahme von Ungarn und der Türkei haben 28 der 30 NATO-Länder den Anträgen zugestimmt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wirft den beiden skandinavischen Ländern vor, Terrorgruppen wie die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu schützen.

Ein baldiger Beitritt wäre laut Kristersson für die schwedische Sicherheit von großer Bedeutung. Dabei verwies er optimistisch auf die anderen NATO-Länder, die Druck auf die Türkei ausüben würden. Im Juni hatte die NATO offiziell eine Beitrittseinladung an Schweden und Finnland ausgesprochen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg begründete die Notwendigkeit, die kollektive Verteidigung zu reformieren, mit dem russischen Angriffskrieg.

Russlands Präsident Wladimir Putin drohte der NATO daraufhin mit Konsequenzen. Die angestrebte NATO-Erweiterung an Russlands Grenzen stelle eine Bedrohung für sein Land dar, daher werde man dementsprechend reagieren, sagte er im Sommer. Erdoğan verkündete derweil letzte Woche erneut, den Beitritt Schwedens nicht zu unterstützen. Grund dafür seien anti-türkische Protestaktionen im Januar, bei denen u.a. ein Koran in Stockholm verbrannt wurde.

Zuletzt hatte Erdogan signalisiert, Finnland evtl. zu unterstützen, Schweden aber nicht. Und da kam es zu einem kleinen Riss in der skandinavischen Nachbarschaft und Freundschaft, weil jemand in Finnland vorgeprescht war.

„Schweden wird schockiert sein“: Erdogan würde Finnlands NATO-Beitritt zustimmen – n-tv.de

 Sehen wir bei Cive-Umfragen nicht oft, dass eine Dreiviertelmehrheit sich ganz eindeutig für etwas ausspricht. Wie hier für den NATO-Beitritt Schwedens. Zu dieser Mehrheit haben wir uns auch gesellt. Wenn man sieht, wie es in vielen Teilen der Welt zugeht, sind skandinavische Länder in dem Boot, in dem  man selbst sitzt, ein Glücksfall und eine Gelegenheit. Irgendwann wird sich das Zeitfenster vielleicht schließen, deshalb sollte man die derzeit überwiegende Unterstützung der Bevölkerung auch in diesen Ländern nutzen, um die NATO um zwei Staaten zu erweitern, die ihr nicht so viele Probleme bereiten werden wie gewisse Halbdiktatoren am Bosporus.

Was die Ungarn einwenden, haben wir bisher nicht nachverfolgt, es hat uns auch überrascht, aber deren geostrategische Position ist nun einmal eine ganz andere als die des benachbarten Polens. Zuvor vereint im Rechtsruck, geht man zunehmend getrennte Wege, auch in der Frage der NATO-Erweiterung.

Die Realität indes ist kompliziert:

Nato-Beitritt von Schweden: Druck aus anderen Bündnisländern | ZEIT ONLINE

Im Moment sieht es nicht nach einer schnellen Lösung aus. Was wir nicht unbedingt als vorrangig ansehen: Dass nun die beiden skandinavischen Länder sofort der NATO beitreten, um die Einigkeit des Westens gegenüber Russland zu demonstrieren. Das wäre ein Plus, aber es ist keine Notwendigkeit. Russland wird diese Länder wohl kaum angreifen, vor allem Schweden nicht, denn wenn es das täte, müsste auch die Türkei nachgeben und sie in die NATO lassen. Was in dem verlinkten Zeit-Artikel an Argumenten bereitgestellt wird, kann man noch um eines ergänzen: Erdogan profitiert nicht nur innen- sondern auch außenpolitisch davon, dass er darüber entscheidet, ob sich die NATO erweitern darf. Die Position der Türkei als regionale Großmacht und geostrategischer Mitspieler wird dadurch weiter gestärkt. Der Ukrainekrieg ist da eher ein willkommenes Ereignis, infolgedessen man sich sogar als Vermittler darstellen kann. Demokratiedefizite und das Vorgehen der türkischen Armee gegen die Kurden in der Türkei und in Syrien geraten  auf diese Weise allemal in den Hintergrund.

In Deutschland hingegen wird darüber nachgedacht, wie man die Verteidigungsfähigkeit stärken, oder soll man schreiben, wiederherstellen kann?

Civey-Umfrage: Sollte Deutschland Ihrer Ansicht nach die Wehrpflicht wieder einführen? – Civey

Angesichts des Russland-Ukraine-Krieges vollzieht die Bundesregierung einen Kurswechsel in der Verteidigungspolitik. Die Wehrpflicht wurde 2011 unter dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) ausgesetzt. Laut bpb lehnen fast alle Parteien die Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht ab, bis auf die AfD. Es wird jedoch seit 2018 immer wieder über eine „allgemeine Dienstpflicht“ diskutiert.

Generalinspekteur Eberhard Zorn sagte der Funke-Mediengruppe: „Die Wehrpflicht, so, wie wir sie noch kennen, ist in der jetzigen Situation nicht erforderlich“. Zorn argumentiert, dass die Bundeswehr und ihre Aufgaben sich verändert haben und gut ausgebildetes, teilweise hochspezialisiertes Personal benötigt wird. Zorn betone, dass eine Entscheidung dieser Tragweite nicht schnell getroffen werden kann und forderte eine gesamtgesellschaftliche Debatte sowie einen politischen und gesellschaftlichen Konsens.

Pistorius: „Es war ein Fehler, die Wehrpflicht auszusetzen.“ Zuletzt äußerte sich auch der der neue Verteidigungsminister Pistorius in einem Interview in der Süddeutschen. „Wenn Sie mich als Zivilisten fragen, als Staatsbürger, als Politiker, würde ich sagen: Es war ein Fehler, die Wehrpflicht auszusetzen.“ Die Wehrpflicht sei dabei weniger aus militärischer Sicht von Bedeutung gewesen, sondern um in der Gesellschaft einen stärkeren Bezug zur Bundeswehr zu schaffen. „Früher saßen an jedem zweiten Küchentisch Wehrpflichtige“, sagte Pistorius. „Auch dadurch gab es immer eine Verbindung zur Zivilgesellschaft.“

Alle Parteien außer der AfD sind dagegen, aber in der Bevölkerung gibt es eine relative Mehrheit für die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Wir haben mit „unentschieden“ gestimmt. Wir finden eine allgemeine Dienstpflicht sinnvoll, das haben wir bereits an anderer Stelle betont und Gründe dafür benannt.

Alltagsrassismus +++ Allgemeine Dienstpflicht +++ EU-Kindergeld (Umfragen) | Gesellschaft | Immer noch aktuelle Themen, neu aufgesetzt – DER WAHLBERLINER

Aber ob es die Wehrpflicht sein muss und wie man in der heutigen Gesellschaft mit Kriegsdienstverweigerern umgehen müsste, ist eine Frage, die zunächst diskutiert werden muss. ES geht uns um ein Zusammenrücken der Gesellschaft, nicht um deren Militarisierung, wenn wir allgemein eine Dienstpflicht befürworten. Andererseits: Ganz klar, die Bundeswehr war zu unserer Zeit viel mehr „mittig“ als heute, auch wenn sie nicht exakt den gesellschaftlichen Querschnitt darstellte – es fehlten schon damals diejenigen, die den Dienst an der Waffe verweigerten. Aber die Bundeswehr war mehr in die Gesellschaft integriert als es die jetzige Berufsarmee ist, da hat Verteidigungsminister Pistorius schon recht.

Selbstverständlich werden wir den Nachhall zu der Entscheidung, Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 an die Ukraine zu liefern, nicht unter den Tisch fallen lassen. Nach der Entscheidung ist vor der Bewertung, hat man sich bei Civey gesagt und diese Umfrage erstellt:

Civey-Umfrage: Hat die Bundesregierung Ihrer Meinung nach bei der Entscheidung, Leopard-Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, zu lange gezögert? – Civey

Nun steht es fest: Deutschland liefert in einem ersten Schritt 14 Leopard-2-Panzer an die Ukraine. Bereits Anfang März vergangenen Jahres hatte die Ukraine erstmals nach Kampfpanzern westlicher Bauart gefragt. Die Ukraine hofft, mit den Kampfpanzern weiteres Gelände zurückzuerobern und gleichzeitig wird für das Frühjahr eine Offensive Russlands befürchtet. Der Bundeskanzler Olaf Scholz stellte sich am Mittwoch im Bundestag den Fragen der Abgeordneten. Im Fokus stand das lange Zögern bei der Entscheidung zur Kampfpanzer-Lieferung.

„Das lange Zögern und Zaudern hat natürlich auch Menschenleben in der Ukraine gefordert“, sagte der CDU/CSU-Parlamentsgeschäftsführer Thorsten Frei gegenüber dem rbb. Auch der Grünen-Politiker Anton Hofreiter glaubt, eine schnellere Entscheidung wäre besser gewesen, „insbesondere für das Ansehen Deutschlands in Europa.“ CDU-Chef Friedrich Merz befürchtet, dass die lange Entscheidungsphase bei Partnern in der Europäischen Union den Eindruck hinterlassen habe, „dass man dieser Bundesregierung nicht trauen kann, dass man sie treiben muss.”

„Vertrauen Sie mir und vertrauen Sie der Bundesregierung“, ruft Bundeskanzler Scholz die Bürgerinnen und Bürger auf. Jede Entscheidung treffe er in enger Abstimmung mit den Verbündeten und mit dem Ziel, „eine Eskalation des Krieges zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO [zu] verhindern.“ Militärexperte Carlo Masala vermutet im BR24-Interview, dass dem Kanzler wichtig war, zeitgleich mit den USA Panzer zu liefern, um „das Risiko bei einer möglichen Gegenreaktion [zu] teilen.“ Politiker der Linken und der AfD sind gänzlich gegen Panzerlieferungen an die Ukraine und warnen vor einer möglichen Eskalation des Konflikts.

Eine knappe absolute Mehrheit sagt, die Bundesregierung respektive Kanzler Scholz, haben nicht zu lange mit der Entscheidung gezögert, darunter fast 39 Prozent, dass das ganz eindeutig ist. Zu dieser relativen Mehrheit zählen wir.

Scholz verteidigt abwägenden Kurs bei Lieferung von Kampfpanzern an Ukraine | WEB.DE

Hier eine Übersicht über das, was bis jetzt auch aus anderen Ländern bekannt ist:

 Diese Staaten wollen westliche Kampfpanzer an die Ukraine liefern | WEB.DE

Uns ist klar, dass aufgrund der Einbindung Deutschlands in internationale, von den USA dominierte Strukturen eine andere Entscheidung nicht möglich war, aber wie sie gefallen ist und dass die USA ihrerseits mitgezogen haben, war wichtig und mehr an  Zurückhaltung war nicht möglich. Klar, dass NATO-Gegner Scholz für diese Entscheidung angreifen. Aber eine Regierungspartei in Deutschland kann in einer Frage wie dieser nicht machen, was sie will. Man mag das bedauern und mehr Unabhängigkeit fordern. Sie gerade in einer Phase zu erlangen, in welcher die Reihen wieder mehr geschlossen werden, würde den sehr hohen Preis erfordern, dass Deutschland sich selbst ganz anders bewaffnen müsste. Allerdings ist der Erfolg einer vergleichsweise klugen Strategie des Kanzlers fraglich, wenn andere Mitglieder der Ampelregierung wieder einmal aus dem Ruder laufen:

Baerbock wird nach Aussage für russische Propaganda missbraucht | WEB.DE

Wir sind gespannt, wie lange es noch dauert, bis die Unterkomplexität der Außenminsterin auch dem beträchtlichen Teil der Medien auffallen wird, der sie immer noch hypt. Scholz hat es immerhin erreicht, dass er in Russland als von den USA mehr oder weniger getrieben dargestellt wird. Das nimmt Deutschland ein wenig aus dem Fokus und entspricht sicher der Hauptlinie in der russischen Politik, nicht zu provozieren, dass man nur durch einen Schlag gegen europäische NATO-Länder beweisen muss, dass man mutig und stark ist. Doch Baerbock muss unbedingt Öl ins Feuer gießen, während der Kanzler nun in Südamerika unterwegs ist, um wirtschaflich-politische Allianzen mit Staaten aller Art zu schmieden, ganz frei von „Werten“, die sowieso angesichts von unzähligen Mehrfachstandards, die eine eher am Sachergebnis orientierte Außenpolitik mit sich bringt, unglaubwürdig wirken. Nicht einmal die USA leisten sich eine Politik, die so verstiegen wirkt wie das, was Baerbock vorgaukelt. Und die könnten es sich weitaus eher leisten, weil sie mehr Druck bei der Umsetzung von „Werten“ machen können.

Dass die aktuelle Lage, wie in vielen andere Bereichen, den USA in die Hände spielt, hat Wladimir Putin zu verantworten. Er muss damit klar kommen, dass eine ganze Reihe von Staaten, von denen jeder wirtschaftlich potenter ist als Russland, nun aufrüsten werden. Jüngstes Beispiel ist Japan: Die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt legt sogar in Teilen den Pazifismus ab, der das Gepräge dieser Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg mitbestimmt hat. Spannungen mit China und Nordkorea wachsen: Japan rüstet auf | Politik (merkur.de) Wird Japan, das erste und bis jetzt einzige Opfer der Atombombe, auch zu Atomwaffen greifen, um zum Beispiel die durchaus reale Gefahr aus Nordkorea zu beantworten? Man sollte das nicht ausschließen.

Die Welt wird nicht friedlicher, das ist eindeutig. Soll man sich gegen diese Tendenz stemmen oder sagen, man lebt mit der Gefahr und tut das Beste, um nicht wehrlos zu sein? Der Ukrainekrieg ist im Grunde ein Beleg dafür, dass Nicht-Atomstaaten die schlechteren Karten haben, wenn es um den Schutz der territorialen Integrität geht. Das ist sehr beunruhigend und wird immer mehr Potentaten dazu bringen, Atomprogramme voranzubringen. Das nächste Land, das den Durchbruch erzielen wird, dürfte der Iran mit seinem repressiven Mullah-Regime sein. Wollen die USA dagegen ernsthaft militärisch zu Felde ziehen? Das kommt uns sehr unwahrscheinlich vor, schon gar angesichts der ohnehin angespannten Weltlage. Wir glauben nicht, dass der Dritte Weltkrieg sich schon am Ukrainekonflikt entzünden wird, denn letztlich stehen sich hier Mächte gegenüber, die schon sehr lange Atomwaffen haben und bisher immer, egal, was sonst passiert ist, auf deren Einsatz verzichtet haben. Aber es kommen stets weitere hinzu, die weitaus unberechenbarer sind als Russland es selbst in seinem jetzigen Zustand ist. Wir malen uns viele Szenarien aus, eines ist beunruhigender als das andere. Aber damit werden wir jetzt alle wieder leben müssen, nachdem die Chance zu einer friedlichen Weltordnung nach dem Ende des (ersten) Kalten Krieges verpasst wurde. Rückblickend kann man sagen: Vor allem im Westen war das Interesse an echter Deeskalation und Kooperation gering.

TH

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