Frontpage | Briefing 150 | Gesellschaft, Politik, Freiheitsindex 2023, Freedom House
Viele Rankings gibt es, mit denen Länder vergleichbar gemacht werden sollen, erst aus dem Gesamtbild ergibt sich etwas wie eine halbwegs sichere Grundlage für die Beurteilung. Jetzt ist der Report des Freedom House für das Jahr 2023 erschienen, der die Entwicklungen im Jahr 2022 zusammenfasst.
Die Gesamtliste finden Sie hier: Länder und Gebiete | Freedom House. Ja, es gibt Länder, die auf 100/100 kommen. Und sie liegen in Europa. Das ist doch eine sehr positive Feststellung. Nach unserer Ansicht kann ein Land nicht 100 Prozent in einem Index irgendeiner Art erreichen, denn es gibt nicht die perfekte Freiheit und die perfekte Demokratie. Bisher jedenfalls. Wirtschaftliche Freiheit beispielsweise wird viel zu wenig daraufhin untersucht, wie klassistisch sie ist, und gerade da hapert es in allen aktuellen Demokratien – mehr oder weniger. Aber ganz vorne sind die skandinavischen Staaten, die auch sonst Rankings aller Art anführen und wir gönnen ihnen hier einmal die 100-Prozent-Bewertungen, denn es muss ja Vorbilder und Musterschüler geben.
Deutschland ist in der Spitzengruppe, aber es gibt auch Mängel zu beklagen: Deutschland: Länderbericht Freiheit in der Welt 2023 | Freedom House. Bei der politischen Partizipation wird bemängelt, dass zu viele dauerhaft in Deutschland wohnende Menschen kein Wahlrecht haben und der Zugang zur Staatsbürgerschaft vergleichsweise restriktiv gehandhabt wird.
Im Bereich der Freiheit der Religionsausübung zitieren wir den Text direkt, der auch hier nur eine 3/4-Wertung erbringt:
Die Glaubensfreiheit ist gesetzlich geschützt. Allerdings haben acht Bundesländer Gesetze verabschiedet, die das Tragen von Kopftuch für Lehrerinnen verbieten, während Berlin und Hessen ein Kopftuchverbot für Beamte erlassen haben.
Der Antisemitismus in Deutschland hat in den letzten Jahren zugenommen. Das Bundesministerium des Innern verzeichnete im Jahr 3 mehr als 000.2021 Straftaten gegen jüdische Personen und Organisationen, wobei die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher sein dürfte. Querdenken-Demonstranten berufen sich regelmäßig auf antisemitische Verschwörungstheorien.
Islamophobie bleibt ebenfalls ein Problem. Die deutsche Polizei registrierte im Jahr 662 mindestens 2021 politisch motivierte Angriffe auf muslimische Personen und Institutionen. (Quelle s. o.)
Während der Kampf gegen Antisemitismus und Islamophobie eindeutig von großer Bedeutung ist und intensiviert werden muss, ist das „Kopftuchverbot“ auch ein Ausdruck des säkluaren Staates. Freilich müssen religiöse Insignien dann überall und bezüglich aller Religionen aus den Schulen verbannt werden, das gilt auch für das Kreuz im Klassenzimmer. Der Staat ist bei uns religionsneutral und es gibt keine Staatsreligion, nicht einmal in Bayern. Die Frage schließt sich wiederum an, ob das Tragen eines Kopftuchs religiöse Symbolik beinhaltet. Wir meinen aus unserer doch recht lebensnahen Berliner Sicht heraus: ja, doch. Wir haben daher das Kopftuchverbot in bestimmten, eng umgrenzten Bereichen bisher unterstützt.
Es ist ein komplexes Thema, weil es auch um Frauenrechte und die Selbstbestimmung von Frauen geht, um Gesellschaftsbilder, die nicht mit einer modernen, säkular-aufgeklärten Demokratie vereinbar sind und wie weit sie das Bild der Öffentlichkeit bestimmen und sich sogar im Rechtssystem festsetzen dürfen. Nach unserer Ansicht stecken demokratische Staaten mit hohem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, deren persönliche Rechtsauffassungen und Weltbilder nicht mit jenen des Staates übereinstimmen, kaum die volle Punktzahl erhalten, wenn Religionsfreiheit im Sinne ungehinderter Propaganda in der Öffentlichkeit in diesem Fall bedeuten würde, diese Freiheit über die Grundrechte und damit auch über die Freiheit anderer zu stellen. Deswegen sind wir bei diesem Teil der Bewertung skeptisch, sofern er religiöse Symbolik betrifft, nicht aber, was die Notwendigkeit betrifft, gegen die Angehörige bestimmter Religionen gerichtet Straftaten stärker zu bekämpfen. Halbe Punkte gibt es nicht, sonst hätten wir hier auf 3,5/4 plädiert.
In Bezug auf die freie Meinungsäußerung wird insbesondere kritisch beäugt, dass der Staat sich Gesetze zur Überwachung und Datensicherung schafft, deren Verfassungsmäßigkeit durchaus in Frage steht und in einem Fall (Bayern) ist ein solches Gesetz bereits beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gescheitert. Hier stimmen wir zu, dass etwas im Argen liegt und man aufpassen muss, dass diese Entwicklung nicht immer weitergetrieben wird.
Ein weiteres Kapitel, bei dem Deutschland nicht die volle Punktzahl erreicht, nennt sich „Gibt es Schutz vor der illegitimen Anwendung physischer Gewalt und Freiheit von Krieg und Aufständen?“
Der Lübke-Mord hallt darin noch nach und auch die Reichsbürgerszene verhindert, dass Deutschland hier die volle Punktzahl erreicht. Und was wäre bei einem aus sozialen Gründen berechtigen linken Aufstand? Eine Schwäche des gesamten Index ist ganz sicher, dass er eben die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit und die Chancengleichheit nicht so in den Vordergrund rückt, dass für Verbesserungen im dem Bereich systemkritische Ansätze legitim sein können, die durchaus Unruhe in der Zivilgesellschaft bedeuten, wie derzeit im Bereich des Klimaschutzes.
Einige Themenkreise überschneiden sich, aber insgesamt ist die Abgrenzung nachvollziehbar. Im Bereich der Gleichbehandlung gibt es weitere Defizite (3/4), bei deren Darstellung wir auch auf unseren gestrigen Artikel zum Weltfrauentag verweisen können: Zum Weltfrauentag: „Für Frauen ist die Welt anders“ (…)
Die Rechte der Frauen sind durch Antidiskriminierungsgesetze geschützt. Frauen sind jedoch mit einem geschlechtsspezifischen Lohngefälle konfrontiert – sie verdienen ab 18 durchschnittlich 2021 Prozent weniger pro Stunde als Männer -, während Männer eher Vollzeit beschäftigt sind. Die Unterschiede waren in Westdeutschland deutlich höher als in Ostdeutschland. Ein Gesetz, das große deutsche Unternehmen verpflichtet, mindestens 30 Prozent der nicht-exekutiven Vorstandssitze für Frauen zu reservieren, trat 2016 in Kraft, aber dieses Gesetz betrifft eine begrenzte Anzahl von Unternehmen. Im August 2021 trat ein ähnliches Gesetz in Kraft, das die Vorstände börsennotierter Unternehmen verpflichtet, mindestens eine Frau zu vertreten; Wenn die Bundesregierung die Mehrheit an einem Unternehmen hält, müssen 30 Prozent der Vorstandssitze dieses Unternehmens für Frauen reserviert sein.
Schlussendlich gibt es aber doch noch das Kapitel (soziale) Chancengleichheit und Freiheit von wirtschaftlicher Ausbeutung. Hier bekommt Deutschland ebenfalls nur 3 von 4 Punkten, aber wegen einer Besonderheit:
Laut dem BKA und dem 2022 Trafficking in Persons Report des US-Außenministeriums sind Migranten aus Osteuropa, Afrika und Asien dauerhaft Ziel von Sexhandel und Zwangsarbeit, und ethnische Roma sind besonders anfällig für Sexhandel und andere Formen der Sexarbeit. In Deutschland haben die Strafverfolgungen und Verurteilungen mutmaßlicher Menschenhändler in den letzten Jahren zugenommen. (Quelle s. o.)
Wenn man sagt, deswegen hat Deutschland eine Abwertung verdient, dann dürfte man eigentlich nur 2/4 vergeben – höchstens. Denn die immer weiter ansteigende wirtschaftliche Ungleichheit überschattet die allgemeine Chancengleichheit immer stärker und sorgt für Zustände, die wir für nicht mehr verfassungsgemäß halten, weil sie immer weitere Privilegien für Reiche aufaddieren und damit die Gesellschaft immer undurchlässiger machen.
Es gibt weitere Bereiche, in denen wir keine 4/4 vergeben würden. Im Grunde gibt es fast in jedem der überwiegend gewährleisteten vollen Punktzahlen Fragen, die eine Diskussion über die Berechtigung dieser insgesamt sehr günstigen Bewertung auslösen könnten. So erklärt sich aber auch das perfekte Bild einiger Staaten: Man ist offenbar froh, dass es gute Vorbilder gibt und es ist auch eine From von Realismus, dass man nicht die absolute Perfektion verlangt.
Im zweiten Teil dieses Artikels, der morgen erscheinen wird, nehmen wir uns gleichwohl die Fragen vor, die zu einer perfekten 4/4-Bewertung Deutschlands führen und werden prüfen, ob insbesondere unter der Berücksichtigung wirtschaftlicher Chancengleichheit die Freiheit in diesen Bereichen tatsächlich dem Optimalzustand nahekommt. Um darauf hinzudeuten, dass es einen Grund hat, dass gleich mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen Kampf gegen Windmühlenflügel zu führen scheinen, wenn es um die Freiheit geht, die durch Transparenz und Chancengleichheit erst gewährleistet wird, schicken wir dieses Briefing auch mit dem „Demokratie in Gefahr“-Logo ins Netz.
TH