Der scharfe Umsatzrückgang im Einzelhandel, die Lebensmittelinflation, das nie ausreichende Budget, der EDEKA-Kampf und Politik zum Abgewöhnen und neu denken | Briefing 185 | Wirtschaft, Gesellschaft, Politik

Briefing 185 | Wirtschaft, Gesellschaft, Verbraucher, PPP (Politik, Personen, Parteien)

Über die enorme Lebensmittelinflation von 22,3 Prozent im März 2023 haben wir bereits berichtet und dabei auch erwähnt, dass dies gerade im Bereich günstiger Waren noch nicht das Ende der Fahnenstange ist, weil gerade sie von diesem Auftrieb besonders betroffen sind.

Wie die Politik die Menschen in den Ruin treibt – Nahrungsmittelinflation bei 22 Prozent | Briefing 173 – DER WAHLBERLINER

 Das heißt, die Discounter- und Eigenmarken der Lebensmittelhändler ziehen noch deutlicher an, und das trifft vor allem Menschen, die nach Jahren der realen Kaufkraftverluste schon kaum noch finanziellen Spielraum verbuchen konnten, bevor die Inflation jetzt richtig zugeschlagen hat.

Im vergangenen September haben wir uns dem Thema schon einmal gewidmet, damals lag die Lebensmittelinflation bei 15 Prozent:

Lebensmittelinflation fast 15 Prozent +++ Wende in der Ukraine? +++ Heißer Herbst +++ Wo die Leoparden brüllen +++ Atomkraftstreckung +++ CDU-Parteitag, soziales Jahr +++ Royals und Normalmenschen | Briefing 29 – DER WAHLBERLINER

Nun folgen die Konsequenzen. Der Lebensmitteleinzelhandel und der Einzelhandel im Ganzen haben die größten realen Umsatzrückgänge seit 1994 zu verkraften. Das Jahr folgte auf die Rezession von 1993, die wir als „Wiedervereinigungskater“ bezeichnen möchten.

Die Hauptursache dafür sind die hohen Lebensmittelpreise, die um 22,3 Prozent gestiegen sind. Vor allem ärmere Familien sind davon betroffen und müssen bei der Qualität ihrer Nahrungsmittel sparen. Der Artikel zitiert den wissenschaftlichen Direktor des IMK, Sebastian Dullien, der diese Entwicklung für bedenklich hält und eine Erholung des privaten Konsums erst ab 2025 erwartet. Der Artikel nennt auch einige Faktoren, die die Kaufkraftverluste der Verbraucher mildern könnten, wie höhere Löhne und Inflationsausgleichprämien. Der Artikel schließt mit einem Ausblick auf die schwierige Lage des Einzelhandels, der einen realen Umsatzrückgang von 8,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat verzeichnet hat. Im Lebensmittelbereich waren es 10,3 Prozent.

Verbraucher sparen deutlich bei Lebensmitteln – Größtes Umsatzminus seit 1994 (msn.com)

Fünf verlorene Jahre für die Verbraucher, sagte Sebastian Dullien vom IMK. Da kommt es höchst ungünstig, dass Kanzler Scholz gerade gesagt hat, dass man nicht ewig den Preisauftrieb durch Subventionen wird dämpfen können. Nein, das wohl nicht, da stimmen wir sogar zu. Also muss endlich, wie in vielen anderen Ländern, der Preistreiberei selbst, mit der exorbitante Gewinne für Konzerne erwirtschaftet werden, eine Grenze gesetzt werden. Die Subventionen heizen die Inflation ja weiter an und wer an diesen Subventionen nicht teilnimmt, hat das Nachsehen. Aber das Wort Preisdeckel geht im neoliberal versifften Deutschland ja überhaupt nicht, wie man schon an der Diskussion um die Mieten gesehen hat.

Lieber lässt man die Leute auf der Straße sitzen. Oder hungern. Vielleicht lässt sich der Preisauftrieb im Moment noch durch den Kauf der günstigsten aller günstigen Produkte auffangen oder mit einem konsequenten Angebotsmanagement, für das man aber schon wieder fit und mobil und bei der Zuhilfenahme moderner Technik einigermaßen auf der Höhe sein muss. Schlechte Voraussetzungen gerade wieder für die Ärmsten, während Wohlhabende sich einen Spaß daraus machen können, diesen auch noch die Schnäppchen wegzujagen, weil sie häufig etwas schneller und mit größerer Reichweite agieren können. Wenn also für die Armen, und das werden ja immer mehr, die Spielräume ausgereizt sind  und an den Tafeln, die ja keine Staatsersatzleistungen sein sollen, auch kein Platz mehr ist, was dann?

Dann wird es Umsatzrückgänge geben, die tatsächlich darauf zurückzuführen sind, dass Menschen hungern. Wir haben darüber schon 2021 geschrieben, im Rahmen der auffälligen Veränderungen im Kaufkraftgefüge während Corona. Was jetzt läuft, übertrifft die damaligen Verwerfungen aber bei weitem.

Wir nehmen auch gerne mal uns selbst als Beispiel, natürlich ohne konkrete Summen, weil wir uns dann doch nicht komplett in die Karten schauen lassen wollen.

Seit dem Jahr 2020 haben wir unser monatliches Einkaufsbudget für den Grundbedarf um exakt 40 Prozent erhöht. Im Jahr 2023 wollten wir den Budgetzuwachs auf 5 Prozent begrenzen, aber Ende 2022 war längst klar, dass das wieder nichts wird, also haben wir noch einmal 10,5 Prozent zugegeben. Eigentlich sind es seit 2023 mehr als 40 Prozent Plus, weil ab 2022 variable, „leistungsbezogene“ Budgetanteile hinzugekommen sind, die aufaddiert werden und bisher vor allem mit sportlicher Tätigkeit einhergehen. Wenn die daraus erwachsenden Anteile aus Wetter- oder Gesundheitsgründen etwas schmal ausfallen, sind es aber immer noch ca. 45 Prozent mehr, die wir monatlich für den Grundbedarf ausgeben, als das 2020 der Fall war, in guten Monaten jedoch über 50 Prozent mehr.

Und wissen Sie was? Es tritt nicht etwa Entspannung an der Ausgabenfront ein, sondern wir müssen immer härter kalkulieren.

Das kommt auch daher, dass die Inflation künstlich kleingerechnet wird. Nicht jedes Jahr kauft man einen neuen Fernseher, nur, weil die Fernseher immer günstiger werden, insbesondere aufgrund der nach  unserer Ansicht falschen Verrechnung des technischen Fortschritts mit den Preisen für real beziehbare Modelle. Wir haben schon seit Längerem beim Grundbedarf eine viel höhere Inflation als die zuweilen kaum der Rede werte Gesamtteuerung während der 2010er, aber hellhörig wurde die Öffentlichkeit erst, als sie zweistellige Werte erreichte.

Der Internet-Handel bricht ja nun auch ein, obwohl er von dem generellen Trend zum online bestellen profitiert. Dieser Zuwachs  war auch bei uns vor allem seit dem ersten Corona-Jahr 2020 zu verzeichnenl und läuft außerhalb des oben erwähnten Budgets, weil er in der Regel nicht den Grundbedarf betrifft.

Genau da haben wir jetzt auf die Bremse getreten, weil es nicht mehr anders geht. Wir werden im Jahr 2023 vermutlich um ca. 50 Prozent weniger für Versandartikel ausgeben als 2022, um nicht bei den nächsten Strom- und Gasrechnungen baden zu gehen, obwohl wir uns einkommenseitig immer ein wenig voran bewegt haben, in den letzten Jahren. Reicht aber alles nicht.

Unser ver… Stromprovider knöpft uns seit April 85 Prozent mehr ab als letztes Jahr und wir kommen gegenwärtig nicht aus dem Vertrag raus. Der Zeitpunkt der Preiserhöhung war sehr schlau angesetzt, weil damals alle ihre Geschäft mit der Lage gemacht haben, während Neukunden mittlerweile wieder deutlich günstiger abschließen können. Ohne die Strompreisbremse hätten wir sogar eine Teuerung von 110 Prozent, auf dem Energiesektor. Wir profitieren also in geringem Umfang von einer Subvention, fahren dabei megaschlecht, anstatt, dass endlich der Deckel auf die Preise getan wird. Und das nach Jahren einer zwar nicht kompletten, aber doch spürbaren Optimierungsstrategie.

So entstehen Umsatzverluste für den Handel. So entsteht Politikverdruss, wenn nicht Politikverachtung, bei den Verbraucher:innen. Denn diese Preisspirale, die sich bei hohen Lohnabschlüssen fortsetzen könnte, hat die Politik ganz alleine verschuldet. Sie ist nicht marktbedingt, sondern beruht auf der Spekulation der Konzerne, den Ukrainekrieg weidlich ausnutzen zu können. Was sie tun, so sehr es geht. Diesen Typen, die uns versorgen sollen, sind wir in Wirklichkeit ziemlich egal. Was geht, wird durchgezogen.

Symbolisch steht dafür im Moment der Preiskampf von EDEKA, die mit nicht weniger als 17 Produzenten im Clinch liegen. Vielleicht lässt das genossenschaftliche Modell es nicht zu, dass die Preise so gestaltet werden wie bei den Konzernfilialisten, aber bisher waren bestimmte Produkte überall zum gleichen Preis zu haben. Die Absprachen waren deutlich zu bemerken. Jetzt kämpft EDEKA also für alle, wenn sie sich gegen die Hersteller stemmen. Wir wollen das nicht idealisieren, aber dass dieser Kampf von einer Einkaufsgenossenschaft gewagt wird, nicht von einem Konzern, dass man dafür riskiert, noch mehr Umsatz wegen der Auslistung beliebter Produkte zu verlieren als die Konkurrenz, ist im Grunde typisch. Da gibt es einen gewissen Unterschied bei der Herangehensweise an das gesamte Thema Lebensmittelversorgung. Deswegen bleiben wir auch solidarisch und kaufen trotz des Fehlens einiger Produkte überwiegend bei EDEKA, wenn es um Lebensmittel geht. Wir finden, EDEKA sollte viel mehr mit diesem Kampf an die Öffentlichkeit gehen. Aber das wird vermutlich deshalb nicht in der möglichen Lautstärke getan, weil man sich ja doch irgendwann wieder einigen will. Es ist eben doch wieder anders als Mieter vs. Vermieter.

All das aber geht an unsere Existenz. Die Ökonomen haben wieder einmal Fehlprognosen abgegeben, laufen aber erneutin die Falle, weil sie den Substanzverlust der letzten Jahre unterschätzen. Wir glauben nicht, dass sich der Handel so schnell erholen wird, denn wo nicht genug Reserve ist, um Preisaufschläge abzufangen, da ist eben nicht genug Reserve, zumal man Lebensmittel nicht auf Raten kaufen kann. In der Regel jedenfalls. Und die Lohnerhöhungen decken im Moment nicht die Inflation ab. Im Jahr 2022 gab es mit 4,1 Prozent den höchsten Reallohnverlust seit dem Bestehen der Bundesrepublik. Wenn vor allem die Kerninflation sich nicht dämpfen lässt, die derzeit bei über 5 Prozent liegt, was in diesem Bereich sehr viel ist, werden die Lohnzuwächse, die gerade vereinbart worden sind, bald wieder aufgezehrt sein, im wörtlichen und übertragenen Sinne.

Dass ein gewerkschaftsnahes Institut wie das IMK heraushebt, was die Gewerkschaften gerade für ihre Mitglieder und alle tarifgebundenen Arbeitnehmer:innen erreicht haben, verstehen wir. Aber die Lebensmittelinflation ist und bleibt derzeit 3-mal höher als der höchste Lohnabschluss und mehr als doppelt so hoch wie die Erhöhung, die mit der Umstellung von Hartz IV auf Bürgergeld kam. In dem Bereich wurde außerdem jahrelang zuvor alles künstlich kleingerechnet, sodass diese Erhöhung ebenfalls  schon lange nicht mehr die Inflation abdeckt. An der Grenze des Existenzminimums ist eine solche Entwicklung besonders bedenklich.

Jetzt rächt sich, dass seit Jahren am unteren Ende gespart wird, während woanders das Geld wirklich sehr locker sitzt, zum Beispiel jetzt wieder bei den Militärausgaben. Krieg und Spiele wären ja möglich, wie der Umgang anderer Staaten mit der Krise belegt, aber in Deutschland heißt es Krieg statt Brot. Das ist nicht einmal eine Pointierung, denn Brot zählt zu den Lebensmitteln, bei denen die Teuerung am schärfsten zu spüren ist. Wir würden ja mehr Kuchen anstatt Brot essen, aber der Kuchen geht leider denselben Inflationsweg wie das Brot.

Auf dem Gebiet für Dämpfung sorgen, geht für die Politik gar nicht. Weil dies eben ein neoliberal vergurktes Land ist, in dem von Jahr zu Jahr Menschen weniger zählen und Profite für wenige das Mantra ist der herrschenden Kaste sind, der die Politik willig folgt.

Endlich erreicht die Botschaft aber auch die Wähler:innen der Grünen, denen es bisher offenbar komplett egal war, was Politikerfiguren wie Robert Habeck mit den weniger betuchten Menschen in Deutschland anstellen. Endlich gehen die Umfragewerte auch für diese Partei in den Keller. Klima können sie ja auch nicht, nebenbei bemerkt. Aber auch Kanzler Scholz muss aufpassen. Noch ein paar scholzige Äußerungen zu den Subventionen, die man nicht als missverständlich abtun darf, und die Ampelkoalition wird schon nach der laufenden Legislaturperiode Geschichte sein. Dann kriegen wir wieder eine CDU-geführte Regierung. Im Grunde ist das genau der Moment für erhebliches Selbstmitleid. Wir haben keine echte Alternative. Es sei denn, wir schauen nach links und engagieren uns für eine Politik, die neue Kräfteverhältnisse in ebenjener Politik entstehen lassen. Jedem, dem die eigene Zukunft und die seiner Nachkommen wichtig ist, empfehlen wir, genau das zu tun. Nicht dasitzen und denken: Ohgottogottogott, was soll das noch werden.

Okay, das lässt sich manchmal nicht vermeiden. Despressive Phasen sind derzeit absolut berechtigt, auch ohne diesbezügliche persönliche Disposition. Aber alle, die Kapazitäten, die Ressourcen dafür haben, raus und schauen, wo man sich einbringen kann. Die Politik wird es nicht für uns richten. Das hat sie noch nie getan, wenn es wirklich darauf ankam. Wir müssen die Politik geradebiegen, soweit das den verkrümmten Persönlichkeiten, die darin unterwegs sind, möglich ist. Oder sie austauschen. Passen Sie bitte mehr auf, wen Sie wählen! Wir wissen, es ist schwierig, denn von den aktuell im Bundestag vertretenen Parteien ist keine in der Lage, ein wirkliches Rezept anzubieten. Deswegen geht es ja auch darum, Politik neu zu denken. Mit zivilgesellschaftlichem Widerstand, nicht nur für den Klimaschutz. Und mit dem Bündeln von Kräften anstatt ideologischem Klein-Klein links von der SPD.

TH

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