Flucht von Alcatraz (Escape from Alcatraz, USA 1979) #Filmfest 944

Filmfest 944 Cinema

Flucht von Alcatraz (Originaltitel: Escape from Alcatraz) ist eine Literaturverfilmung des Romans Escape from Alcatraz von J. Campbell BruceDon Siegel verfilmte den 1963 erschienenen Roman im Jahr 1979 mit Clint Eastwood in der Hauptrolle. Es war zudem auch die erste große Rolle für Fred Ward, der u. a. wegen seiner athletischen Fähigkeiten gecastet wurde.

Die Betrachtung der Siegel-Eastwood-Kooperation schreitet voran – nun also ein Gefängnisfilm, außerdem haben wir ihn direkt nach dem berühmten „Birdman of Alcatraz“ angeschaut, dies soll aber keine Vergleichsrezension sein. Mehr zum 17 Jahre später entstandenen Film also in der –> Rezension.

Handlung (1)

Der wegen Raubes verurteilte Häftling Frank Morris ist schon mehrmals aus dem Gefängnis ausgebrochen. Deshalb wird er auf die Gefängnisinsel Alcatraz, ein Hochsicherheits-Bundesgefängnis der USA, verlegt. Dort ist noch nie einem Gefangenen die Flucht gelungen. Diejenigen, die versucht haben, aus der Gefängnisanlage zu entkommen, wurden entweder von den Aufsehern erschossen oder sind im kalten Meerwasser ertrunken. Auf Alcatraz geht es rau und unmenschlich zu. Der Direktor ist eiskalt und gefühllos. Gefangene, die sich nicht an die strengen Regeln halten, werden über Tage oder sogar Wochen in Dunkelhaft gehalten. Einem Gefangenen wird das Malen verboten, nachdem er ein despektierliches Porträt des Gefängnisdirektors gemalt hat. Daraufhin hackt er sich in der Tischlerei vor den Augen der Aufseher und anderer Gefangener, darunter auch Morris, die Finger ab.

Die Zustände motivieren Morris erst recht dazu, auch auf Alcatraz einen Fluchtversuch zu unternehmen. Die beiden Brüder Clarence und John Anglin und Morris’ Zellennachbar Charles Marsh wollen ebenfalls fliehen. Die vier werden von anderen Gefangenen unterstützt, die selbst nicht fliehen wollen. Mit primitiven Werkzeugen, die sie sich aus Essbesteck bauen, vergrößern sie in ihren Zellen in mühevoller Arbeit die Lüftungsöffnungen, bis sie die Gitter entfernen und über das Lüftungssystem auf das Dach gelangen können. Bis zur Nacht, in der sie fliehen, müssen sie die Spuren der Arbeit beseitigen und die Öffnungen tarnen. Marsh verpasst den Zeitpunkt in der Nacht und bleibt zurück. Vom Dach aus kommen die anderen drei unbemerkt aus der scharf bewachten und eingezäunten Anlage heraus. Mit einem Schlauchboot, das sie aus Regenmänteln selbst gebaut haben, verlassen sie dann die Insel.

In ihren Zellen lassen sie in den Betten selbstgebaute Attrappen zurück, so dass die Flucht erst am nächsten Morgen, ca. neun Stunden später, bemerkt wird. Bei einer Suchaktion werden sie im Wasser weder tot noch lebendig aufgefunden. Es bleibt ungeklärt, ob sie ertrunken sind oder es tatsächlich geschafft haben.

Rezension

Zufällig war das wegen beinahe zeitgleicher Aufzeichnung des Frankenheimer-Lancaster-Films von 1962 und des Siegel-Eastwood-Werks von 1979 möglich. Während der erste Film aber gedreht wurde, während Alcatraz noch eine aktive JVA war – und dabei auch einen Ausbruchsversuch zeigt, an dem die Hauptfigur des Films nicht beteiligt ist – verhält sich Siegels Film retrospektiv. Im Jahr 1963 ordnete John F. Kennedy an, Alcatraz sei  zu schließen. Allerdings nicht wegen des einzigen möglicherweise geglückten Fluchtversuchs, den wir im Film sehen, sondern weil seine Substanz tatsächlich, und das ist durchaus Thema in „Flucht von Alcatraz“ so marode war, dass der Knast auf der Insel vor San Francisco schlicht unwirtschaftlich geworden war. Eine sozialpolitisches Statement des Präsidenten ist in dieser Abwicklung wohl nicht zu sehen.

Hingegen hat der Film wohl eine eindeutige politische Aussage – und läuft damit gegen die Siegel-Eastwood-Hauptlinie?

Besonders nach „Dirty Harry“ (1971) war die Aufregung groß, weil der Film einen Polizisten in den Mittelpunkt rückt, der Selbstjustiz begeht. Mir fehlt der Film noch im Portfolio, deswegen kann ich nicht sagen, ob er faschistisch ist, weise aber darauf hin, dass das in unterschiedlicher Ausprägung für weite Teile des amerikanischen Helden- und Rächerkinos gilt. Und dass Eastwood, nicht nur für Siegel, konservative Einzelgänger zuhauf gespielt hat und beinahe bis heute spielt (kürzlich haben wir über „Gran Torino“ (2007) geschrieben, Anmerkung 2023: aufgrund des Ablaufs der Filmfest-Chronologie ist die Rezension noch nicht veröffentlicht), ist unstreitig.

Aber weit mehr als „Birdman“ könnte „Flucht von Alcatraz“ Ausdruck von Siegels eigener Einstellung sein, die er als seinen Eastwood-Figuren entgegengesetzt beschrieb, wenngleich er auch sagte, er mache keine politischen Filme, sondern will unterhalten. In der Wikipedia kann ich zu Siegel unter anderem nachlesen, dass er sich in seinen Filmen häufig über das amerikanische Exekutivsystem lustig macht, über die Rehabilitation undsoweiter. Das tut er in „Flucht von Alcatraz“ jedenfalls nicht, denn der Gefängnisdirektor wirkt sehr rechts, hat keinen Zugang zu seinen Gefangenen und erst recht wird der Strafzweck der Rehabilitation gar nicht erst erwähnt, der in „Birdman“ durchaus eine Rolle spielt. Aufseher und Direktor, das gesamte Justizpersonal wird eindeutig als in Gegnerschaft zu den Gefangenen dargestellt, die wiederum recht sympathisch wirken.

Deswegen enthebt man den Zuschauer auch des Konflikts, Morris (Eastwood) etwa als Mörder zu zeigen, sondern lässt ihn wegen Raubüberfällen hinter Gittern schmoren. Dadurch wird sein Ausbruchsbestreben akzeptabler, seinen Mitflüchtlingen weist man gar nicht erst einen spezifischen Hintergrund bezüglich ihrer begangenen Delikte zu. Der Zuschauer, sofern ihn das Geschehen interessiert, kann gar nicht anders, als sich pro Morris und seiner Fluchtgemeinschaft zu stellen. Spätestens, als er ungerechtfertigterweise in Dunkelhaft gesteckt wird, obwohl ein als gewalttätig bekannter Mitgefangener eindeutig ihn angegriffen und er sich nur gewehrt hat, beginnt die Identifikation, und da ist es ja noch ziemlich früh.

„Flucht von Alcatraz“ ist außerdem weit mehr ein typischer Gefängnisfilm als „Birdman“, weil er viel mehr vom Szenario zeigt, Relationen und Individualitäten offenbart. Auch die Behandlung des Rassismus kommt nicht zu kurz, wie sich an der Interaktion zwischen Morris und dem Bibliothekar unter den Sträflingen, dem Afroamerikaner English, zeigt. Der soziale Kommentar ist sehr deutlich: English wurde verurteilt, weil er Farbiger ist, sagt er, Morris ist anfänglich reserviert und skeptisch, am Ende verstehen die beiden einander gut, English weiß auch von Morris‘ Fluchtplan, verrät ihn aber nicht. English ist klar gegen Rassenklischees aufgestellt, ist einer der intelligentesten und am höhsten stehnden Gefangenen und somit schon ein Beispiel für PoC heutiger Prägung.

Der Film hatte, gerade dieses Verhältnis betreffend, erkennbar Einfluss auf das hoch bewertete Gefangenendrama „The Shawshank Redemption“, das fünfzehn Jahre später gedreht wurde.

Wird die Flucht überzeugend dargestellt?

Offenbar gab es sie wirklich, also müssen die Gefangenen sich etwa so verhalten haben, wie der Film es zeigt, die Ausführung betreffend. Ich habe mich mehrfach darüber gewundert, wie viele begünstigende Zufälle zusammenkamen, dass die Vorbereitung nicht aufgedeckt wurde. Allein die Tatsache, dass in den nachts vollkommen stillen Gefängnisblock-Gängen geschabt, gekratzt, am Schluss sogar gestemmt und elektrisch gebohrt wird, ohne dass es je auffällt, dass Häftlinge nicht sehr echt wirkende Pappmaché-Abbilder ihrer selbst verwenden können, um sich schlafend zu stellen, dass es zu einem Kurzschluss mit zwischenzeitlichem Stromausfall kommt, dass die drei Sträflinge über das Dach des Zellenblocks fliehen und dabei eindeutig ein den Kreis eines Suchscheinwerfers geraten, dass sie einen oben mit Stacheldraht bewehrten Zaun so leicht überwinden können – und bei all dem nie jemand etwas bemerkt, wirkt tatsächlich, als wolle Don Siegel das US-Justizvollzugssystem für unzurechnungsfähig erklären.

Ich stelle mir ein Hochsicherheitsgefängnis und das dort stationierte Personal nicht ganz so unterbelichtet vor. Aus dem Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim beispielsweise ist meines Wissens nie jemand entflohen. Dass im heutigen Strafvollzug mit seinen ganz anderen Möglichkeiten und der Tendenz, die Zügel bewusst nicht zu eng zu ziehen und vielfach auf freiwillige Rückkehr von Häftlingen zu setzen, immer wieder Entweichungen zu registrieren sind, ist eine unvermeidliche Begleiterscheinung modernerer Auffassungen vom Strafvollzug.

Sicher ist die marode Bausubstanz von Alcatraz ein wichtiger Aspekt, aber sie erklärt nicht, warum sämtliche Sicherungssysteme versagt haben. Da die Beteiligten an dem wirklichen Ausbruch nie wieder aufgetaucht sind, ist nicht bekannt, ob deren Flucht geglückt ist und sie die Zeit im kalten Meerwasser gut überstanden haben, aber der Fluchtweg dürfte anhand der Spuren im Zellenbau gut recherchiert sein.

Finale

Im zweiten Anlauf und dabei in zwei Teilen habe ich ihn gemeistert, allerdings auch immer sehr spät in der Nacht mit dem Schauen angefangen. Wenn er mich komplett gefesselt hätte, wäre ich aber schon beim ersten Mal drangeblieben. Das ist und wird hoffentlich immer so bleiben, dass Filme, die mich richtig hineinziehen, jede Müdigkeit in den Hintergrund rücken können.

Sicher ist Eastwoods Präsenz immer ein Plus, aber seine Figuren sind nicht immer leicht zu verdauen, da kommt Morris noch vergleichsweise zugänglich rüber, auch, weil er sich mit anderen zusammentut, um ohne Verrat ein Gemeinschafts-Fluchtwerk zu begehen. Schon das ist ja eher untypisch für sein Rollenprofil, seit er durch drei Italowestern (der Dollar-Trilogie) bekannt wurde, und da hat er schon den eigensinnigen Kopfgeldjäger gespielt, ebenso wie in „Coogan’s großer Bluff“ oder „Dirty Harry“ den einzelgängerischen Polizisten.

Doch die Handlung verlief mir ein wenig zu linear, alles ging mir etwas zu glatt. Dafür hat der Film einen wirklich gruseligen Moment, als „Doc“ sich die Finger abhackt, nachdem er nicht mehr malen darf, weil der Chef der Haftanstalt sich von ihm falsch porträtiert gefühlt hatte – auch ein sozialer Kommentar, übrigens.

66/100

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2016)

Regie Don Siegel
Drehbuch Richard Tuggle
Produktion Don Siegel
Musik Jerry Fielding
Kamera Bruce Surtees
Schnitt Ferris Webster
Besetzung

 

 

 


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