Der Ort, von dem die Wolken kommen – Polizeiruf 110 Fall 379 / #Crimetime 447 // #Polizeiruf110 #Polizeiruf #München #BR #Eyckhoff

Crimetime 447 - Titelfoto © BR / Roxy Film GmbH, Marco Nagel 

Synchronisierte Hpynose als neuer Ermittlungsansatz

Es ist vollbracht. Der erste Krimi mit Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff als Nachfolgerin von Matthias Brandt am Polizeiruf-Standort München ist über die Bildschirme – geflimmert kann man ja heute nicht mehr sagen. Wir schrieben in der Vorschau von großen Fußstapfen, hinterfragten dieses Bild aber auch. Und im Wege der Überlegungen dazu, wie wir diese Rezension gestalten, fragten wir uns, ob wir nun das Kaspar-Hauser-Syndrom durchdeklinieren müssen und nachsehen, ob man Hypnose wirklich so gestalten kann, dass man mehrere Menschen hineinversetzt und sie dann „synchronisiert“. Ob wir so herangegangen sind und Weiteres zum Film steht in der -> Rezension.

Handlung

Ein verwahrloster Junge gibt Polizeioberkommissarin Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff und ihren Kollegen Cem und Maurer Rätsel auf. Woher er kommt, weiß man nicht. Diverse Wunden und Hornhaut am Gesäß deuten auf Misshandlung und ein Kerker-Dasein hin. Da der Junge, der sich Polou nennt, kaum spricht, müssen Bessie und ihre Kollegen unkonventionelle Methoden anwenden, um Licht ins Dunkel zu bringen und Polous Peiniger zu überführen.

Polou wird hypnotisiert. Schnell glaubt man zu wissen, dass weitere Kinder in großer Gefahr sind. Die Ermittlungen nehmen eine dramatische Wendung, als im Laufe der Recherchen eine geheimnisvolle Frau im Krankenhaus erscheint, die versucht, Polou zu töten.  

Der erste Fall für Verena Altenberger als Elisabeth Eyckhoff im „Polizeiruf 110“ aus München:

Die Münchner Polizeioberkommissarin Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff und ihre Kollegen Cem (Cem Lukas Yeginer) und Maurer (Andreas Bittl) ermitteln im Fall des verwahrlosten, verwundeten Jungen Polou (Dennis Doms): Als dieser in Lebensgefahr gerät, gibt Bessie alles, um seine Herkunft ausfindig zu machen.

Rezension

Bekanntlich sind die deutschen Krankenkassen eher eingrenzend bezüglich der Anerkennung von Psychotherapieformen und stehen Neuerungen und „Crossovers“ skeptisch gegenüber, was häufig dazu führt, dass Therapien etwas an der realen Ausformung vorbei gelabelt werden müssen, um von Krankenkassen erstattet zu werden. Hypnose ist in Deutschland als therapeutische oder therapieunterstützende Methode anerkannt und eine Krankenkassenleistung.

Das heißt, wir dürfen davon ausgehen, dass ihr medizinischer Wert überwiegend anerkannt wird. Aber kann man wirklich zwei Menschen, die man synchron hypnotisiert, in eine gemeinsame Vorstellungswelt führen? In der gezeigten Form vermutlich nicht. Wir fanden die Idee aber faszinierend und haben uns ausgemalt, wie es wäre, größere Gruppen auf diese Weise interagieren zu lassen. Spooky, keine Frage. Aber so ist der auch der Polizeiruf 379. Und in der Polizeiarbeit wird Hypnose tatsächlich hin und wieder eingesetzt. Anstelle der gar nicht immer so sicheren Lügendetektoren? Vermutlich nur mit Zustimmung der zu hypnotisierenden Person.

Dass Bessie und Halbbruder Cem gar nicht in der Schweiz sind, war visuell nicht sofort zu erkennen. Die veränderte Frisur von Elisabeth haben wir so interpretiert, dass ihre gewisse Ähnlichkeit mit Lara Croft in der Verkörperung von Angelina Jolie nicht unerwähnt bleiben sollte und, in Verbindung damit, dass jetzt geballte Action folgen müsste. Es war genau umgekehrt: Ganz ohne Widerstand lässt sich die taffe Polizistin, die zuvor noch einen Schusswechsel mitten im Krankenhaus durchgestanden hatte, von dem Mann mit der gelben Krawatte die Dienstwaffe entwenden. Da hätten wir’s unbedingt merken müssen. Immerhin sahen wir nur noch Fragezeichen, abgesehen von der gelben Krawatte. Dass die Villa der Grausamkeiten in Echt genauso aussehen sollte, wie während der ersten Hypnotisierung, fiel uns ebenfalls auf, aber wir hatten daraus noch nicht den entsprechenden Rückschluss gezogen.

Man kann auch so herangehen: Wo es allzu surreal wird, ist meist ein anderer Bewusstseinszustand als das Normalwach gegeben. Wirklich? Selbst in Tatorten ist das mittlerweile nicht mehr sicher (Frankfurt, „Fürchte dich“).

Warum sollte es in Polizeirufen anders sein? Diese haben genetisch einen Vorteil: Das Publikum erwartet nicht, dass alles mit einer Leiche und einer Tatortbegehung durch die Ermittler*innen beginnt. Diese Freiheit nutzt man in „Der Ort, von dem die Wolken kommen“, indem man erst in der Mitte zum Verbrechen übergeht und es dadurch am Ende sehr spannungssteigernd einsetzen kann. Bei den DDR-Vorbildern, die so gestrickt waren, verstellte die oft kurze Spielzeit in Relation zu recht vielen Handlungselementen oft die Ausnutzung dieses dramaturgischen Potenzials, aber der Polizeiruf 379 ist in dieser Hinsicht ziemlich konsequent. Eine Spannungskurve im engeren Sinn gibt es sowieso sehr selten, meist handelt es sich um eine aufwärts gerichtete Wellenbewegung – und diese war in „Der Ort, von dem die Wolken kommen“ deutlich spürbar.

Wie kann man einen Jungen wie Polou spielen? Zunächst: Wie kam man auf diesen Namen? Von „Pollution“, was sowohl im Französischen wie im Englischen „Verschmutzung“ bedeutet? Angesichts der äußeren Verwahrlosung des Jungen eine naheliegende Interpretation.

Aber da ist doch ein so schöner Kern, und Darsteller Dennis Dohm schafft es, diesen für uns freizulegen. Wie kann man aber einen Menschen mit Kaspar-Hauser-Syndrom spielen? indem man selbst betroffen ist? Sicher nicht, das wäre weder möglich noch ethisch vertretbar. Also muss man sich hineinarbeiten und das hat ein Schüler von 16 Jahren getan, der bisher einmal pro Woche Schauspielunterricht in der Schule hatte, weil er bei der Theater-AG mitmacht. Schade, dass es sowas bei uns nicht gab, wer weiß, ob wir dann heute hier säßen und Rezensionen verfassen würden. Scherz, muss auch sein.

So humorlos ist der Film auch gar nicht, trotz der ernsthaften Darstellung schwerer Misshandlung und der bewussten Zerstörung von Kindern. In vielen Szenen wird genau an der Grenze zwischen geht bei diesem Thema noch und zu peinlich operiert. Aber sie wird nach unserer Ansicht kaum überschritten.

Allein das Familienszenario von Polou ist ein Wahnsinn. Nun ja, der Vater, ein Waffenhändler und so – da ist alles möglich. Stilisierte Figuren wie die Frau im Pelz, der Wolf, die böse Hexe vom Jugendamt, treffen zusammen mit diesem sehr prägnant gezeichneten Jungen und mit einer Polizistin, die ein grandioses Einfühlungsvermögen beweist und schon deswegen als differenzierter Charakter herausgestellt werden muss. Inklusive eigenem Päckchen, wie wir während ihrer zweiten, der Schweiz-Hypnose, erfahren. Wir empfanden die Annäherung an den Jungen als etwas zu rasch, aber was hätte man machen sollen? Nur dafür 90 Minuten Zeit einsetzen und den Film als Zweiteiler anlegen? Also abgehakt, zumal diese Annäherung anhand nachvollziehbarer, klug gewählter Schritte erfolgt, bei denen Worte, Körperhaltungen, Abstoßung, Anziehung, hell, dunkel, Farben, sogar Streit und Versöhnung eine Rolle spielen. Die interessanten Details lassen sich hier nicht aufzählen.

Dazu wiederum bedurfte es einer Darstellerin, die Polou wirklich, wenn auch mit Hilfe einer Therapeutin, entschlüsseln kann. Das auf der sozialen Ebene Zugewandte und Wortgewandte können österreichische Darsteller*innen sowieso gut, aber diese Figur muss auch Tiefe haben und wir meinen, diese Tiefe hat sie. Annäherung in Form von Gewohnheiten-Adaption darzustellen, ist zwar nicht neu (mal einen Schluck aus dem Flachmann des Kollegen nehmen, eine mitrauchen, machdem man das anfangs noch deutlich abgelehnt hat), aber es gibt eben doch Unterschiede bezüglich der vermuteten Authentizität. Die Abkehr vom „perfekten Format“, wie Darstellerin Verena Altenberger die Filme ihres Vorgängers Matthias Brandt selbst nennt, war notwendig, um etwas Neues zu beginnen.

Die Art zu filmen ist jedoch immer noch sehr kenntlich, ist persönlich, der Plot hat uns durchaus an den Von-Meuffels-Polizeiruf „Nachtdienst“ erinnert. Allerdings hat man, damit „Der Ort, von dem die Wolken kommen“ noch klaustophobischer wirkt und das Verwahrloste, das Innen im Außen spiegelt, den Film in einen „wegen baldiger Renovierung geschlossenen“ Teil einer Münchener Klinik verlegt, der ziemlich heruntergewirtschaftet wirkt und in den eigens und als Patient ausschließlich Polou verlegt wird und in den nur seine Helfer*innen und die Polizei dürfen. Das sparte nicht nur Statisten, sondern setzt auch die Situation im Zimmer mit dem Fensterloch fort – dieser kleine, nicht abgedeckte Teil ist der Ort, von dem die Wolken kommen. Von dem die Hoffnung kommt, die Polou am Leben hält.

Finale

Wir sind bei den Polizeirufen, in denen Hanns von Meuffels ermittelte, bisher bis zu 9/10 gekommen, einige kennen wir noch nicht. Bei Einständen geht es nie ganz gerecht zu. Wir heben einerseits Teams, die noch nicht recht in der Spur sind, aber denen wir Potenzial zurechnen, etwas an und stören uns nicht so an typischen Anfangsschwächen, andererseits lassen wir bei guten Erstlingen noch etwas Luft nach oben, weil man nie weiß, was kommt.

„Der Ort, von dem die Wolken kommen“ wird nach Punkten der beste Teamstart sein, den wir bisher rezensieren durften, die Tatort-Teamwechsel seit 2011 eingeschlossen. Wir sehen ein sympathisches und gleichermaßen einer Entwicklungsdynamik sehr zugängliches Ensemble mit einer der besten Ermittlerinnen-Figuren in den beiden Sonntagabend-Krimireihen, eine versierte Machart des Falls, die das bisschen an Erfahrung ersetzt, das noch fehlt, im Detail auch ein paar Schwächen bei den überwiegend guten Dialogen und Figuren – vor allem aber den gelungenen Versuch, Kaspar Hauser aus dem Dunkel ins Licht zu führen.

Damit bleiben die Münchener Polizeirufe auch mit der neuen Ermittlern Elisabeth „Bessie“ (nicht „Sissi“ oder „Sisi“) Eyckhoff, die immerhin ein Streifenhörnchen im Höheren Dienst darstellt, qualitativ weiterhin vorne. Die Kopfnuss hat übrigens richtig wehgetan.

8,5/10

Vorschau: Die Neue und die großen Fußstapfen

Nach Edgar Selge und Matthias Brandt einen der ARD-Premiumkrimis tragen zu müssen, ist eine schwierige Aufgabe. Schön, dass Verena Altenberger sich dieser Aufgabe stellt und als Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff neue Akzente setzen wird. In einem Zeitalter, in dem wir über Reduktion reden müssen, ist das vielzitierte Hineintreten in große Fußstapfen ein Bild geworden, das zu hinterfragen ist. Vielleicht muss man sie nicht ausfüllen und möglicherweise sind kleinere Füße sehr attraktiv und werden in den größeren Abdrücken gut sichtbar. Außerdem gibt es, strikt betrachtet, ein weiteres Problem mit diesem Bild: Mit dem Wandern in oder auf den Spuren von Vorgängern entsteht kein neuer Weg.

„Der Ort, von dem die Wolken kommen“ ist im Vorfeld von der Kritik schon recht ordentlich gelobt worden, aber München hat als Polizeiruf-Stadt auch einen Ruf zu verteidigen, dessen Bedeutung wir erst in diesem Jahr kennenlernten. Neun Jahre nach der Aufnahme der Arbeit an der „TatortAnthologie“ hatten wir uns im März entschlossen, auch die Parallelreihe „Polizeiruf 110“ zu rezensieren. Inklusive der Filme aus der DDR-Zeit.

Dabei sind wir darauf gestoßen, dass der Bayerische Rundfunk sich in den letzten Jahren damit hervorgetan hat, die im Durchschnitt besten Polizeirufe zu produzieren. Den NDR sehen wir mit den Rostock-Polizeirufen auf Rang 2. Der West-Ost-Ost-Sender RBB, der aber stark vom früheren SFB (Westberlin) geprägt ist, folgt auf dem Fuß – und der MDR hat die meisten Schwierigkeiten, seinen Polizeirufen ein Gepräge zu geben, das man, sagen wir, als erträglich ansehen kann. Allerdings gilt das erst seit dem Abgang der beliebten Kommissare Schmücke / Scheider.

Wir halten die Münchener Polizeirufe jüngeren Datums auch für besser als die aktuellen Tatorte vom selben Sender, die über Jahre hinaus ein hervorragendes Renommee genossen und, zusammen mit Frankfurt (Ära Dellwo / Sänger) das Bild moderner Sonntagabendkrimis maßgeblich mitbestimmten. Aber es gab eine Verschiebung, man widmet dem Polizeiruf in München offenbar sehr viel Aufmerksamkeit, besonders bei der Auswahl der Drehbücher und der Regisseure, während die Produzentin, welche die Tatort-Cops Batic und Leitmayr behutsam „aufgebaut“ und an die Spitze geführt hat, leider verstorben ist.

Das alles kann man im Hinterkopf haben und abrufen, wenn man sich am Sonntagabend vor den Fernseher setzt, muss man aber nicht. Man kann auch „werkimmanent“ kritisieren.

„Die Neue“ ist eine Streifenpolizistin (im Rang einer Oberkommissarin) und damit ein Einzelfall unter allen aktuellen Tatort- und Polizeiruf-Ermittler*innen, die „Leitenden“ sind normalerweise als Kriminalauptkommissar*innen in einem städtischen Morddezernat oder gar beim LKA angesiedelt sind, zwei von ihnen arbeiten für die Bundespolizei. Das neue Konzept könnte sein, dass die Polizistin dichter an den Episodencharakteren „dran“ ist als üblich. Allerdings wird das persönliche Eingebundensein häufig dadurch hergestellt, dass die Film-Ermittler*innen bei der Falllösung auf Menschen aus ihrem privaten Umfeld treffen. Viel häufiger als in der Realität denkbar.

Michael Proehl, Verfasser des Skripts zum außergewöhnlichen HR-Tatort „Im Schmerz geboren“ (Tatort-Folge 920) und Thomas Korte schrieben die Vorlage zum Einstand der neuen Kommissarin Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff für den Polizeiruf 110 des Bayerischen Rundfunks. Die Inszenierung übernahm Florian Schwarz, der ebenfalls am Tatort-Projekt „Im Schmerz geboren“ beteiligt war. Der Fernsehkrimi erhielt 2015 in der Kategorie „Fiktion“ den begehrten Grimme-Preis, heißt es bei Tatort Fans.

Zumindest für uns ist das eine Empfehlung. Wenn wir oben den Tatort Frankfurt in der Zeit Dellwo-Sänger erwähnten, heißt das nicht, dass der HR nach der schrittweisen „Normalisierung“ dieser Schiene kein preisverdächtiges Eisen mehr im Feuer hätte – „Im Schmerz geboren“ ist neben dem Klassiker „Reifezeugnis“ der zweite Tatort, den wir bisher mit 10/10 bewertet haben.

Der Film mit dem poetischen Namen „Der Ort, von dem die Wolken kommen“ wird der vierte Polizeiruf 110 sein, den wir nach seiner Fernsehpremiere rezensieren – insgesamt haben wir mittlerweile ca. 1/4 der bisher produzierten 379 Polizeirufe sowie ca. 2/3 aller Tatorte angeschaut und rezensiert. Etwa die Hälfte dieser Kritiken ist noch „lagernd“. Die Texte werden schrittweise veröffentlicht – vornehmlich im Wege von Wiederholungen der betreffenden Filme.

Besetzung und Stab

Elisabeth Eyckhoff „Bessie“Verena Altenberger
Wolfgang MaurerAndreas Bittl
Cem HalacCem Lukas Yeginer
PolouDennis Doms
StrasserNorman Hacker
Dr. KutayKatja Bürkle
Stationsschwester MilliXenia Tiling
Sandra WalitzaLucy Wirth
Silke FabianAnja Schiffel
Dr. Sa’ediLeonardo Nigro
WalitzaPaul Wolff-Plottegg
YodokLouis Eitner
Junge WalitzaMaximilian Kucherov
Mädchen WalitzaMichelle Pferinger
BusfahrerRichard Hentschel
Mädchen KlinikMiriam Meier
Verwirrte alte FrauRosemarie Krause
KrankenschwesterÖzge Delioglan
Streifenpolizist GerdMarc Philipp Kochendörfer
Musik:Sven Rossenbach, Florian van Volxem
Kamera:Julian Krubasik
Buch:Thomas Korte, Michael Proehl
Regie:Florian Schwarz


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