Borowski in der Unterwelt – Tatort 603 #Crimetime 934 #Tatort #Kiel #Borowski #Jung #NDR #Unterwelt

Crimetime 934 - Titelfoto © NDR, Marion von der Mehden

Arschloch an Waschlappen

„Borowski in der Unterwelt“ ist der erste Tatort des Kieler Kommissars, der dessen Namen im Titel trägt, was mittlerweile ein Erkennungszeichen der Krimis aus dem höchstmöglichen deutschen Norden geworden ist. Beim Lesen dachten wir an eine Handlung mit Organisierter Kriminalität, doch weit gefehlt. Der Bezug zum Titel ist viel direkter, sodass ein Dank an die Kieler Stadtentwässerung den logischen Schlusspunkt des Films bilden konnte. Gleichzeitig ist es der dritte Film unseres kleinen Sommerfestivals für Klaus Borowski – nach den Anthologie-Folgen 250 und 251 („Väter, „Stirb und werde“).* Wie war’s damals, in einem Sommer, der unendlich weit zurückzuliegen scheint? Darüber ist mehr zu lesen in der -> Rezension.

Handlung

Ein neuer Fall konfrontiert Kommissar Borowski mit grausigen Funden. In Kiel tauchen Überreste menschlicher Körper in der Kanalisation auf – Zähne, Haare, Hüftgelenke. Sie stammen von mehreren Körpern, und weisen deutliche Spuren von Säure auf.

Kommissar Borowski und seine Kollegen stehen vor einem Rätsel: Wo kommen die Überreste her, wie sind sie in die Kanalisation gelangt und zu wie vielen Menschen gehörten sie? Die Ermittlungen beginnen bei den nie geklärten Fällen. Zum Teil Jahre zurückliegende Fälle. Doch die 19-jährige Schülerin Doreen Winter wird erst seit zwei Tagen vermisst. Die Kommissare sind alarmiert.

Mitten in der diffizilen Recherche stellt sich der Täter: Priester Albert Benz, der in Kiel einer kleinen katholischen Gemeinde vorsteht. Der predigt, Sterbende begleitet und die Beichte abnimmt. Ein Seelsorger, wie man ihn sich wünscht. Doch Benz besteht darauf, der Täter zu sein. Ein Geständnis, keine Beichte. Denn Benz nimmt die Schuld zwar auf sich, doch dann ist nichts mehr aus ihm rauszubekommen. Borowski glaubt Albert Benz kein Wort. Er sucht nach einem Motiv. Nicht nach einem Tat-Motiv, sondern nach Benz‘ Motiv zu lügen.

Absurd, Borowski verbringt seine Zeit damit, einem Geständigen nachzuweisen, dass dieser nicht der Täter ist. Der Priester und der Polizist, zwei auf Sinnsuche. Als Borowski die entscheidende Annäherung zwischen ihm und Benz heraufbeschworen hat, wird der Priester selber Opfer. Der verzweifelte Vater der verschwundenen Doreen schießt auf Benz und verletzt ihn schwer.

Rezension

Nicht ganz so logisch ist vieles in der Handlung. Angesichts jüngster Entwicklungen (der Film ist aus 2005, also jetzt acht Jahre alt) darf  man ihn dafür kaum noch tadeln, sonst müsste man viele Neuerscheinungen, besonders aus 2013, noch schlechter bewerten, als wir das aufgrund ihrer mäßigen sprachlich-inhaltlichen Qualität, wegen zu absurder Handlungen und Figuren getan haben.

Außerdem steht dem beinahe unmöglichen Plot viel entgegen. Da ist wieder eine besondere, dieses Mal morbide Atmosphäre, und wieder ist es ein Film unter der Regie von Claudia Garde (u. a. „Stirb und werde„, „Borowski und das Mädchen im Moor“), der diese beinahe magnetische Wirkung ausübt, wiewohl wir schon lange ahnen und am Ende wissen, so einen Kanalbewohner wie hier gezeigt, kann es im Grunde nicht geben. Wir werden an klassische Phantastik herangeführt wie „Der Glöckner von Notre Dame“ oder „Das Phantom der Oper“ und so ist es eben doch stimmig, dass – es am Ende gar kein Verbrechen gibt. Alles spielt sich im Kopf der Beteiligten ab und natürlich in dem des Zuschauers. Vom Pfarrer angefangen, der sich selbst bezichtigt über die Ermittler bis zu uns vor den Bildschirmen entsteht eine Kette von Assoziationen und werden wir Opfer einer Manipulation. Schon die Tatsache, dass es zwischen 10 und 20 Opfer gewesen sein müssten, wenn alle Vermissten, von denen Teile in der Unterwelgt gefunden wurden, tatsächlich von einem einzelnen Täter umgebracht worden wären, weist uns darauf hin, dass etwas nicht stimmt, denn eines tun sie in Kiel nicht – aus Effektgründen einen besonders hohen Bodycount ausweisen.

Aber alles andere geht. Zum Beispiel die grandiosen Dialoge, die zu den besten gehören, die wir bisher in einem Tatort hören durften, wozu beiträgt, dass sie so schrullig gesprochen sind. Man kann aus einem Team wie den Kielern mit dem Kommissar, der von Axel Milberg wieder einmal großartig verkörpert wird, der Psychologin Frieda Jung (Maren Eggert) und dem Assistenten Zainalow, den es in diesem Film noch gibt sowie dem Chef des Ganzen, Kriminalrat Schladitz (Thomas Kügel) eines jener Routine-Teams machen, die wir in anderen Städten kennen. Doch man kann sie als hochveranlagtes Spannungsfeld inszenieren. Ein großes Plus nicht nur dieses Kieler Tatorts, aber hier wird Kontroverse trotz sichtbarer Zuneigung sehr gut ausgespielt und es gibt viele wundervolle Details zu besichtigen; Reaktionen sind nicht vorhersehbar und manch abgedrehter Moment, ein albernes Lachen oder der Gag mit Arschloch und Waschlappen in der Kanalisation zwischen Borowski und Zainalow künden von einer inspirierten Herangehensweise, die wir anderen Städten als Frischzellenkur empfehlen würden. Wir wollen nicht ungerecht sein, auch das Kieler Team war damals neu. Sie sind etwa zur gleichen Zeit gestartet wie Münster, die dann in den Jahren 2004 bis 2006 ihren Höhepunkt erreichten und durch den Hyp, der um Thiel und Boerne entstanden war, auch Kiel etwas in den Schatten drängten. Heute aber sieht die Sache anders aus.

Während das Klamauk-Konzept in Westfalen quasi auserzählt erscheint, hat man den Eindruck, dass die besten Kieler Tatorte nicht nur die jüngeren waren, sondern vielleicht noch kommen werden. „Borowski in der Unterwelt“ ist eher so kontrovers zu betrachten wie die Figuren miteinander agieren, weil der schönen Inszenierung und den Erste-Klasse-Charakteren ein Handlungsgerüst gegenübersteht, dessen Grundlage, der seit langer Zeit im vermutlich fauligen Kanal lebende Mann unbestimmter Herkunft, nur begrenzt tatortzugänglich ist. Schade, dass es keinen Geruchsfilm gibt, den hätte man für diesen Krimi unbedingt erfinden müssen, auch wenn man möglicherweise nach einer Zeit die Nachbarn vor der Tür gehabt hätte, mit Taschentüchern vor den Nasen. Ob ein permanentes Leben im Abwassersystem möglich ist, wagen wir zu bezweifeln, so originell die Idee auch daherkommt. Im Berliner Tatort „Unten und oben“ wird – auf weniger konsequente Weise – auch mit der Kanalisation als Schauplatz gearbeitet, aber es wird nicht suggeriert, jemand lebt dort ausschließlich.

Auch der Part mit der Säure und das Zusammenspiel zwischen Pfarrer und dem Unterweltmensch erschließen sich nicht eindeutig. Dass hingegen der von Uwe Bohm verkörperte Geistliche die Polizei auf den Plan ruft, um sich letztlich des Beichtgeheimnisses zu entledigen, entbehrt vor allem eines nachvollziehbaren Auslösers. Und den sollte es, bei aller gruftigen Sonderlichkeit eines Films, für die Krimifans unter den Tatortguckern doch geben. Kurz vor Ende überlegten wir, ob jetzt nicht noch ein Twist kommt, der alles in den Schatten stellen würde – nämlich, dass der Priester den Mann im Kanal nur benutzt und die Morde bei ihm beauftragt und entgegen Frieda Jungs Ansicht eben doch ein psychopathischer Killer ist, der die Erlösung verschiedener Existenzen selbst in die Hand nimmt, wie wir es in vielen anderen Tatorten als Motivation eines durchgeknallten Serientäters für das Verbringen von Menschen vom Leben zum Tod beobachten durften.

Finale

Ein wenig Psycho sind alle in diesem Film und das trägt zu seiner Wirkung bei. Echt interessante Dialoge fußen oft auf Abweichungen vom Alltäglichen und hohe Literarizität, wie sie hier zweifelsfrei zumindest stellenweise anzutreffen ist, kann nur durch Figuren bewirkt werden, deren Sprache man von zu vielen banalen Füllworten befreit und aufs Wesentliche reduziert, um das Unerwartete so zu vermitteln, dass wir uns angesprochen fühlen. Vielleicht angesprochen fühlen, weil es unserer eigenen Wahrnehmung näher ist als das, was wir immer vorhersehen können – was zum Beispiel die Kölner so gut draufhaben, immer genau das zu liefern, was man von ihnen erwartet und damit wiederum eine andere Seite in uns anzusprechen, die sich nach Berechenbarkeit im Leben sehnt. Es aber immer einer Frage der persönlichen Wahrnehmung, der Einstellung zum Medium Film und vieler anderer, oft unbewusst wirkender Aspekte, ob man sich für eine Darstellung erwärmen kann.

Wir sehen eine Wahrhaftigkeit, eine einen doppelten Boden hinter der manchmal überzogen wirkenden Aufstellung und Sprache der Figuren in den Borowski-Tatorten, diese kommt in „Borowski in der Unterwelt“ besonders gut zum Vorschein und reibt sich auf beinahe sensationell gut gemachte Weise am wenig realistischen Plot und dessen philosophischer Unterlegung, die etwas mit der Oberfläche und dem, was unsichtbar ist oder vergessen scheint, spielt. Alles, was vermodert und aus unserem Gedächtnis entschwunden ist, wie die ungelösten Vermisstenfälle, landet bei einem offenbar recht intellektuellen Sammler, einem Freak, der von der Welt ebenfalls vergessen wurde. Ein Film, der irreal wirkt, ohne im engeren Sinn surrealistisch zu sein. Zu einem Topkrimi fehlt „Boworski in der Unterwelt“ das eine oder andere, aber die Inszenierung die Welt, die man bei „Unterwelt“ zunächst nicht so wörtlich verstanden haben möchte, führen zu

7,5/10.

© 2021, 2013 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

(*) Die Angaben beziehen sich auf die ursprüngliche Veröffentlichung des Textes im Juli 2013. Dies gilt auch für einige weitere Bemerkungen. Damals waren ca. 250 Tatort-Rezensionen im „ersten“ Wahlberliner veröffentlicht, Start der „TatortAnthologie“ war im April 2011.

Klaus Borowski – Axel Milberg
Frieda Jung – Maren Eggert
Roland Schladitz – Thomas Kügel
Kriminaltechniker – Jan Peter Heyne
Pfarrer Benz – Uwe Bohm
Gerichtsmediziner – Samuel Finzi
Alim Zainalow – Mehdi Moinzadeh

Regie – Claudia Garde
Kamera – Martin Farkas
Buch – Sascha Arango

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