Wahlen in NRW ++ Die Ukraine, der ESC und die Phosphorbombenantwort Russlands? ++ NATO: Nord und Süd doch vereint? ++ Der Krieg als Kitt der Nationen? | Biefing 3

15.02.2022, Briefing-Timeline 3 (hier zu Nr. 2 vom 14.05.2022)

Corona

Heute ist der stärkste Inzidenzrückgang seit mehreren Tagen zu verzeichnen, der bundesweite Wert fiel von 477 auf 452. Der Trend der letzten Tage setzt sich fort, ist aber nicht so positiv, wie es angesichts des heutigen Rückgangs von mehr als 5 Prozent erscheint. Mehr dazu in unserem Corona-Report von gestern (106/22).[1]

Wahlen in NRW

Wir haben den Wahl-O-Mat gemacht und das Ergebnis war sozusagen das Übliche.[2] Heißt, gleich, wer die heutige Wahl gewinnt, Hendrik Wüst von der CDU, der amtierende Ministerpräsident oder Thomas Kuschaty, sein Herausforderer von der SPD, wir würden ihn nicht wählen, wenn wir dort wohnen würden. Wie schon in Schleswig-Holstein am letzten Wochenende: Es ist mehr oder weniger egal, wer unter der Ägide der Wirtschaftslobbyisten regiert. Falls Sie in NRW wohnen und den Eindruck haben, hier zeichnen sich bahnbrechend unterschiedliche Alternativen ab, schreiben Sie uns bitte, vor allem, wenn es sich um solche handelt, die eine krass gute Zukunftsvision für das bevölkerungsreichste Bundesland haben. Wir bilden Ihre Antwort dann in einem unserer nächsten Briefings ab.

Wir finden es übrigens falsch, von einer „kleinen Bundestagswahl“ zu sprechen, wie viele Kommentator:innen es tun. NRW spiegelt weder den Durchschnitt der Bundesrepublik, noch ist es mit seinen regionalen Besonderheiten repräsentiert, wenn es quasi als Miniaturausgabe der Republik apostrophiert wird. Richtig ist: Die Wahl dort ist besonders wichtig, weil die großen Parteigliederungen in NRW viel Einfluss auf die Bundesparteien haben und ein Erfolg oder eine Niederlage dort wichtige interne Strukturen verändern kann. Hier gibt es ein paar schnelle Informationen,[3] unter anderem diese:

Den Zahlen zufolge dürften die Grünen mit Umfragewerten um 17 Prozent die „Königsmacher“ werden und könnten sich in Sondierungen mit CDU und SPD entsprechend teuer verkaufen. Ihre Spitzenkandidatin Mona Neubaur stellte in dieser Woche bereits ihre „Regierungsvorhaben“ vor und meinte selbstbewusst, es wäre „vielleicht gar nicht so spielentscheidend“, welcher Mann Ministerpräsident werde. „Egal in welcher Regierungskonstellation“ würden die Grünen schon für Wandel sorgen. Die Spitzenkandidaten von CDU, SPD, Grünen und FDP schließen nichts kategorisch aus – außer eine Zusammenarbeit mit der AfD.

Und mit der Linken? Ach ja, die wird weit von einem Einzug in den NRW-Landtag entfernt abschneiden.

Wir haben bei der ans Ende des Artikels angefügten Abstimmung mitgemacht. Danach wäre die CDU sehr klar vor der SPD. Wir haben mit „keine der genannten“ Parteien gestimmt.

Eine gesonderte Wahlberichterstattung wird es trotz der Wichtigkeit der Wahl von uns nicht geben, allenfalls ein Update des heutigen Briefings, wenn sich Überraschungen ergeben sollten. Ansonsten morgen mehr zum Ergebnis.

Ukraine-Krieg

Gestern hat die russische Regierung verkündet, dass sie die EU-Mitgliedschaft der Ukraine nicht mehr neutral sieht, sondern einer NATO-Mitgliedschaft mehr oder weniger gleichstellt, also dagegen ist.[4] Da wirkt es irgendwie seltsam kongruent, dass in der Nacht auf das mittlerweile weltberühmte Asow-Stahlwerk in Mariupol, das Symbol der Verteidigungsbereitschaft, in dem noch ca. 1.000 Kämpfer:innen ausharren, Phosphorbomben mit hämischen Aufschriften zum ESC-Gewinn der Ukraine und wegen eines Appells, den die ukrainischen Teilnehmer:innen dabei abgegeben haben, geworfen wurden. Wäre es nach den professionellen Voter:innen gegengen, hätte die Ukraine diesen ESC nicht gewonnen, aber das Publikum, das die überwiegende Zahl der Stimmen vergibt, hat sein Herz sprechen lassen.[5]

Ob die rüde und zynische Form der Bombardierung des Asow-Werks stimmt oder nicht, wollen wir noch abwarten, aber da in diesem Krieg wieder einmal jede Menschlichkeit verloren geht, ist es nicht unmöglich. Phosphorbomben zählen zu den geächteten Kriegswaffen, ebenso wie biologische, chemische und natürlich auch atomare Waffen.

Was man dahinter sehen könnte, ist großer russischer Frust, ist weitere Verrohung und möglicherweise sind die Informationen richtig, dass auch die massive russische Offensive im Osten der Ukraine nicht mehr richtig vorankommt oder, vorsichtiger ausgedrückt, „nicht im Zeitplan liegt“.[6] Sollte das der Fall sein, gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, wie es weitergehen könnte: Die Ukraine wird mit Hilfe des Westens den Krieg drehen oder Putin wird (noch mehr) verbotene Waffen einsetzen lassen. Falls die Informationen des ukrainischen Verteidigungsministeriums auch nur annähernd stimmen, die gerade veröffentlicht wurden,[7] wäre das ein Desaster für die russischen Kriegsherren und würde eine Beobachtung belegen, die nun im Wesentlichen und im Großen seit 100 Jahren gilt: Aggressoren gehen gegen eine entschlossene Verteidigung blutig baden, auch wenn sie zunächst hoch überlegen erscheinen. Uns fällt spontan jedenfalls kein erfolgreicher Angriffskrieg der letzten Jahrzehnte ein.

NATO-Erweitrung, Nord-Süd-Konflikt auf Normalmaß reduziert

Gestern haben wir uns zur überraschenden möglichen Blockade der Aufnahme von Schweden  und Finnland in die NATO durch die Türkei geäußert. Mittlerweile wird nicht mehr ganz so heiß gekocht, vermutlich wird die Sache auch bald gegessen sein, nachdem Finnland nun seinen offiziellen Antrag gestellt hat. Schweden wird vermutlich nicht zurückbleiben. Nach dieser Argumentation klingt das Ansinnen der Türkei, aus deren Sicht dargestellt, nicht unlogisch: Wenn die EU die PKK als Terrororganisation einstuft, dann darf sie in EU-Ländern nicht walten, wie sie will.[8]

Ob das in Schweden der Fall ist, haben wir noch nicht recherchiert, aber dass das Land, ebenso wie Deutschland, viel Raum für alle möglichen Organisationen lässt, die man nicht unbedingt als Speerspitze der Demokratieverteidigung bezeichnen kann, ist bekannt. Vermutlich glaubt man die Stärke des eigenen Systems. Was wir in Deutschland sehen: Das könnte eine Fehlannahme sein, zumindest, wenn zu viele Angriffe aus verschiedenen Richtungen auf die Demokratie gleichzeitig stattfinden. Auch eine Schwächung der Demokratie durch immer rigidere Überwachungs- und Polizeigesetze ist ein Sieg für die Antidemokraten. Wer also dass Narrativ pflegt, dass in der Ukraine die Freiheit verteidigt wird, der muss auch etwas mehr darauf achten, was im eigenen Land passiert, als das bei uns schon seit vielen Jahren der Fall ist.  

Gestern gab es nur Erdogans Auftritt, der auf geostrategisches Sich-Aufplustern schließen ließ, aber nach der obigen Darstellung wirkt das, was wir gerade sehen, viel rationaler und nachvollziehbarer. Das ändert freilich nichts daran, dass Erdogan gegen die Türken ebenso einen Angriffskrieg führen lässt wie Putin gegen die Ukraine. Wenn er sich aber auf eine Einschätzung der EU, die PKK betreffend, berufen kann, dann hilft ihm das natürlich dabei, die NATO-Mitgliedschaft von Schwedne und Finnland an Bedinungen zu knüpfen. Ob diese erfüllt werden? Wir werden es sehen, aber dass eine NATO-Erweiterung in diesem wichtigen Moment an einem, von der Ursache her Türkei-internen Problem scheitert, das die dortige herrschende Politik wesentlich mitverursacht hat, scheint doch eher unwahrscheinlich.

Spaltung oder Vereinigung durch den Krieg?

Kürzlich hat die Zeit ein Interview mit Harald Welzer geführt, einem der Unterzeichner des offenen Briefs an Bundeskanzler Scholz, in dem vor einem Atomkrieg gewarnt wird. Wir haben diesen Appell nicht unterzeichnet, weil er uns zu einseitig war und zu sehr in die Richtung ging, Russland mehr oder weniger ungehindert den Krieg gewinnen zu lassen. Zumindest kann man den Aufruf so interpretieren. Klar, dass der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk darauf ansprang, woraus eine Kontroverse hervorging, die sich letztlich mit einer anderen verknüpfte: Spaltet oder eint dieser Krieg das Land? Damit ist nicht die Ukraine gemeint, sondern Deutschland. Auf NATO- und EU-Ebene ist überwiegend ein Schließen der Reihen zu beobachten, keine Frage.

Aber wie sieht es mit der deutschen Gesellschaft aus? Wir meinen, es ist wie mit Corona. Disparitäten werden und wurden nicht durch diese Herausforderungen geschaffen, sondern deutlicher sichtbar als bisher. Außerdem gehören sie in einer Demokratie mehr oder weniger dazu, sofern der Anstand bei der Auseinandersetzung einigermaßen gewahrt bleibt. Dass dies häufig nicht der Fall ist, liegt an einem Mindset, das durch jahrzehntelange neoliberalistische Verrohung geschaffen wurde, nicht an den politischen Themen selbst. Bezüglich existenzieller Gegenstände wie Krieg und Frieden wird es immer unterschiedliche Ansichten geben, die mit Leidenschaft vorgetragen werden dürfen.

Selbst die Verrohung der Diskussionskultur ist durchaus ein fragwürdiges Narrativ: Schauen Sie sich mal Bundestagsdebatten an, in denen noch die Kriegsgeneration das Wort führte: Haben Sie den Eindruck, dass es damals einen besseren politischen Stil gab als heute? Oder sind wir nur gegenwärtig massiv davon enttäuscht, dass die Wende von 1989 keine friedlichere, empathischere Welt hervorbrachte? Was es in jenen Jahren noch nicht gab und was die Sichtbarkeit der Differenzen erhöht: Soziale Netzwerke und „Bürgerjournalismus“, Plattformen, auf denen alles aufeinanderprallt, was früher auf ähnlich deftige Weise am Stammtisch als dem Vorläufer der virtuellen Bubble besprochen wurde. Dort blieb es aber im Wesentlichen in der Bubble und man hatte weniger Kontakt zur Gegenseite. Klassenpolitisch war das möglicherweise gar kein Nachteil, weil die Manipulationen seitens des Kapitals nicht an jeder Ecke lauerten, aber die hohe Transparenz dessen, was die Menschen denken, ist eben eine Erscheinung unserer Zeit, an die sich nicht alle gleichermaßen gewöhnen, mit der nicht alle umgehen können.

Deswegen vertreten wir beim Wahlberliner im Wesentlichen eine Position, die, wo immer es geht, pro Meinungsfreiheit und gegen Einschränkungen derselben gerichtet ist. Grenzen ziehen wir vor allem dort, wo es um strafbare Äußerungen geht, die unabhängig vom technischen Medium, mit dem sie in die Welt kommen, zu verfolgen wären.

Die Gesellschaft ist nicht „einig“ und wird es durch diesen Krieg nicht werden, vielmehr muss sie, wenn sich der Pulverdampf etwas verzogen haben wird, wieder über ihre Zukunft und mehr Gerechtigkeit diskutieren. In aller Offenheit. Gerne inkludiert: Wie es eigentlich immer wieder zu solchen Kriegen kommen kann und wie wir unser Verhalten endlich so verändern, damit die Wahrscheinlichkeit wesentlich sinkt, dass wir uns doch mal eines Tages alle gegenseitig auslöschen. Uns ist aber immer noch in Erinnerung, dass sich gerade junge Menschen kaum für Außenpolitik interessiert haben, bevor dieser Krieg kam, es waren nicht einmal 10 Prozent, gemäß einer Umfrage.

Nur ein Tipp für bisher politisch Inaktive, Uninteressierte, die sich plötzlich durch den Ukrainekrieg aus der Ruhe aufgeschreckt wiederfinden: Je lebendiger und gerechter eine Demokratie ist, je weniger sie Hass und Gewalt im Inneren produziert, je weniger sie andere unterdrücken und imperialistisch beherrschen will, desto weniger kriegslüstern geht es in ihr und mit ihr in der Regel zu. Darüber muss mit einer Demokratie wie den USA wieder ohne Scheu gesprochen werden. Aber sprechen Sie mal mit den Machthabern in China über Demokratie. Da können Sie auch gleich einen Sack Reis umwerfen. Und das ist der Unterschied, der im Grunde antiimperialistische Äquidistanz eher von der Seite her angreifbar macht, dass Russland oder China augenfällig und einseitig als die Guten angesehen werden. Das Umgekehrte ließe sich besser argumentieren. Wir bleiben in der Mitte und sind gegen jede Form von expansiver und auf Ungleichstellung beruhender Geopolitik. Wäre ein solches multipolares System verwirklicht, würden wir es bis in unseren Alltag hinein merken: Alles wäre entspannter und friedlicher. Damit ist auch die Frage beantwortet, ob ein Krieg wirklich einigen kann? Nur, wenn man angegriffen wird und ansonsten in einem nationalistischen Wahn, der zugunsten des Kapitals alle traditionellen Gegensätze überdeckt.

TH

14.05.2022, Briefing Nr. 2

Ukraine-Krieg

Kürzlich haben wir gelesen, dass ein Deal sein könnte: Die Ukraine handelt mit Russland einen Waffenstillstand aus unter Aufgabe einiger von Russland besetzter Gebiete und erhält dafür die EU-Mitgliedschaft. Ernsthaft jetzt? Eine Mitgliedschaft kann sie sowieso beantragen, aber nicht zu Sonderkonditionen, also qua Putin-Express. Wir sind diebezüglich verhalten. Die Ukraine wäre nach einer Aufnahme das ärmste Land der EU, zudem ein ziemlich großes, außerdem hat sie noch einen Weg vor sich, bis die Kriterien an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingehalten sind, die man als EU-Miglied mindestens erbringen sollte. Dass einige aktuelle Mitglieder der EU diesbezüglich keine guten Vorbilder sind, muss hingegen viel mehr diskutiert und gegebenenfalls auch sanktioniert werden, falls sich die EU tatsächlich als Wertegemeinschaft begreift (was sie nach unserer Auffassung nur an zweiter Stelle ist, was aber vorrangig sein sollte). Die Abtimmenden sind bei einer entsprechenden Umfrage gespalten, es gibt nur eine knappe Mehrheit für die Aufnahme der Ukraine.[9] Allerdings kommt es immer auf die exakte Fragestellung an, die liegt uns in diesem Fall nicht vor.

Dafür haben wir eine Abstimmung, hier können Sie mitmachen: Civey-Umfrage: Sorgen Sie sich, dass die neuesten russischen Sanktionen gegen die EU Deutschlands Wirtschaft nachhaltig schaden werden? – Civey

Das „nachhaltig“ spielt dabei für uns eine wichtige Rolle: Schäden, die auf mittlere oder gar lange Sicht nicht wiedergutzumachen sind und auch nicht durch einen Innovationsschub an anderer Stelle, etwa auf dem Sektor der erneuerbaren Energien, ausgeglichen werden können. Wir fürchten angesichts der extremen globalen Vernetzung der Wirtschaft sehr wohl, dass dies der Fall sein wir und  mit uns tun dies derzeit exakt 50 Prozent sogar mit „eindeutig ja“, weitere 15 Prozent mit „eher ja“. Die übrigen haben keine Ahnung von Wirtschaft und vor allem nichtvon der Fragilität eines Systems, das schon seit der Bankenkrise nur noch mit Notmaßnahmen funktionsfähig gehalten wird. Hier aber der Begleittext von Civey:

„Energie kann als Waffe genutzt werden. So reagierte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Donnerstag im deutschen Bundestag, nachdem Russland Handelsverbote gegen 31 Energiefirmen verhängt hatte. Zwar verringerte Deutschland seine Abhängigkeit von russischem Gas seit Kriegsbeginn von zuvor 55 Prozent auf etwa 35 Prozent, dennoch könnten die Sanktionen Auswirkungen auf die deutsche Energieversorgung haben.

Auf der Sanktionsliste stehen auch Teile von Gazprom Germania. Das Unternehmen ist Eigentümerin wichtiger Firmen der nationalen Gaswirtschaft und besitzt den größten Einzelspeicher für Gas in Deutschland. Jetzt müssen sich diese Tochterfirmen nach potenziell teureren Alternativen umsehen, was auf die Verbraucher umgewälzt werden könnte. Außerdem wird es europäischen Firmen durch die Sanktionen erschwert, ausreichend Gasvorräte anzulegen.

In der „Wirtschaftswoche“ versicherte Habeck, dass Deutschland auf die Sanktionen eingestellt sei, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt seien. So müssen die Gasspeicher zum Jahreswechsel voll und mindestens zwei Flüssiggasterminals angeschlossen sein. Außerdem riet er die Deutschen dazu an, kräftig Energie einzusparen. Um wirklich nachhaltig abgesichert zu sein, sei der Ausbau erneuerbarer Energien allerdings der einzige Weg.“

Was wir jetzt erleben und was noch kommen kann, war alles schon abzusehen, seit es um  Sanktionen geht. Deswegen waren wir bereits kurz nach Kriegsbeginn eher dafür, die Menschen in der Ukraine, die kämpfen wollen, mit Waffen zu beliefern als für ein Sanktionskarussell mit unabschätzbaren Folgen. Die Gefahr, dass am Ende alle verlieren werden, ist ziemlich groß, denn auch immer mehr Sanktionen sind eine feindselige Spirale der Eskalation. Dass Putin seinerseits den Hahn zudrehen könnte, wurde ja bisher deshalb mehr oder weniger ausgeschlossen, weil Russland auf die Einnahmen aus Europa angewiesen ist. Den Move, dass er sagt: Entweder mehr Geld oder kein Gas, an den hat lange Zeit kaum jemand gedacht und den werden wir alle deutlich zu spüren bekommen. Es sei denn, er erweist sich als Bluff, aber ob unsere Politiker:innen es darauf ankommen lassen werden, es herauszufinden? Es wird sehr spannend bleiben, so viel steht fest und die Preise werden steigen, so viel steht auch fest. Einige EU-Länder deckeln übrigens die Energiepreise und / oder fordern den „Übergewinn“ von Energieunternehmen zurück, aber in Deutschland, wo Parteien wie die FDP und die Grünen mitregieren? Oh je. Gerechtigkeit ist kein harte Währung, in diesem Land. Deswegen müssen wir uns alle darauf einstellen, dass es voll auf uns durchschlägt, wenn die Politik meint, einen Saktionswettlauf inszenieren zu müssen. Wer anschafft, bezahlt, ist übrigens hierzulande ebenfalls kein hoch geschätztes Prinzip: Die Politik schafft ständig neue Verwerfungen, aber die Mehrheit darf darunter ächzen, nicht die gutbezahlten Anschaffer:innen.

Deswegen schließt sich die Folgefrage logisch an, auch hier können Sie Ihre Meinung kundtun:

Militär oder Klima?

„Aufgrund des Russland-Ukraine-Krieges läutete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine sicherheitspolitische Kehrtwende ein. Nachdem die Bundeswehr lange einem Sparkurs unterlag, soll sie künftig mit einem Sondervermögen über 100 Milliarden Euro aufgerüstet werden. Laut der Wehrbeauftragten des Bundestages Eva Högl ist dies dringend nötig, da es der Armee an sämtlichen Ausrüstungsmaterialien fehle.

Die Linke lehnt die Aufrüstungspläne ab. Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow und weitere führende Linke fordern stattdessen ein Sondervermögen, mit dem die dringend benötigte Energiewende auch für finanzschwache Haushalte tragbar ist. Mit dem Geld soll u.a. der Gaspreis gedeckelt und der ÖPNV ausgebaut werden. Linken-Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte dem Phoenix zudem, dass nur Deeskalation und nicht Aufrüsten zum Frieden führe.

Neben dem geplanten Sondervermögen erhält das Verteidigungsressort mit dem aktuellen Bundeshaushalt zusätzliche Mittel in einer Rekordhöhe von rund 50 Milliarden Euro. Die Haushaltsplanung sieht zudem „Investitionen in eine wettbewerbsfähige, klimaneutrale und digitale Zukunft” vor, die in den Jahren 2023 bis 2026 insgesamt mehr als 200 Milliarden Euro umfassen sollen. Bis 2045 soll dadurch das Ziel der Treibhausgasneutralität erreicht werden.“

Die Bundeswehr ist im Vergleich zu anderen Armeen krass ineffizient, dort gilt es, den Hebel anzusetzen, anstatt bequem nach immer mehr Geld zu rufen. Klar ist der Instandhaltungsstau jetzt riesig, weil man jahrelang geschlunzt hat, um nicht zu schreiben, jahrzehntelang. Aber schien es nicht so, als ob es nie wieder Krieg geben könnte, in den 1990ern? Die Bundeswehrstrukturen sind es aber nicht allein, es ist auch der Mangel an klarem Auftrag, der sie in Nachteil gegenüber anderen Armeen setzt. Sie ist Verfügungsmasse für ständig wechselnde politische Ideen und Anhängsel anderer Armeen, wenn sie im Einsatz ist. Das hemmt die Motivation und die Effizienz ebenfalls. Wir haben uns von Beginn an gegen das „Sondervermögen“ ausgesprochen und offen gelassen, wie viel Geld wirklich notwendig sein könnte, um die Armee „in Schuss zu bringen“,  und zwar so, dass sie ihren Verteidigungsauftrag erfüllen kann, aber nicht jedes Abenteuer logistisch covern muss, das von anderen an die Bundesregierung herangetragen wird.

Für uns eine ganz eindeutige Angelegenheit: Für das Klima kann man Schulden machen, aber nicht für eine Aufrüstung, die jedes Maß sprengt, obwohl es der NATO ganz gewiss nicht an zu wenig Militär mangelt. Unsere Prognose: Bisher musste noch niemand zur Verteidigung Deutschlands einschreiten und das wird auh so bleiben.

Blick auf die Linke

Dass „nur Deeskalation und nicht Aufrüstung zum Frieden führe“, wie Linken-Fraktionsvorsitzender Bartsch sagt, ist zumindest in Bezug auf die aktuelle Konfliktlage in der Ukraine eher der Tatsache geschuldet, dass er den verzweifelten Spagat zwischen den stark auseinanderdriftenden Teilen der Linken machen muss, damit die einzige relevante linke Partei in Deutschland sich nicht endgültig selbst zerstört. Ob das noch abzuwenden ist? Für uns ganz und gar offen, wenn wir sehen, wie groß die internen ideologischen Differenzen mittlerweile sind. Bartsch ist zwar eine Integrationsperson, aber kein Zugpferd, wie die Partei es jetzt bräuchte, um sachliche Differenzen zu überwinden.

Die Folgen dieses Niedergangs sind dramatisch, denn wer soll in Deutschland jetzt noch soziale Politik einfordern? Nicht erst der Krieg hat den Zerfall eingeleitet, aber er beschleunigt ihn möglicherweise.

Der Norden in die NATO: Kalte Füße schon vor Beitritt?  Und im Süden plustert sich Freund Erdogan auf.

Russland stellt die Stromlieferungen nach Finnland ein, weil Finnland sich zu einem NATO-Beitritt entschlossen hat.[10] Derweil will jemand die Nordländer nicht in der NATO haben, der zuletzt eher kleinere Brötchen backen musste, aber jetzt wieder mächtig großspurig auftritt: Freund Erdogan aus der Türkei, Putins Bruder im autokratischen Geiste. Wir erklären mal kurz, warum es für ihn plötzlich so einfach ist:

Die NATO hat es zugelassen, dass er ein sehr enges Verhältnis mit Putin pflegt und sogar Waffensystem für die Türkei in Russland gekauft hat, obwohl sie selbst NATO-Mitglied ist. Und zwar ein wichtiges, an einer geostrategischen Bruchstelle zwischen Europa und Asien. Während Putins Krieg in der Ukraine zu Recht angeprangert wird, schert sich niemand darum, was Erdogan mit den Kurden macht. Er greift sie in Nordsyrien an und das geht weder ohne Putin, aus militärischen Gründen, noch geht es ohne Billigung der NATO-Partner. In Deutschland schweigen die Erdogan-Anprangerer spätestens seit dem Krieg, auch diejenigen, die kurdische Wurzeln haben. Einige von ihnen in der Linken sind sogar gleichzeitig Putin-Versteher:innen. Wie sollen diese eine antiimperialistische Haltung glaubhaft vertreten, wenn sie sich an Russland ketten, egal, was von dot kommt? Das Ergebnis ist, dass sie auch zu Erdogan nichts mehr sagen können, ohne sich vollkommen lächerlich zu machen. Das muss weh tun, aber vielleicht tut ja jemanden, der lange genug in der Politik ist, kein noch so offensichtlicher Widerspruch in den eigenen Positionen mehr weh.

Das Ergebnis des Verhätschelns von Erdogan, das natürlich auch mit dem Flüchtlingsdeal zu tun hat, ist, dass er jetzt die Schweden nicht in die NATO lassen will, weil sie eine relativ freundliche Haltung den Kurden gegenüber gezeigt haben. Das heißt, er macht für dessen Aufnahme zur Bedingung, dass er in Schweden genauso beherzt in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates eingreifen darf wie z. B. in Deutschland. Was erlauben Recep? wäre die richtige Antwort, in beiden Fällen, aber am Ende siegt immer geostrategisches Denken über Menschenrechte und über Ethik und in Ernstfall auch über die Demokratie. Das Krasseste ist, dass Erdogan sich nun auch als Friedensfürst im Sinne eines Vermittlers geriert. Unsere Prognose: Putin wird nicht derjenige sein, der den Frieden in der Ukraine herbeiführen wird. Wenn der Westen zulässt, dass Erdogan dieses Narrativ mit Recht pflegen darf, ist der Westen ein weiteres Mal bis auf die Knochen blamiert, so kurz nach Afghanistan.

Ein Problem ist unzweifelhaft, dass Länder, die in Bündnissen zusammengeschlossen sind, unterschiedliche Entwicklungen nehmen können. Als die Türkei 1952 der NATO beitrat, war sie in einem Demokratisierungsprozess begriffen, jetzt geht es rückwärts, wie auch in Russland. Wird die Türkei deshalb rausgeschmissen? Aber sicher nicht. Erdogans Regime war nicht nur wegen seines Dauerkrieges gegen die Kurden moralisch korrumpiert, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen schon fast am Ende, da kam dieser günstige Krieg in der Ukraine und er wittert Morgenluft. Profiteure gibt es eben überall. Ein Grund mehr, sich bei uns nicht selbst wirtschaftlich massiv zu schaden, während andere die Situation dermaßen kaltblütig ausnützen dürfen. Haben Sie mitgekriegt, wie zahm Kanzler Scholz bei seinem letzten Treffen mit Freund Erdogan war? Okay, nennen wir es typisch scholzsche Zurückhaltung, aber peinlich ist es trotzdem und es nimmt nicht Wunder, dass immer wieder ausländische Politiker mit den unseren einen Umgang pflegen, der unter der Würde ist. Zu ihnen zählt nicht nur der aktuelle ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, sondern immer dann auch Recep Erdogan, wenn ihm etwas nicht passt. Und das kommt recht häufig vor, z. B. immer dann, wenn in Deutschland versucht wird, die politische Einflussnahme religiöser Elemente zu begrenzen.

Noch einmal zum Norden und zur Energie: Geheimnisse um die Nord-Stream-2-Klimastiftung und wie man sie aufbauschen kann

Die „Welt“ ist in die Meisterklasse des investigativen Journalismus aufgenommen worden, weil sie es geschafft hat, den „wirtscchaftlich Berechtigten“ der Klimastiftung zu ermitteln, die in Mecklenburg-Vorpommern zur Absicherung der russisch-deutschen Gaspipeline eingerichtet wurde, falls die USA durchsanktionieren.[11] Nun ja, ein Triumph ist ein Triumpf und nach unserer Ansicht bleibt es an Putin hängen, dass er seine Freunde in Deutschland hängen lässt, indem er es ihnen durch seinen Angriffskrieg verunmöglicht, das Projekt der Gaspipeline aufrechtzuerhalten. Es fällt uns nach wie vor schwer, den Politiker:innen in MV oder auch in der Bundes-SPD deswegen schwerste Vorwürfe zu machen, denn wie Ex-Präsident Trump sich wegen Nord Stream 2 aufführte, das war – sic! – einer jener Fälle, in denen die Potentaten anderer Staaten meinten, mit der deutschen Politik Schlitten fahren zu können. Wir hatten das Zeichen von Unabhängigkeit, das durch Nord Stream 2 gesetzt wurde, durchaus begrüßt und die ökologischen Aspekte deshalb zurückgestellt, zumal wir davon ausgingen, dass man nicht gleichzeitig aus Kohle, Gas und Atom aussteigen kann und dass Gas als Brückentechnologie das geringere Übel ist. Fragen zu diesen Konstruktionen im Umfeld von Nord Stream 2 sind sicherlich berechtigt, müssten allerdings auch an Angela Merkel gehen. Aber der CDU-geführte Untersuchungsausschuss, den es demnächst in MV geben soll, wird sicherlich auch sie vorladen, oder: warten wir’s ab. Falls ja, viel herauskommen wird dabei nicht. Genau so, wie wir nicht alle so wahnsinnig viel haben, dass jetzt ein gewisser Herr Petersen namentlich bekannt ist.

TH

Briefing-Timeline 1 vom 13.05.2022

Freitag der 13., ausgerechnet. Medien, die so etwas wie ein Briefing, einen Lagebericht, einen täglichen Newsletter einsetzen, haben zumeist den Vorteil, dass die Redaktionen frühmorgens schon besetzt sind und dass sie auf eigene Beiträge verweisen können, wenn es um Hintergrundwissen und Vertiefung geht. Wir könnten aber aus unserer Kleinheit den Vorteil ziehen, dass wir nicht auf ein Medium angewiesen sind, sondern uns das Beste aussuchen können, um Sie zu informieren und unsere Meinung zu den Vorgängen in der Welt kundzutun.

Ach ja, der Hintergrund: Wir starten wieder einen neuen Versuch, so etwas wie einen Überblick herzustellen, deshalb diese Ansprache. Selbstverständlich nur zu den Themen, die uns selbst wichtig erscheinen, von einigen wissen wir, dass Sie Ihnen auch wichtig sind, wir können es an den Zugriffszahlen ablesen. Weitere Erklärungen des Features folgen dann und wann, denn Sie wollen ja nicht vorwiegend über uns, sondern über wichtige Themen informiert sein. Vielleicht noch etwas zum Ton. Es hat sich eingebürgert, dass die meist von Chefredakteur:innen geschriebenen Überblick-Newsletters so einen süffisant-ironischen Ton haben, natürlich in Sachen Krieg nicht in dem Maße wie z. B. die Berliner Bürokratie betreffend. Wir werden uns ebenfalls am Thema orientieren, mit dem Bonus, dass wir bei bestimmten Vorgängen auch in einen kämpferischen Modus schalten können. Dass wir das dürfen, haben wir als „Bürgerjournalisten“ den „anderen“ ebenfalls voraus, neben der großen Auswahl an Quellen, die wir hier zeigen können. Wir hoffen, dieses Mal klappt es, Kontinuität herzustellen. Es funktioniert im Kulturbereich, bei Corona, warum nicht beim Weltenlauf? Vielleicht weil man mit dem Laufen kaum hinterherkommt, schon gar nicht in letzter Zeit, wo sich wieder alles zu beschleunigen scheint, aber man darf den Versuch nie aufgeben, dranzubleiben. Außerdem wollen wir versuchen, dieses Briefing mit einer Timeline zu verbinden.

Corona

Einen Corona-Report gibt es heute nicht, weil sich nicht viel geändert hat. Die bundesweite-7-Tage-Inzidenz ist von gestern 502 auf 485 gesunken, demgemäß geben auch die Neuinfektionszahlen leicht nach (hier zum gestrigen Report 105/22). Kurioses gibt es jedoch nach wie vor. Lesen Sie mal diesen Artikel[12]: Nicht nur, dass man sich vor einer Maßnahmen-Evaluierung drücken will, was wir angesichts der von Christian-Drosten geäußerten Bedenken bezüglich einer hinreichenden Datenlage verstehen können und weil der Verdacht der mangelhaften Seriosität dadurch auf der Hand liegt. Auch der Autor des Beitrags scheint irgendetwas zu sich genommen zu haben, das wird vor allem zum Ende hin sichtbar.

Corona scheint sich doch für manche politisch-journalistische Klamotte zu eignen, während weiterhin durchschnittlich 180 Menschen pro Tag an / mit dem Virus sterben. Hier der Verweis zu einem Artikel, der erst reinkam, als wir schon am Verfassen des Briefings waren. Es gibt viel weniger Corona-Naive als Querdenker:innen in Deutschland, auch sonst befasst sich der Beitrag mit dem Stand der Dinge und dem Wechsel von der Pandemie zur Endemie.[13] Am Ende des Artikels übrigens eine Umfrage: Nur 28 Prozent der Abstimmenden würde sich derzeit bedenkenlos eine vierte Spritze verpassen lassen. Wir haben mehrfach geschrieben: Nur, wenn der Impfstoff an die dann vorherrschende Variante angepasst ist.

Russland-Ukraine-Krieg: Scholz muss telefonieren, die Preise explodieren, die NATO darf expandieren

Heute hat Bundeskanzler Olaf Scholz erstmals seit sechs Wochen mit Wladimir Putin telefoniert, dabei ging es um Humanitäres, um einen Waffenstillstand und um die Weltversorgungslage, vor allem mit Lebensmitteln. Bei uns: Immer wieder kein Rapsöl etc. Gestern haben wir in diesem Artikel festgehalten, dass ein Drittel aller Menschen in Deutschland sich Sorgen um die finanzielle Zukunft macht[14] und dass wir der Ansicht sind, es müssten mehr sein. Es sind mindestens zwei Drittel, die wirklich Grund zur Sorge haben. Diejenigen, die mit dem kapitalistischen Sound der Spekulation heulen, Krisengewinnler und die Staatsbediensteten sind die einzigen, die es ruhig angehen lassen können. Und damit steigen wir ins Zitat des Tages ein:

„Die Preise für Benzin, Heizöl, Lebensmittel explodieren. Selbst Mittelschichtfamilien müssen sich einschränken und wer vorher schon mit seinem Gehalt oder seiner kleinen Rente kaum über den Monat kam, ist am Verzweifeln. „Wir werden alle ärmer werden“, behauptet Wirtschaftsminister Habeck. Was für ein Märchen! Wenn Preise steigen, werden nicht alle ärmer – irgendwer wird auch reicher, nämlich der, der den steigenden Preis am Ende kassiert.

Allein im März haben die Ölkonzerne in Deutschland zusätzliche Gewinne in Höhe von 1,2 Milliarden Euro eingefahren. Und seit Kriegsbeginn boomt die Zockerei auf den Agrarmärkten, was die Preise für Weizen und andere Agrargüter nach oben treibt. Doch statt dem Einhalt zu gebieten, sieht unsere Regierung tatenlos zu, wie Ölkonzerne und skrupellose Agrarspekulanten mit der Krise einen Reibach machen.

Dabei muss man das nicht so laufen lassen: In Spanien und Portugal wurde Anfang Mai der Gaspreis per Gesetz fast halbiert und auch der Strompreis gesenkt. In vielen Ländern gibt es mittlerweile gesetzliche Preisdeckel für Energie. Nur der deutschen Regierung fehlt offenbar das Rückgrat dazu. Kein Wunder, dass der Preis für den Liter Diesel nirgendwo in der EU so stark gestiegen ist wie in Deutschland.“[15]

Dabei können wir gleich etwas Wichtiges klarstellen: Sofern sie nicht von rechtsaußen kommt, zitieren wir jede Meinung, wenn wir damit übereinstimmen. Nach vielen Abweichungen zu unseren Positionen hat auch Sahra Wagenknecht wieder etwas geschrieben, was wir für wichtig halten und worauf wir mehrfach hingewiesen haben: Die Simplifizerung der Hintergründe für die Preissteigerungen wird vor allem von Menschen betrieben, die hoffen, wir wissen nicht, dass nicht Engpässe, sondern Spekulationsblasen für die gegenwärtige Preisrallye hauptsächlich verantwortlich sind. Das Gas fließt doch, warum sollen die Preise sich so steigern? Weil an den Börsen für kurzfristige Kontrakte mächtig hohe Preise aufgerufen werden, das sind komplett politische Preise, sie beruhen nicht auf Lieferengpässen. Wo wir nicht mitgehen: Putin kann „seine“ Energie nicht einfach so überall hin verkaufen. Das gilt nicht für Gas, das durch Pipelines gen Westen geschickt wird und außerdem muss es bei den vielen Ländern, die Russland nicht sanktionieren, auch genug Nachfrage für zusätzliches Angebot aus Russland geben. Das dürfte sich sehr wohl auf den Preis auswirken, und zwar negativ für Russland.

Daher ist es eine absolut logische Maßnahme, dass Putin jetzt eine Karte spielt, auf die wir hätten viel früher kommen müssen. Wir haben sie aber als Möglichkeit nicht beschrieben, nämlich, dass Putin jetzt zu uns in Europa sagt: Entweder höhere Preise oder kein Gas mehr. Welch eine Demütigung für die Schwadroneure, die am liebsten selbst alle Lieferungen gestoppt hätten, egal, welcher Preis dafür zu zahlen gewesen wäre. Sicher wird Russland in ein paar Jahren das Problem haben, dass es ganz auf China und Indien angewiesen sein wird, wenn Westeuropa sich wirklich unabhängig von russischen Energielieferungen macht und wir werden sehen, ob dann der Schwanz mit dem Hund wackeln wird und nicht umgekehrt, wovon wir eher ausgehen. Sprich, dass die wirtschaftlich aufsteigenden Milliardenvölker in diesem Spiel mehr und mehr das Sagen haben werden. Auch deswegen finden wir es komplett sinnvoll, wenn die Russen sich als dem europäischen Kulturkreis zugehörig betrachten.

Nun lesen Sie mal bitte den Wikipedia-Artikel über die geostrategischen Entwicklungen seit der Wende von 1989 mit der NATO als Ankerpunkt. Lesen Sie da heraus, dass die Sache komplett einseitig ist und dass man Russland gegenüber nicht massive Fehler gemacht hat, indem man die Chance der Tauwetterphase versemmelt hat? Vor allem ein Statement von Bill Clinton hat uns ziemlich getriggert. Sinngemäß sagte er, man hätte Russland gerne mehr integriert, aber in Washington hätten „politischer Unternehmer“ längst Pflöcke in die andere Richtung eingeschlagen. Sind damit unternehmungslustige Politiker gemeint, die ihre eigene Regierung oder den Präsidenten übergehen oder Unternehmer oder Unternehmercluster, die Politik machen? Oder beides? Es klingt nach Verschwörungstheorie, aber was ist es letztlich: Interessenpolitik, durchgeführt von massiv einflussreichen Interessenvertretern.

Wer diese Infiltrationen als Verschwörungstheorien im negativen Sinne abtun möchte, der muss auch die NOGen, die sich mit den Auswirkungen des Lobbyismus auf die Politik befassen, als Verschwörungstheortiker:innen bezeichnen. Denn genau darum geht es: Dass mächtige Wirtschaftslobbys mehr Frieden in der Welt verhindern und es nicht   zulassen lassen wollen, dass Völker wirklich selbstbestimmt sind:

In einem vom NSO archivierten Telefongespräch am 5. Juli 1994 sagte Clinton zu Jelzin: „Ich möchte, dass wir uns auf das Programm Partnerschaft für den Frieden“ und nicht auf die NATO konzentrieren. Zur gleichen Zeit hätten jedoch „politische Unternehmer“ in Washington den bürokratischen Prozess für eine schnellere NATO-Erweiterung vorangetrieben, als von Moskau oder dem Pentagon erwartet wurde, das sich für die Partnerschaft für den Frieden als wichtigsten Schauplatz für die sicherheitspolitische Integration Europas einsetzte, nicht zuletzt, weil sie Russland und die Ukraine einschließen könnte[16]

Wenn man hinter alle diplomatischen Vorgänge, Finten und auch hinter die Narrative blicken will, ist diese Anmerkung nicht zu unterschätzen. Clinton liefert mit diesen gar nicht so mysteriösen Andeutungen auch den „Deep-State-USA“-Verfechtern reichlich Munition, weil es wirkt, als sei die US-Regierung nicht Herrin des Verfahrens gewesen. So entwickelten sich die USA von dem partnerschaftlichen Gepräge der frühen 1990er unter George Bush sen. zu der Macht mit alleinigem hegemonialem Anspruch unter seinem Sohn George W. Bush. Dass der Terror von 9/11 sehr gut in dieses Konzept passt, weil er den Vorwand für allerlei geostrategische Eingriffe lieferte, folgt auf dem Fuß und ohne jeden logischen Bruch. Dass einige daraus wiederum den Schluss daraus ziehen, die US-„Machtelite“ selbst sei in diese grausamen Anschläge verstrickt gewesen, liegt leider nicht so fern, wie man uns glauben machen will. Damit treffen wir keine Aussage darüber, ob wir zu jenen rechnen, die das glauben.

Deswegen muss man auch sehr wachsam sein, wenn es jetzt um die Kriegsziele in der Ukraine geht: Selbstverteidigungsrecht, Freiheit, Selbstbestimmung auf der einen Seite: ja, das ist so, daran führt nichts vorbei. Aber wie man die Lage geostrategisch wieder am besten ausnutzen könnte, daran wird ebenfalls heftig gearbeitet. Es ist eigentlich ganz einfach: Finnland hat bereits erklärt, dass es einen NATO-Aufnahmeantrag stellen wird, Schweden wird wohl nachziehen. Hat Putin das nicht bedacht? Dass einige nur auf eine solche Gelegenheit gewartet haben, die lahme und strategisch nicht mehr auf der Höhe der Zeit befindliche NATO, die von den USA selbst unter Donald Trump angeschossen wurde, wieder in Schwung zu bringen? Dass der eine oder andere auch dankbar dafür gewesen sein mag, dass Russland einen Grund dafür liefert, dass der z erstrittene Westen sich wenigstens über eine Sache einig ist, nämlich dass der Ukraine geholfen werden muss? Falls er und seine Berater die Gefahr nicht gesehen haben, spricht das für einen Realitätsverlust über Jahre hinweg. Oder nimmt man es für ein größeres Ziel in Kauf, weil man ohnehin nie vorhatte, im Norden anzugreifen? Weil man weiß, dass die NATO Russland nie angreifen würde, man aber einen Zuwachs an NATO-Ländern propagandistisch ausschlachten kann?

Diese beiden skandinavischen Staaten, die wirtschaftlich gut aufgestellt sind und zu den besten Demokratien der Welt zählen, sind jedenfalls die klarsten Gewinne für die NATO seit langer, langer Zeit. Sie sind ohnehin westlich orientiert und bei Manövern und logistisch eng mit der NATO verbunden, aber eben keine offiziellen Mitglieder, und das ergibt durchaus einen Unterschied. Vor allem, was den häufig zitierten Art. 5 des NATO-Vertrages angeht: Wer ein NATO-Land angreift, greift alle NATO-Länder an. Das gilt in jede Richtung, auch in der Form, dass z. B. die nach allgemeiner Ansicht gut organisierte finnische Armee den baltischen Staaten wohl aus logistischen Gründen als erste zu helfen hätte, wenn Estland, Lettland, Litauen von Russland herausgefordert würden.

TH


[1] Corona-Report 106/22 | Der lange Marsch +++ Lauterbach: Es kommt wieder! | Kurzreport – DER WAHLBERLINER

[2] Wenn ich in NRW abstimmen dürfte: Der Wahl-O-Mat für die größte Wahl des Jahres | Parteien, Personen, Politik | Landtagswahl in NRW 2022 – DER WAHLBERLINER

[3] Nordrhein-Westfalen: Bei den Landtagswahlen bleibt es spannend | STERN.de

[4] „Kein Unterschied“ mehr zur NATO: Kreml ändert seine Meinung zu Kiews EU-Plänen – n-tv.de

[5] Publikum-Voting reißt es rum: Die Ukraine gewinnt den ESC | WEB.DE

[6] Ukraine-Krieg im Liveticker: +++ 13:33 Russland hat laut Kiew bereits 27.400 Soldaten und 1220 Panzer verloren +++ – n-tv.de

[7] MFA of Ukraine 🇺🇦 auf Twitter: „Information on Russian invasion Losses of the Russian armed forces in Ukraine, May 15 https://t.co/zhP6zGrAjW“ / Twitter

[8] Finnland und Schweden: Türkei knüpft NATO-Aufnahme an Bedingung – n-tv.de

[9] Das denken die Deutschen zu einem EU-Beitritt der Ukraine (t-online.de)

[10] Nach Ankündigung zu Nato: Russland stellt Stromlieferungen nach Finnland ein – WELT

[11] Nord Stream 2: Geheimnis um Schattenmann der Klimastiftung gelüftet – WELT

[12] Selbst die Ampel lässt Lauterbach auflaufen (msn.com)

[13] Wo wir in der Pandemie stehen und wer jetzt den besten Schutz hat | WEB.DE

[14] 1/3 sorgt sich um die finanzielle Zukunft (Statista) | Frontpage | Wirtschaft | Zukunft – DER WAHLBERLINER

[15] Schluss mit grüner Energiepreistreiberei! | Revue (getrevue.co)

[16] NATO-Osterweiterung – Wikipedia

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