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Derzeit greifen verschiedene Darstellungen gut ineinander. Mit den Demokratiemängeln, die aufgrund von ausuferndem Wirtschaftslobbyismus entstehen, haben wir uns in den letzten Tagen mehrfach befasst, z. B. hier und hier. Vor allem wegen dieser demokratiefernen Einflussnahme haben wir seinerzeit die Rubrik „Demokratie in Gefahr“ als eigene Beitragsklasse eingeführt.
Der EU-Lobbyismus gehört zu den größten Problemen überhaupt. Auf sehr eindrucksvolle Weise wurde er in dem Film „Europa – ein Kontinent als Beute“ dargestellt, den wir uns angeschaut haben, als er hier in die Kinos kam. Die Zahl der Lobbyist:innen pro Abgeordnetem oder Abgeordneter im EU-Parlament ist noch einmal wesentlich höher als in Deutschland, auf den Bundestag bezogen. Ein damaliger Europa-Abgeordneter schildert in der Dokumentation anschaulich, wie die Parlamentarier:innen propagandistisch hochgerüsteten und finanziell bestens ausgestatteten Lobbyclustern fast hilflos gegenüberstehen. Sie haben gar nicht die Ressourcen, um diese Einwirkungen z. B. durch gründliche Recherche und Einholung von Gegenmeinungen bewerten und im Trubel des Parlamentsbetriebs durchdenken und mit Distanz betrachten zu können. Und das Geld. Das Geld lockt immer.
Statista hat heute eine Grafik erstellt, die in etwa die Spitze des Eisbergs abbildet.
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Mehr als 150.000 Euro pro Monat soll das Mobilitäts-Startup Uber zwischen 2014 und 2017 für Lobbyarbeit in Deutschland ausgegeben haben, um damit unter anderem die Einstufung als regulären Fahrdienst zu verhindern und seine Marktposition gegenüber konventionellen Taxiunternehmen zu stärken. Das geht aus einer umfassenden internationalen Recherche von 180 Journalist:innen unter der Ägide des Internationalen Konsortiums Investigativer Journalistinnen und Journalisten (ICIJ) und dem britischen Guardian hervor, in der 124.000 vertrauliche Dokumente ausgewertet und eingeordnet wurden.
Auf EU-Ebene gilt Uber hinsichtlich seiner geschätzten Lobbyausgaben von rund 700.000 Euro im vergangenen Jahr allerdings eher als kleinerer Fisch. Wie unsere Grafik auf Basis von Daten von Lobbyfacts.eu zeigt, verbuchten unter anderem Big-Tech-Firmen und ein deutscher Agrarkonzern die meisten Ausgaben für Lobbyismus in Brüssel.
Der Tech-Konzern Apple gab beispielsweise laut Unternehmensangaben zwischen Oktober 2020 und September 2021 zwischen 6,5 und sieben Millionen Euro aus, um seinen Anliegen im EU-Parlament Gehör zu verschaffen. Google und Meta zahlten im Kalenderjahr 2021 hingegen jeweils etwa sechs bis 6,5 Millionen Euro. Gerade bei letzteren beiden dürfte ein nicht unerheblicher Betrag auf den Kampf gegen den Digital Markets Act und Digital Services Act entfallen sein, die weitere Monopolbildungen verhindern, als unlauter gesehene Geschäftspraktiken wie Dark Patterns, also irreführende visuelle Gestaltung von Webseiten, verbieten und härtere Maßnahmen gegen Hassrede im Netz vorschreiben sollen. Am 4. Juli 2022 nahm das EU-Parlament die beiden Maßnahmenpakete mit deutlicher Mehrheit an, noch im Herbst diesen Jahres soll das entsprechende Gesetz in Kraft treten.
Mit der Bayer AG findet sich auch eine deutsche Firma unter den acht Konzernen mit den höchsten Lobbyausgaben, zwischen 6,5 und sieben Millionen war dem Leverkusener Konzern die Interessensvertretung in Brüssel wert. An zweiter Stelle steht ein eher unerwarteter Vertreter: Das GEMA-Äquivalent Teosto aus Finnland, das lediglich zwei Lobbyisten mit Parlamentsakkreditierung aufweist, 2021 aber dennoch zwischen neun und zehn Millionen Euro für entsprechende Maßnahmen ausgegeben hat. Laut eigener Angaben sie die Hauptaufgabe der finnischen Lobbyist:innen die Vertretung der Rechte von Urheber:innen angesichts der Digital Single Market Strategy der EU.
Die europäischen Chemielobbyist:innen sind ohnehin auf Platz 3 zu finden, aber der Bayer AG reicht das nicht, sie geht noch einmal mit viel eigener Power an die Abgeordneten heran. Ausgerechnet bei der ENEA, dem größten aufgeführten Lobbyisten, gibt es eine Unklarheit, weil mehrere Firmen / Institutionen diese Bezeichnung tragen. Möglich, dass damit die italienische Energie- und Umweltbehörde gemeint ist. Sie ist zwar kein Unternehmen, aber vertritt als Verband die nationalen Unternehmen des Sektors. Sollte hingegen das polnische Energieunternehmen gleichen Namens dahinterstecken: Es handelt sich um einen Energieproduzenten, der zu den großen Strom-aus-Kohle-Machern Europas zählt, mit einem Steinkohleanteil an der Produktion von ca. 60 Prozent (2019).
Die meisten wichtigen Regeln, die die Wirtschaft betreffen, werden heutzutage auf EU-Ebene vorgegeben und müssen in nationales Recht umgesetzt werden. Wenn wir also mit „Lobbycontrol“ oder „Abgeordnetenwatch“ die deutsche Situation in den Blick nehmen, dürfen wir nicht vergessen, welche geballte Lobbymacht auf EU-Ebene in politische Entscheidungen hineinwirkt. Manchmal kommt es trotzdem zu verbraucherfreundlichen Regeln, aber dass zum Beispiel die Atomenergie als „grün“ eingestuft wird, ist ganz sicher dem Einfluss einer mächtigen Lobby zu verdanken. Wenn die Lobby dann noch identisch mit einem großen EU-Staat ist bzw. von ihm besonders unterstützt wird, ist dagegen kaum anzukommen, auch wenn die Folgekosten von Atomstrom die höchsten aller Energieträger sind. Zusätzlich hilft jetzt die sich abzeichnende Versorgungskrise und spielt Lobbys in die Hände, die ihre Technologien als sichere Bank für die Energiesicherheit darstellt.
Mit kühnem, kräftigem Pinselstrich könnte man nun ein Bild malen, auf dem zu sehen ist, wie das, was bei uns als Wertepolitik ins politische Schaufenster gehängt wird, in Wirklichkeit von Lobbys gesteuert wird, die darin Chancen für ihre Produkte sehen. Zu den großen Gewinnern der aktuellen Lage, die auf den ersten Blick so kopflos herbeigeführt wirkt, zählt auf jeden Fall die Atomindustrie.
Selbst wir haben in einer Umfrage zähneknirschend für die Verlängerung der Laufzeit der noch aktiven deutschen Kernkraftwerke gestimmt, weil wir Versorgungsengpässe bzw. Probleme mit der Grundlastsicherheit befürchten, wenn man sie, wie ursprünglich geplant, Ende 2022 abschaltet. Ganz abgesehen von der weiteren rasanten Steigerung der Energiekosten, die auf uns zukommen wird, wenn der Energiemix in der jetzigen Situation zu schnell verändert wird.
Und wir haben uns Gedanken darüber gemacht, warum „Klimakanzlerin“ Angela Merkel und ihr lobbygeneigter Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Energiewende in den Sand gesetzt haben. Dort steckt sie jetzt fest und leider weiß das auch Wladimir Putin. Kurzfristig angelegte Lobbyinteressen siegen über strategische Zukunftspolitik. Und dann ist Krieg und alle bedauern sehr, wie wenig man den Aggressor unter Druck setzen kann, ohne sich selbst massiv zu schädigen. Was dabei herauskommt: klassistische Sparempfehlungen von Wirtschaftsministern, die sich für keine Überheblichkeit zu schade sind, an die Bürger:innen, die diese Art von Politik nicht wollten.
So sehr als billiger Ramsch zeigt sich Politik der Bevölkerung, wenn sie sich so teuer wie möglich an Lobbyist:innen verkauft.
TH