„Von Zögern bis Zinswende“ (OXI) + Kommentar: Die jüngste EZB-Geldpolitik | Briefing 60

Frontpage | Briefing | Geldpolitik ist auch nur ein Ausdruck von Politik gegen die unteren Klassen

Es hängt alles miteinander zusammen. Das gilt insbesondere für die Krisen der Welt. Wirtschaft, Natur, Mensch, Umwelt. Wir werden das demnächst anhand eines Interviews dokumentieren, das ein deutsches Medium mit einem Mann geführt hat, dessen Name vermutlich nicht zufällig ähnlich klingt wie „Houdini“.

Da ist es schon fast kleinteilig, einzelne Verfahren herauszugreifen. Wie zum Beispiel das Verhalten der EZB. Das OXI-Wirtschaftsblog hat. Lesen Sie bitte erst einmal hier: EZB-Geldpolitik: Von Zögern bis Zinswende – OXI Blog

Hinweis: Die in der folgenden Grafik noch gestrichelt eingezeichneten Zinsschritte der Notenbanken sind mittlerweile vollzogen:

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder.  

Was der Verfasser des verlinkten Artikels im Oktober noch nicht wissen konnte. Was er ganz am Ende erwähnt und was wir für besonders wichtig halten, nämlich der Euro-Dollar-Kurs, hat sich mittlerweile sehr wohl erholt. Erholt heißt, man kann froh sein, wenn er sich wieder über die Parität wagt. Gegenwärtig ist der Euro 1,04 Dollar wert. Und das, obwohl die Wirtschaftssaussichten in den USA allgemein als besser gelten als diejenigen der Eurozone, in der, wenn man dem Mainstream glaubt, wirtschaftspolitisch alles falsch gemacht wurde, was man überhaupt falsch machen kann. Besonders in Deutschland.

Die Probleme sind in der Tat beängstigend und wir sind ebenfalls der Meinung, dass man nicht über höhere Zinsen, also eine Einwirkung auf die Nachfrageseite, ein Problem komplett bewältigen kann, das auf der Angebotsseite liegt – wie die gegenwärtige Energiekrise und die durch sie befeuerte Inflation. Aber es ist wichtig, dass der Euro nicht immer weicher wird und nicht allein dadurch die Importpreise ständig steigen. In einer Welt, in der es ein wenig an Nachfrage mangelt, weil eben die Teuerung überall höher ist als die Lohnsteigerungen, weil die Erwartungen dahin gehen, dass dieser Trend anhalten wird, kann man das Nachfrageloch nicht durch günstigere Exportpreise schließen. Vor allem dann nicht, wenn man hautsächlich Produkte für die Industrie herstellt oder hochwertige Waren, die einen relativ stabilen Kundenstamm aufweisen, der von der Inflation gar nicht so betroffen ist bzw. sie weniger spürt als die Mehrheit, aber auch nicht in einen Kaufrausch verfallen wird, weil die Preise für Importware einigermaßen stabil bleiben. Wäre das möglich, könnte man daraus höhere Steuereinnahmen generieren und mehr Spielraum, um wiederum die Inflation aufzufangen.

Und zwar nicht durch Preisobergrenzen, sondern durch Subventionen, wie es in Deutschland jetzt ohnehin gemacht wird. Die Preisobergrenze ist dem Marktliberalen ein Dorn im Auge und die Verwerfungen durch einen Eingriff ins „freie Spiel der Märkte“ durch so was, oh Gott. In der Tat agieren vor allem ärmere Länder mit diesem Instrument, die sich eine Subvention der Verbraucher nicht leisten können. Umgekehrt wird aber ein weiteres Paar Schuhe daraus: Diese Subventionen heizen die Inflation weiter an. Bezüglich der Energiepreise im wörtlichen Sinne. Wie auch immer, in dem Märkte wird also eingegriffen und zwar nach dem aktuellen deutschen Modell zugunsten der Konzerne, die weiterhin hohe Preise erzielen können und erst in zweiter Linie zugunsten von Verbrauchern, deren Mehrkosten ein wenig gedämpft werden. Im Prinzip müsste man auch bei den Nahrungsmitteln etwas tun, denn was dort insbesondere auf dem Billigsektor läuft, ist hochgefährlich für die Existenz ärmerer Menschen. Es gibt fast kein Halten mehr beim Preisauftrieb, gerade bei Produkten, die bisher besonders günstig waren. Uns hat das deshalb schockiert, weil wir gestern wieder einmal überprüft haben, wie man besser fährt: mit regelmäigen Einkäufen beim Discounter oder mit Angebotsjagd bei den höherwertigen Läden. Das Pendel neigt sich immer mehr zu Letzterem, und das ist aufwendig und ab dem Moment, in dem man das Auto zu Einkaufen benutzen muss, ökonomisch weitgehend sinnlos. Oder man kauft riesige Mengen von einzelnen Produkten, falls man darf, tut damit nichts Gutes für die Inflation und verärgert  andere Kunden.

Die Zinsanhebungen der EZB werden auf diesem Gebiet nicht viel bringen, denn die Nachfrage für solche Verbrauchsgüter des Alltags lässt sich kaum dämpfen, ohne dass Menschen Hunger leiden und sie wird, zumindest bisher, nicht durch Kredite finanziert. Innerhalb der gesamten Lieferkette lässt sich vielleicht ein wenig etwas bewegen, aber nicht dort, wo die Nachfrage generiert wird, bei den Verbraucher:innen. Der Preisauftrieb bei den langlebigen Gebrauchsgütern ist ohnehin kaum der Rede wert. Ginge es nur nach den Preisen für Bekleidung und Elektronik, die immer billiger produziert werden können, sodass auch ein niedriger Euro nicht zu explosionsartigen Anstiegen führt,  wäre ein Eingreifen der EZB zum Schutz der Verbraucher gar nicht notwendig. Man könnte also weiterhin günstig Staatsverschuldung betreiben.

Ein Streitpunkt waren die Anleihekäufe der EZB und das TPI-Programm als deren Quasi-Nachfolger. Kontert das TPI nicht die Bemühungen, mit Zinserhöhungen den Euro stabil zu halten? Ist es nicht vielmehr so, dass gerade wegen der steigenden Zinsen dieses Instrument notwendig wird, um die Staatsfinanzierung mancher EU-Länder noch zu sichern, die am freien Markt ihre Anleihen kaum absetzen können? Steigt der Gap für die Refinanzierung der stärkeren Staaten und der schwächeren nicht wieder durch die Zinserhöhungen unmäßig an, wenn man das TPI nicht einsetzt? So sah es allerdings aus und wieder einmal wird klar, dass die Eurozone ein Hemmschuh für eine zielgenaue Geldpolitik ist, die wirklich die Interessen unterschiedlich aufgestellter Ökonomien ausgleichen kann. Ob das besser würde, wenn man, wie in OXI angedeutet, das gelpolitische Mandat der EZB erweitern und zum Beispiel auf die Schaffung eines Arbeitsmarktes mit Vollbeschäftigung ausrichten würde?

Wir halten diesen Ansatz, der in den USA verfolgt wird, zumindest für kritisch. Die Verschuldung dieses Landes ist so hoch, dass der Euro wohl vor allem deshalb nicht komplett durchrutscht, weil die Marktteilnehmer sehr wohl im Blick haben, dass in den USA quasi von einem Nothaushalt zum nächsten regiert wird, und das schon seit Präsident Obamas Zeiten. Dadurch entstehen viel Unsicherheit und stärkere Erpressbarkeit der regierenden Demokraten. Das wird sich nach den Midterms noch verstärken, in denen eines der beiden Häuser des US-Kongresses an die Republikaner gehen wird, die also das, was die Regierung beiden strategisch angehen will, besser blockieren kann als bisher. Wenn man den Schuldenstand außen vor lässt, gibt es keinen Grund, den Dollar nicht stärker zu bewerten, als das aktuell der Fall ist. Die Staatsverschuldung  liegt in den USA höher als in das jährliche BIP, wenn auch nicht so hoch wie in vielen schwächeren Eurostaaten, wo es bis hinauf zu etwa 200 Prozent geht. Steigende Zinsen können eine Inflation dämpfen, wenn das auf der Nachfrageseite möglich ist, tun aber wenig, um ein verknapptes Energieangebot billiger zu machen. Sie bergen jedoch die Gefahr, dass die Wirtschaft auch in den USA abgewürgt wird, Schulden Privater, weniger die des Staates, nicht mehr bedient werden können und die nächste Finanzkrise ins Haus steht. 900 Milliarden Dollar wird der US-Staat wohl nächstes Jahr an Zinsen zahlen müssen, das ist fast das Doppelte eines Bundeshaushalts. Kann er das? Ja, natürlich, in dem er die Notenpresse anwirft, wie das auch die EZB schon seit Langem tut, um den Euro zu retten. Jetzt kommt es darauf an, ob man es wirklich für obsolet hält, dass die Geldmenge sich wiederum auf die Inflation auswirken wird und dadurch die Bemühungen um Inflationsdämpfung durch höhere Zinsen zunichte macht.

Dabei ist viel Psychologie im Spiel. Generell wird der US-Volkswirtschaft eher zugetraut als der europäischen, dass sie die Herausforderungen der nächsten Jahre meistert, das ist auch nichts Neues. Diesem Vertrauen der Märkte stellt die EZB das Motto: Wir kaufen alles, was notwendig ist, entgegen. Wir garantieren den Gläubigern des Staates also, dass ihre Investitionen nicht abschreiben müssen. Was ist wohl die bessere Aufstellung? Die amerikanische natürlich, denn eine Wirtschaft, die immer wieder zulegen kann, ist auch in der Lage, den Märkten den Glauben an die Schuldenbedienung zu erhalten. Anders könnte es allerdings auf dem privaten Sektor aussehen, und da fing 2008 die Finanzkrise an. Da wird sie möglicherweise auch beim nächsten Mal ihren Ausgang nehmen. In Europa finanziert die EZB auch größere Unternehmen durch, indem sie deren Schuldpapier ebenfalls kauft oder gekauft hat. In den USA wird das nur in Notzeiten gemacht, wie eben nach der Bankenkrise, die sogar zu Verstaatlichungen geführt hat. Demgemäß hat die US-Regierung derzeit noch ein Instrument zur Verfügung oder in Reserve, das in Europa längst ausgelutscht ist, nämlich, dass die Notenbank sogar Unternehmen direkt stützt. Neben den Problemen mit dem Euro, die in den USA keinen Vergleich kennen, ist das ein weiterer Grund, warum die EZB viel defensiver ist, wenn es um Zinserhöhungen geht. Geht man hier zu hart vor,  kann man eine Spirale in Gang setzen, die den gesamten Euroraum und damit das europäische Projekt zerstört.

Was uns das letztlich sagt: Dieses Projekt ist in seiner gegenwärtigen Form eine Fehlkonstruktion, die ein kraftvolles Gegensteuern gegen die Unbilden der Zeit erheblich erschwert. Deutschland kann sich aufgrund seines robusten Arbeitsmarktes sogar eine Rezession leisten, daran ist im Süden nicht zu denken. Dass mit dem bisherigen Vorgehen hingegen die Vermögen der Private in Deutschland jetzt nicht nur mit Minuszinsen minimiert werden, sondern auch noch weginflationiert – tja, ein wenig muss man schon was für den europäischen Geist opfern. Wenn man noch kann.

Wenn man noch Reserven hat. Die Wahrheit ist: Im Grunde müsste man alle Verträge, die mit der Währungsunion zu tun haben, so ändern, dass dieses Projekt krisenfester wird. Die jetzige Aufstellung ist viel zu sehr von altem Einhegungsdenken  geprägt, mithin von der Idee Frnakreichs, wie man  Deutschland am Zügel halten könnte. Kanzler Schröder hat gezeigt, dass man diese Idee gegen ihre Urheber wenden kann, indem er die Lohnkosten in Deutschland relativ zu denen andere Länder immer mehr verbilligt hatte.

Warum nicht lieber das Mandat der EZB flexibler gestalten, das ursprünglich an der Konstitution der Bundesbank orientiert war, aber in der Praxis nun kaum noch diesem Vorbild ähnelt, anstatt durch immer weitere Vertiefungen an der falschen Stelle die Bevölkerung weiter in die Verarmung zu treibe und nie eine Geldpolitik machen zu können, die beherzt und seriös gleichermaßen wirken kann?

Allerdings sollte man nicht so tun, als ob in Deutschland die Wirtschaft noch eine vernünftige Gesamtbasis hätte. Derzeit brechen die Bauaufträge ein, dem Immobilienmarkt droht das gleiche Schicksal. Warum? Weil es eben zu lange billiges Geld gab, das die Blase immer größer werden ließ. Vielleicht hat die Geldmenge ja doch etwas mit dem Wert des Geldes zu tun? Denn Vermögenszuwächse bringt z. B. ein Hype auf einem Gebiet  nur, wenn die allgemeine Inflation niedrig bleibt und nicht Wertzuwächse bei Wertpapieren oder Immobilien konsumiert. Mit etwas Pech für die Investoren und zur sicher nicht geringen diebischen Freude derer, die von diesen Investoren geplagt wurden, könnte nun eine genau gegenteilige Entwicklung eintreten: Sinkende Marktpreise bei hoher Inflation. Darin läge sogar eine gewisse Gerechtigkeit. Zahlen muss es aber am Ende die Allgemeinheit, wie wir in der Bankenkrise 2009 gesehen haben. Sie wird de Löcher stopfen müssen, die durch das Zusammenbrechen der Spekulationen der letzten Jahre, die auch durch die lockere EZB-Politik befördert wurden, entstehen werden. Ob es so kommt, ist kaum noch die Frage, sondern eher, wann der Zeitpunkt erreicht ist. Das kann so schnell gehen, wenn mehrere Krisen zusammenwirken und es wird härter werden als das, was die meisten von uns gar nicht bemerkt haben, wenn sie nicht „investiert“ waren, nämlich die Krise von 2008-2009. Die EZB ist dafür denkbar schlecht gerüstet, denn „whatever it takes“ kann dann zu einer veritablen Hyperinflation bei gleichzeitigem Schrumpfen der Vermögenswerte führen.

Haben wir schon erwähnt, dass „Tax the Rich“ auch deshalb so wichtig ist? Jetzt Geld für die Bewahrung des wirtschaftlichen Gleichgewichts von den Krisengewinnern abzuschöpfen, bevor es doch noch in Schall und Rauch aufgeht oder nur noch aus Werten besteht, die zwar ebenfalls virtuell, aber doch vergleichsweise krisensicher sind? Jedes Zögern auf diesem Gebiet ist unverantwortlich und man könnte sich manchen finanzpolitischen Kopfstand sparen, wenn man endlich aufhören würde, die Reichen noch reicher zu machen. Denn das ist letztlich die Essenz aller Anstrengungen seit vielen Jahren. Dafür zu sorgen, dass die keinen Schaden nehmen, die sowieso im Überfluss leben. Demgegenüber nehmen sich auch die aktuelle Investitionen in die Sicherung der Mehrheit gegen zu große Preissteigerungen klein aus. Und so muss man ein gerechteres Steuersystem auch begründen: Was hier wenige Personen einstreichen, ohne etwas dafür getan zu haben, reicht locker aus, um auch in diesen Krisenzeiten die Lage zu stabilisieren, ohne Gefahren aller Art durch jede geldpolitische Entscheidung. Die Probleme mit der Geldpolitik sind ein Ausfluss des Unwillens, endlich etwas gegen die Ungleichheit zu tun und dafür auch die Wurzel des Übels anzupacken.

TH

Briefing 59 (hier zu Nr. 58)

Liebe Leser:innen, werfen wir nach den „Midterms“ einen kurzen Blick auf die USA. Die prägnanteste Persönlichkeit, die das Land in den letzten Jahren hervorgebracht hat, ist ganz sicher Donald Trump. Einige meinen, es sei Elon Musk, aber der ist, streng genommen, kein Amerikaner. Wir können in Europa Trumps Erfolg teilweise nur schwer nachvollziehen, aber schauen wir uns eine interessante Grafik an.

Vorausgeschickt sei, dass in den Vereinigten Staaten das Trump-O-Meter mittlerweile offenbar das Thermometer ersetzt hat und mit ihm eine Synthese aus dem deutschen Wahl-O-Mat gebildet hat. Nun ja, fast. Jedenfalls wird die Zustimmung der Republikaner seit einigen Jahren in Trump-Temperaturwerten gemessen, die eben nicht an Sachfragen orientiert zu sein scheint. Die deutsche Variante ist also eher das Politbarometer, es hat ja auch mehr mit der gefühlten politischen Wetterlage als dem mühsamen Abarbeiten von Themen und Positionen zu tun. Zunächst aber zur Grafik:

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Gestern hat Donald Trump seine erneute Kandidatur für das Amt des US-Präsidenten angekündigt. Ob er sich bei den parteiinternen Vorwahlen durchsetzen kann, ist indes derzeit nicht sicher. Während zahlreiche Trump-Kandidaten bei den Midterms scheiterten, fuhr sein innerparteilicher Konkurrent, Ron DeSantis, bei den Gouverneurswahlen in Florida einen souveränen Sieg ein. Und auch unter den Anhänger:innen der Republikaner ist die Begeisterung für Trump zuletzt rückläufig gewesen. Das zeigt etwa eine Erhebung des Pew Research Centers bei der die Teilnehmer:innen gebeten wurden, ihre Gefühle für Donald Trump auf einer Temperaturskala einzuordnen. 41 derjenigen, die sich (eher) als Republikaner:innen bezeichnen entschieden sich für die Antwortoption „sehr warm“ – bei früheren Umfragen waren es deutlich mehr. Gleichzeitig bringen deutlich mehr befrate dem Ex-Präsidenten eher kühlere Emotionen entgegen.

Nun halten wir fest: Ganz die Werte wie während einer offensichtlichen Trump-Mania, als der Präsidentschaftswahlkampf 2020 startete, erreicht The Donald nicht mehr, aber 41 + 19 Prozent, die es in Trumps ähe vor lauter innerer Hitze kaum aushalten oder wenigstens keine teure Gasheizung brauchen, ist das etwa nichts? Was wir anhand der Grafik nicht sehen: Wie sich das schlechte Abschneiden von Trumps Zöglingen und der Republikaner im Allgemeinen bei den Midterms vor einer Woche auf diese Temperaturempfindung der Republikaner:innen ausgewirkt hat. Durchaus möglich, dass das eine oder andere Feuerchen für Trump erloschen ist. Denn gerade in einem Land wie den USA zählt vor allem eines: Nichts wärmt so sehr wie der Erfolg. Und der hat Trump nun einmal durch die Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen verlassen.

Dass er als Mensch unmöglich, übergriffig, narzisstisch, unehrlich, unberechenbar und andauernd in irgendwelche Finanzaffären verstrickt, kümmert in den USA hingegen kaum jemanden, solange: der Erfolg, Stupid! In Deutschland setzt sich dieser Typ Politiker ja auch immer mehr durch, aber so krass wie mit Real Donald Trump ist es bisher zum Glück noch nicht. Nun misst aber die Temperatur, die Wärme, die man für jemanden empfindet, doch nicht den Erfolg, zumindest suggeriert diese Art von Messung das, sondern ein persönliches Gefühl. Manchmal beschleicht uns der Eindruck, dass hierzulande über Trumpf falsch berichtet wird, zumindest teilweise. Denn wieso empfinden ihn so viele Menschen dort nicht nur als Politiker mit den richtigen Ansichten, sondenr offenbar auch richtig sympathisch? Bevor man jetzt auf die schiefe Bahn kommt, muss man sich vergegenwärtigen, dass Ansichten und Eigenschaften nicht ohne weiteres voneinander zu trennen sind und Doppelmoral = gar keine Moral ist. Sich sozusagen neutralisiert. Häufig jedenfalls. 

Was wir für ethisch und sympathisch halten ist außerdem nicht unbedingt das, was wir von Politiker:innen erwarten, die unsere Interssen durchsetzen sollen. Einige hätten sie gerne, jene eierlegende Wollmilchsau (es sei denn, es sind Veganer), aber die gibt es nun einmal nicht. Manchmal kommt ein sehr freundliches Gehabe mit einer in Wirlichkeit äußerst druckvollen Politik zusammen, aber nicht so häufig, weil die Medien schon dafür sorgen, dass das eine oder das andere in die Kritik gerät, sodass jemand schließlich doch kenntlich wird. Es ist nicht mehr so leicht wie früher, Camouflage zu betreiben und man sagt dem modernen Medienbetrieb ja auch nach, dass er die Demokratie eben deshalb fördert. Bei Trump war das aber nie so. Man musste von Beginn an, mit wem man es zu tun hat und es hat funktioniert. Abgesehen davon, dass er nach Stimmenzahl schon die Wahl 2016 nicht gewonnen hat, trotz einer Gegnerin, die wirklich ein Biest war und vielleicht die Nieerlage auch verdient hatte. Bzw. die Demokraten hatten die Niederlage verdient, weil sie Bernie Sanders ausgebootet hatten. 

Wenn man verstehen will, wie ein Präsident Trump überhaupt möglich werden konnte, muss man eben wissen, dass ganz viele Menschen in den USA für ihn Sympathie und Verehrung empfinden, nicht nur eine Übereinstimmung mit seinen Positionen. Man kann die Gesellschaft dort dafür ausschimpfen, dass sie solch einen Mann toll findet, man kann über das Country fliegen und froh sein, an den Küsten eher auf jene zu treffen, die nicht so viel mit ihm anfangen können, aber es nützt ja nichts: Sie stellen nur eine Hälfte der USA dar, falls es überhaupt die Hälfte ist. Sie beherrschen die Meinung. Die Ostküsten-Elite, einerseits, das liberale Kalifornien mit Hollywood als Wahrnehmungszentrum sind meinungsstark wie sonst keine Cluster auf der Welt und etwas mehr linksliberal als der Rest des Landes, aber gegen diese Meinungsführer:innen ist Trump im Primzip auch angetreten, als Anwalt oder Sachwalter derer, die im gesellschaftlichen Diskrus nicht viel zu melden haben, aber geografisch gesehen, flächenmäßig, den größten Teil der USA beherrschen. Vielleicht ist Vorstellung, die wir uns von einem Land machen, das überwiegend von Rednecks bewohnt wird, auch ein wenig zu sehr vom Wunsch nach Grusel erfüllt, aber ist das, was wir sehen, diese Dualität, wirklich auch eine Spaltung? Udn vor allem, ist es mehr eine Spaltung heute, als es früher der Fall war? Und wieder beschleicht uns das Gefühl, es wird medial mit Zitronen gehandelt.

Der Druck, jeden Dissens durch Sprachverwendung glattzubügeln, ist heute so groß geworden, dass er umso mehr aufallen muss, wenn Menschen sich diesem Trail zur Selbstoptimierung nicht anschließen wollen. Sicher ist die Gesellschaft in den USA heute verfestigter als in den legendären Pionierjahren, in denen alles in Bewegung zu sein schien, aber eine hohe Durchlässigkeit besteht nach wie vor, wie man auch an der Verschiebung der Herkunftsnationalitäten der Einwohner sieht, die nach wie vor beachtlich groß ist. Aber Trump erfährt wohl etwas wie Dankbarkeit von all jenen, die sich missachtet und marginalisiert, nicht respektiert gefühlt haben. Dabei kommt ihm zugute, dass er selbst zwar auch zu den Reichen gehört, aber nicht zur Elite. Das wird immer zu sehr gleichgesetzt, aber Geld und politischer Einfluss sind auch in den USA nicht immer gleich verteilt. Am besten, man hat beides, aber Trump hat es geschafft, den Eindruck zu erwecken, als sei seine Person gespalten in einen erfolgreichen Unternehmer und eine Person, die nichts mit der Ostküstenelite zu tun hat. Auch das stimmt natürlich nicht, aber ganz falsch ist es auch nicht. Trump ist zum Beispiel kein WASP, und diese Zugehörigkeit zur uralten Elite zählt immer noch, in einem Land, das einst sämtliche Einflussnehmer in den Neuenglandstaaten versammelt wusste. Nun sollte man einmal feststellen, wie diejenigen, die sich an Trumps Wesen wärmen, soziologisch und herkunftsseitig verortet sind. Dann wird man wohl überwiegend auf Nichtangehörige der alten Elite angelsächsischer Herkunft stoßen, die aber doch im Land schon länger etablier sind und glauben, dass sie trotzdem zu wenig dazugehören. Je mehr Einwanderer sich etablieren, aber nicht zu den Eliten zählen und sich gerade deshalb nach unten abgrenzen möchten, je konservativer diese Neuankömmlinge sind oder werden, desto mehr werden Trumps Politik und sogar sein Stil mehrheitsfähig bleiben. Im Prinzip war das das sogar meistens so, während der fast 250-jährigen Geschichte der USA.

Wir sind in Europa zu sehr geprägt von den Epochen der Roosevelts und Kennedys, die, in Verbindung mit gutem Marketing, die USA haben als Demokratie glänzender wirken lassen, als sie sind. Gerade die wenigen Kennedy-Jahre haben bis heute einen tiefen Eindruck hinterlassen. Was wir im Moment sehen, ist also auch eine Rückkehr zu den Wurzeln eines Landes, in dem Mitleid und Solidarität und Kooperation mit dem Rest der Welt auf Augenhöhe einen relativ geringen Stellenwert haben.

Deshalb wird heute, anders als während des Vietnamkrieges, als es auch ums Prinzip ging, die Außenpolitik kaum hinterfragt, es sei denn, sie fordert zu viele amerikanische Todesopfer. Und gerade da hat Trump etwas vollbracht, was ihm viele wohl hoch anrechnen: Er hat auf den Tisch gehauen und sein „America first“ nach deren Ansicht glaubwürdig vertreten, ohne einen neuen Krieg anzufangen. Dass versierte Staatenlenker und Strategen sich über Trumps Rumpelstilzchenstil wohl heimlich lustig gemacht haben, mag sein, aber die USA sind immer noch stark genug, dass man sich nicht offen mit ihnen anlegt und davon hat Trump profitiert, obwohl sein Auftreten aus der Zeit gefallen schien.

Selbst das trifft aber nicht zu, denn Typen, die den starken Max markieren, sind sehr in Mode. Bei uns zum Beispiel regt sich die Presse darüber auf, dass Kanzler Scholz kein solcher Typ ist. Das ist Ihnen sicher schon aufgefallen.

Wer immer auf den alten Joe Biden folgen wird, es wird wohl wieder rauer zugehen im Verhältnis zwischen den USA und den anderen. Es sei denn, ein:e wirklich linke:r Kandidat:in würde auftauchen und die Herzen der Menschen wärmen, die sich vielleicht irgendwann doch einmal nach mehr Ethik sehnen und der ewigen Gewalt in allen Dingen müde sind.

Aber das glaubt doch, ehrlich geschrieben, niemand. Wir halten deshalb das nächste Präsidentschaftswahlrennen für vollkommen offen. Und dabei haben wir noch nicht besprochen, dass die Amerikaner wirtschaftlich nicht so opferbereit sind wie zum Beispiel die Menschen in Deutschland. Vieles wird von recht simplen Dingen abhängen, hieß es vor den Midterms. Und dann hat der Benzinpreis doch, welch Überraschung, nicht über alle anderen Themen dominiert. Einige haben sogar verstanden, dass Präsident Biden ihn nicht mutwillig in die Höhe getrieben hat, um seine Landsleute zu ärgern und Amerika klein zu machen, wie die Trumpisten es behauptet haben. Ob Trump selbst wieder für Hitzewallungen in aller Welt sorgen wird oder die Flamme weitergibt, wir müssen uns darauf einstellen, dass fischiges Wesen in den meisten Ländern nicht zieht, weil es eben nicht lodert und glimmt. Das Waterkantige deutscher Scholz-Prägung wird wohl dann zu seiner Renaissance finden, wenn die Menschen merken, dass etwas mehr Kühlung in einer überhitzten Welt nottut

TH

Briefing 58 (hier zu Nr. 57)

Ob wir heute wirklich acht Milliarden geworden sind, wissen wir nicht. Es ist nur eine Kalkulation der UNO, die den 15.11.2022 als den Tag festlegt, an dem es auf der Erde acht Milliarden Menschen gibt.

Tendenz weiterhin steigend, trotz weltweit sinkender Geburtenraten. Weltweit? Es gibt eine Ausnahme, und die macht den Unterschied. Denn in schieren Zahlen ist auch eine sich prozentual abschwächende Zunahme der Population immer noch gewaltig. Je länger die Entwicklung vorausgedacht wird, desto ungenauer werden diese Prognosen selbstredend. Es gibt viele Ereignisse, welche die Bevölkerungsentwicklung bremsen könnten, die Unwägbarkeiten wachsen.

Infografik: Weltbevölkerung erreicht die 8-Milliarden-Marke | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die Zahl der Menschen auf der Welt übersteigt nach UN-Berechnungen in etwa morgen die Schwelle von acht Milliarden. Das sind mehr als dreimal so viele wie noch 1950. Da es unmöglich sei, den Überblick über hunderttausende Geburten und Todesfälle pro Tag zu behalten, haben die Vereinten Nationen die Monatsmitte für den Menschheits-Meilenstein ausgewählt.

Laut Prognose der UN Population Division wird die Weltbevölkerung im Jahr 2059 bereits die Zehn-Milliarden-Marke überschreiten. Zum Ende des Jahrhunderts wird die Zahl dann jedoch leicht zurückgehen. Das Wachstum der Weltbevölkerung verlangsamt sich bereits seit Jahrzehnten, wie die gelbe Linie in der Grafik veranschaulicht.

Das Wachstum liegt laut UN-Experten am allmählichen Anstieg der Lebenserwartung in Folge von Verbesserungen im Gesundheitswesen, der Ernährung, der persönlichen Hygiene und in der Medizin. Es sei zudem auch das Ergebnis von hohen und beständigen Geburtenraten in einigen Ländern. Die Länder mit der größten Bevölkerung 2022 sind China (1,41 Milliarden Einwohner), Indien (1,41 Milliarden Einwohner) und die USA (333 Millionen Einwohner). Bezogen auf die Bevölkerung nach Kontinenten leben Mitte des Jahres 2021 rund 59,3 Prozent der Menschen in Asien.

Momentan wächst die Weltbevölkerung jährlich um rund 82,4 Millionen Menschen. Die Länder mit dem höchsten Bevölkerungswachstum im Jahr 2021 waren Syrien, der Niger und Äquatorialguinea, insgesamt wird das Ranking von afrikanischen Staaten dominiert. In der Liste der Länder mit dem höchsten Bevölkerungsrückgang dominieren hingegen ost- und südosteuropäische Staaten, die aufgrund des Lohn- und Entwicklungsgefälles zu Westeuropa mit hohen Auswanderungszahlen zu kämpfen haben.

Weit vor dem Jahr 2100 wird also nach der mittleren Prognose in dieser sehr anschaulichen Grafik das Bevölkerungswachstum zum Erliegen kommen. Sollte man schreiben: hoffentlich! Es gibt unterschiedliche Ansichten dazu, wie viele Menschen der Globus vertragen kann. Eine fanden wir besonders schick: Da ist noch viel Platz, die Reichen müssen nur mal aufhören, solche riesigen ökologischen Fußabdrücke zu hinterlassen. Haben Sie den Eindruck, dass die Politik etwas Wesentliches tut, um eine Gegenbewegung zu erzeugen?

Im Gegenteil, die Ungleichheit wächst immer weiter und dieser klar belegbare Trend, nicht eine weitere Zunahme der Bevölkerung an sich, lässt ein weiteres Ansteigen des Überdrucks an jungen Menschen in armen Ländern zu einer Gefahr werden, weil sie in ihrem Lebensraum keine Lebensgrundlage mehr finden. Die Klimakrise wird ein Übriges tun, um Wanderungsbewegungen zu beschleunigen, die wir längst sehen. Bis zu einer gewissen Grenze kann man das ausgleichen, indem man Menschen aus diesen Ländern aufnimmt, aber natürlich nicht in dem Maße, in dem die Bevölkerung speziell in Afrika ansteigt. Eine Zangenbewegung aus anhaltend hoher Fertilität und immer weniger bewohnbarem und dem Ackerbau zugänglichen Territorium in Ländern, in denen die meisten Menschen zu den Ärmsten weltweit zählen, kann eine erhebliche global destabilisierende Wirkung haben. Zusammenrücken muss, wenn dieser Trend anhält, die Mehrheitsgesellschaft in Ländern, in denen die Mehrheitsgesellschaft ebenfalls nicht mehr wohlständiger wird, nicht die Reichen werden etwas abgeben müssen. Neben dem humanistischen Aspekt ist immer auch der  klassenpolitische zu bedenken.

(Noch) mehr Ungleichheit senkt, mehr Gerechtigkeit erhöht die Aufnahmefreundlichkeit der Mehrheit, die für eine gelungene Weiterentwicklung unter Einschluss von Immigrant:innen benötigt wird, davon sind wir überzeugt. Es geht aber auch darum, den globalen Süden selbst, „vor Ort“, besserzustellen, in der Regel wächst mit einer gut organisierten, am Prinzip der Solidarität orientierten Entwicklungs- und Handelspolitik nicht nur der Wohlstand derer, die nicht zu einer kleinen, korrupten Oberschicht gehören, auch die Geburtenrate sinkt in der Regel, wenn die allgemeinen Lebenschancen sich verbessern. Das ist nicht paradox, sondern folgt dem Prinzip, dass viele die eigene Existenz erhaltende Aufgaben, das Abfangen von Wechselfällen des Lebens, an starke Institutionen übertragen werden können, wenn die Infrastruktur sich verbessert; Aufgaben kommunalisiert werden, die man, auf sich allein gestellt, nur durch eine große Familie zu bewältigen können glaubt.

Auch wenn es möglich ist, durch besseres Management und eine nachhaltige Energiewirtschaft die ökologischen Folgen eines weiteren Bevölkerungsanstiegs zu mindern, würden wir es begrüßen, wenn die Weltbevölkerung tatsächlich gemäß der (in etwa) mittleren Prognose auf ein harmonisches, nicht durch Kriege und Krisen, sondern durch eine Steigerung der individuellen Perspektiven hervorgerufenes Abflachen der Zunahme einschwenken würde. Nicht nur die prozentuale Steigerung, auch die Zuwachszahlen müssen sinken, wenn etwas Druck aus dem ökologisch-ökonomischen Kessel weichen soll. Eine harmonische Entwicklung wäre zum Beispiel eine, die nicht dazu führt, dass immer mehr Menschen heimatlos werden und sich um die Kerne großer Städte auf verschiedenen Kontinenten herum riesige Slums bilden, in denen kein geordneter Existenzaufbau möglich ist.

Ein Denken und Handeln der Verantwortlichen, bei dem die Lebensqualität für die Weltbevölkerung in den Vordergrund rückt, tut dringend not. Gerade in Zeiten, in denen es auch bei uns für die Mehrheit nicht mehr vorangeht und teuer Erkämpftes mit mehr Verve verteidigt werden muss als bisher. Die persönliche Solidarität muss immer begleitet sein von Fragen und Mahnungen an die Politik. Wenn man Letzteres unterlässt, hat man irgendwann nicht mehr die Kapazität, um Ersteres auf menschenwürdigem Niveau zu leisten.

TH

Briefing 57 (hier zu Nr. 56)

Ganz sicher haben wir noch nie über ein Sportereignis so kritisch berichtet wie über die Fußball-WM in Katar. Nicht die Leistungen deutscher Mannschaften betreffend, nicht mit Blick auf das Doping, das wir für das größte immanente Problem im Sport halten, sondern wegen der Ausrichtung der WM in einem Land, das in keiner Hinsicht die Anforderungen an einen Standort erfüllt, der mit einem solchen Großereignis bedacht werden sollte. Hier unsere bisherigen Artikel:

Diese WM als sportpolitisches No-Go, das ist natürlich unsere Sicht, und die ist nicht kommerziell ausgerichtet. Ein Geschäft wird auch diese WM werden, für viele Seiten. Außerdem kann man sie sich schönreden. Zugegeben, in Deutschland herrscht diesbezüglich ein gewisser Realismus vor. Nur eine Minderheit würde die WM boykottieren wollen wegen der Menschenrechtslage in Katar, und, wie wir gleich sehen werden, nur eine Minderheit glaubt, dass sich zugunsten der Menschen dort durch die WM etwas verbessern wird:  

Infografik: WM-Effekt: 1/5 der Deutschen glaubt an ein toleranteres Katar | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Nur 20 Prozent der für den Statista Global Consumer Survey in Deutschland befragten Menschen sind der Meinung, dass Katar durch die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft toleranter wird. Ein homophober Ausfall des katarische WM-Botschafters und und früheren Fußball-Nationalspielers Khalid Salman scheint diese Befürchtungen zu bestätigten. Salman hatte in einem Interview in der ZDF-Dokumentation „Geheimsache Katar“ Homosexualität als „geistigen Schaden“ bezeichnet. Statements wie dieses dürften nicht dazu beitragen, die internationale Reputation des Emirats zu verbessern. Dass die FIFA-WM einen solchen Effekt habe könnte, glaubten aber auch schon vor Bekanntwerden des Vorfalls nur 19 Prozent der Befragten.

Diejenigen, die glauben, die Menschenrechtslage in Katar würde sich durch die WM verbessern, dürften anteilsmäßig, nicht unbedingt in Form derselben Menge, in etwa mit jenen übereinstimmen, die an den Weihnachtsmann oder wahlweise daran glauben, dass Wladimir Putin ein guter Mensch ist, der leider aufgrund der aussichtslosen historischen Lage, in der sich sein Land befindet, gezwungen wurde, die Ukraine anzugreifen. Wir haben anhand unseres Briefings 55, das sich mit der Revolution im Iran befasst, nicht zum ersten Mal darauf hingewiesen, dass solche Ereignisse eher bestehende Regime stärken und damit auch deren repressive Tendenzen, als dass sie zu Veränderungen führen. Der Nationalstolz wird geweckt, wenn ein so kleines Land eine Fußball-WM ausrichtet, zumindest der Stolz jener, die in so einem kleinen Land etwas zu sagen haben, also der einheimischen, ölgetriebenen Oberschicht. Interessanterweise haben Sanktionen eine ähnliche stabilisierende Wirkung wie dieses Pushing, nur ist der Spin der Herrschenden eben ein andere. Einerseits: seht her, die Welt erkennt uns an und begrüßt unseren Weg. Andererseits: Seht, wie die Welt mit uns umgeht und uns ungerecht behandelt, weil wir unseren eigenen Weg gehen, da müssen wir nun, koste es, was es wolle, den Widerstand aufrechterhalten. Kuba ist wohl das exemplarische Land für letztere Variante. Im Grunde wäre, sofern es nicht um geopolitisch überragende Länder und Vorgänge geht, Neutralität, gerne auch Missachtung, die beste Variante, also weder Anhebung noch Niederdrückung. Die Effekte beider Eingriffe sind kaum vorhersehbar und Interventionen haben schon sehr oft zu ganz und gar unerwünschten Ergebnissen geführt. Es sei denn, man denkt immer um die Ecke und deklariert das, was auf den ersten und sogar auf den zweiten Blick unerwünscht scheint, um Gegenteil, wie die Verschwörungstheoretiker das gerne tun. In Katar aber geht die Weltgemeinschaft sehenden Auges mal wieder in den moralischen Bankrott, das ist das Problem, besonders für die Demokratien. Zum Glück können sie es in diesem Fall weitgehend auf die FIFA schieben, denn es war ja keine supranationale Entscheidung, Katar eine Fußball-WM ausrichten zu lassen.

Wirklich nicht? In der FIFA sitzen viele vor allem alte weiße Männer, welche die Interessen der nationalen Fußballverbände vertreten und der Sport ist oft sehr eng mit der Regierungspolitik verbunden. In manchen Ländern, wo der Sport mehr dem nationalen Prestige dient als bei uns, etwas enger als hierzulande. Dennoch, uns ist nicht bekannt, dass aus der hiesigen Politik sehr viele kritische Stimmen zu Katar gekommen sind. Außerdem ist der Fußball ein Riesengeschäft, mehr als fast alle anderen Sportarten. Mehr als alle anderen, wenn man die speziell in den USA favorisierten Event-Mannschaftssporte wie Baseball, Basketball und American Football extrahiert. Was damit passiert, hat aber nicht den weltweiten Signalwert wie Olympische Spiele als das Hauptereignis des Sports oder, wie an zweiter Stelle, die Weltmeisterschaften in einer Sportart, die fast überall auf der Erde die Nr. 1 ist und in manchen Ländern sogar identitätsbildend. Wir erinnern uns noch gut daran, wie es in Brasilien angesichts des Titelgewinns von 1994 hieß: Bei uns ist zwar gerade alles ziemlich Scheiße, aber, gottlob, der Fußball! Ob diese Einstellung ebenso schädlich ist wie die politische Instrumentalisierung der Religion, sei dahingestellt, aber es handelt sich ja auch um eine Art Religion für die Massen – und um ein Konsumprodukt. Beides zusammen sorgt dafür, dass nicht groß hinterfragt wird, ob es wirklich angängig ist, eine Fußball-WM in Katar durchzuführen.

Manchmal geht es auch ein wenig ins Lächerliche. Sorry, dass wir das so empfinden:

Reise beginnt: Fußball-Nationalmannschaft auf dem Weg zur WM | WEB.DE

#Fanhansa #DiversityWins.

Ist das nur naiv oder Marketing, verbunden mit Selbstbeweihräucherung? Schon die Funktion des Fußballs als Förderer der Diversität wurde häufig genug kritisch hinterfragt, aber in dem hier gegebenen Rahmen dürfte das Ganze eher eine Beruhigungspille für die deutschen Aktiven und ihren Trainerstab sein. Und natürlich für den DFB als größten Einzelverband innerhalb der FIFA. Haben Sie mitbekommen, dass man den Dänen verboten hat, mit einem Diversity-Look der Trikots aufzulaufen? Dabei hat die WM noch gar nicht angefangen. Für uns ist sie, das Angucken von Spielen betreffend, bereits zu Ende. Wir hoffen trotzdem, dass #DiversityWins nicht deshalb ins Negative gedreht werden kann, weil die deutsche Mannschaft z. B. vorzeitig aus dem Utnier fliegt. Jetzt merken Sie mal, was geschicktes Markteing ist. Man drückt die Daumen mehr, als man es eigentlich vorhatte.

Wir denken trotzdem darüber nach, die einzige bisher postulierte Ausnahme von der Abstinenz zu streichen, nämlich eine Endspielteilnahme der deutschen Mannschaft. Um ehrlich zu sein, diese Statement-Politik ist uns zu affig. Besser vielleicht, als weiterhin ein Klima aufrechtzuerhalten, in dem sich Sportler nicht outen können, aber gibt es da nicht auch immer noch eine Diskrepanz? Es bewegt sich ein bisschen was. Aber nur, weil mutige Einzelpersonen vorangehen, nicht, weil in den Vereinen aus Überzeugung an mehr Akzeptanz aller geschlechtlichen Ausrichtungen gearbeitet wird.

Wir erwähnen das deshalb wegen des Eklats, den auch Statista nicht unerwähnt lässt und zu dem wir im Briefing 54 einen Artikel verlinkt haben. Wenn es nicht immer mehr Länder geben würde, die genau in die falsche, intolerante, antidiverse Richtung tendieren würden, könnte man ja noch sagen: es ist das Bohren dicker Bretter. Irgendwann werden alle gleich behandelt und glücklich sein. Aber gerade jetzt, wo so viele Staaten Probleme damit zeigen, die Qualität ihrer Demokratien aufrechtzuerhalten, ist es umso wichtiger, Katar auch als Symbol für eine ziemlich große Leichtfertigkeit in dieser Hinsicht anzusehen und nicht als kleinen Betriebsunfall in der im Ganzen großartigen Geschichte der Vergabe sportlicher Großereignisse.

Noch ein unerlässlicher Absatz zur Verbesserung derMenschenrechte durch Sport: Wo fanden 1936 die Olympischen Sommerspiele statt? Wurde es nach diesem Schaufenster-Event in jenem Land, in dem sie ausgerichtet wurden, besser oder schlechter mit den Menschenrechten? Hatte es langfristig positive Auswirkungen, dass die USA erstmals in der Geschichte der Spiele mit einem Boykott drohten, wenn für das Gastgeberland keine jüdischen Sportler:innen starten dürfen? Worauf hin dies geändert wurde. Wir kennen den weiteren Verlauf der Geschichte. Sport macht sehr selten nachhaltige Politik im positiven Sinne. In der Regel kann er nur davor bewahrt werden, von rigiden Regimen als Booster für ihre Reputation missbraucht zu werden. Das hat die FIFA nicht interessiert, als sie die Spiele nach Katar vergab. Deswegen werden wir uns auch mit der FIFA in einer weiteren Fortsetzung dieser Beitragsreihe etwas mehr befassen.

TH

Briefing 56 (hier zu Nr. 55, „Frauen, Leben, Freiheit“)

Dieser Beitrag ist eine Fortsetzung des Briefings 54 zur Fußball-WM in Katar. Heute stellen wir eine Petition vor, die sich mit dem Fußballereignis des Jahres inhaltlich auseinandersetzt und zum Boykott aufruft. Viel dazu erklären müssen wir nicht mehr, es ergibt sich aus den bisherigen Artikeln, dass wir diesen Aufruf unterstützen und bereits unterschrieben haben.

Da wir den Aufruf als Fotografie abgebildet haben, hier der Link zur Unterschrift:

 

 

Da wir den Aufruf als Fotografie abgebildet haben, hier noch einmal der Link zur Unterschrift

Auf ein Argument möchten wir noch kurz eingehen, weil es bisher in unserer Katar-Berichterstattung nicht besprochen wurde: Der Sport als Motor für Verbesserungen der Menschenrechtslage in einem Land. Das ist leider kompletter Unsinn. Wurden in China oder Russland die Menschenrechte nach sportlichen Großereignissen der letzten Jahre mehr berücksichtigt? Verbesserte sich die Pressefreiheit? Im Gegenteil. Eher liegt der Verdacht nah, dass autoritäre Staaten den Gewinn an Renommee, den sie durch solche Ereignisse erzielen, ausnutzen, um im Inneren noch rigider zu werden und, im Fall dieser Imperien, sich nicht davon abhalten lassen, nach außen immer aggressiver aufzutreten. Selbstverständlich gilt diese Ignoranz von Fairplay geopolitisch auch für westliche Staaten, aber die Menschenrechtslage ist allgemein doch (immer noch, mit Tendenz in Richtung „es wird schwieriger“) um entscheidende Stufen besser. Wenn man die Maßstäbe ganz eng setzen würde, dürften höchsten noch in Skandinavien internationale Sportveranstaltungen ausgetragen werden. Deswegen muss man eine Grenzziehung vornehmen, die sogenannte vollständige Demokratien einschließt und als berechtigt und befähigt zur Ausrichtung von Ereignissen der gegebenen Größenordnung deklariert.

Bisher in der Reihe innerhalb des Briefings erscheinen:

TH

Briefing 55, #IranRevolution2022 1, hier zu Briefing 54

Für uns begann das, was vielleicht als zweite iranische Revolution in die Geschichte eingehen wird, am 22.10.2022. An jenem Tag versammelten sich in Berlin offiziell 80.000 Menschen, um unter dem Motto „Frau, Leben, Freiheit“ gegen das Mullah-Regime von Teheran zu protestieren. Heut trendet auf Twitter #IranRevolution2022. Der richtige Moment, um diese Artikelserie zu starten.

Berlin, Straße des 17. Juni, 22.10.2022

Es war die größte Kundgebung für die Menschen im Iran, die bisher in Europa stattgefunden hat und wir waren dabei. Es sollte nur ein „Beifang“ sein, wir wollten schnell von „Solidarischer Herbst“ rübermachen, vom Brandenburger Tor zur Siegessäule gehen, weil es hieß: „Da drüben, da kämpfen Menschen, unterstützt sie.“ Wir marschierten also von einer, hoch angesetzt, 5.000-Menschen-Demo zu einer, die tatsächlich wohl die 100.000er-Marke geknackt hat, um ein wenig mit Solidarität auszuhelfen. Wir kamen uns ziemlich albern dabei vor, nachdem wir gemerkt hatten, mit welcher Wucht und Verve hier Menschen tatsächlich wegen einer Herzensangelegenheit und wegen des Kampfes auf Leben und Tod dicht an dicht auf die Straße gingen. Man kann diese Kämpfe aber nicht gegeneinanderstellen, sie dienen alle demselben Zweck: Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Man kann höchstens, auf deutsche Verhältnisse bezogen: Das geht besser und muss besser gehen.

Es war so eng, dass wir für einen Moment ein seltenes Gefühl von Herzrasen hatten, wir wurden geradezu mitgespült und haben Fotos und Videoschnipsel von der Demo gemacht. Es war so laut, wie wenn Gefangene und Gefolterte zu einem mächtigen Freiheitschor anheben und so war es auch. Aus ganz Europa kamen sie nach Berlin, Exil-Iraner:innen und Unterstützer:innen, wie die Kennzeichen der Busse, die in einer langen Reihe abgestellt waren, belegten. Die hiesige iranische Community dürfte ohnehin fast komplett auf den Beinen gewesen sein. Nachdem es in Berlin die Love Parade nicht mehr gibt, die WM 2006 stattfand, als wir noch nicht hier wohnten und wir bei „Unteilbar“ nicht dabei waren, wurden wir also Augenzeugen und irgendwie auch Mitmacher der bisher größten Massenveranstaltung seit den 1980ern, als es um Frieden und Abrüstung ging und des größten Events, seit wir in Berlin wohnen.

Berlin, Siegessäule, 22.10.2022

Wie beeindruckend und emotional das war, werden wir in der Bilderserie darstellen, die wir dem Bericht über die Revolution beifügen. Wir wollen daraus ein kleines Dossier machen, das wir immer wieder mit neuen Entwicklungen und Aspekten ergänzen. Wir widmen es dem gegenwärtig nach dem Krieg in der Ukraine wohl größten Freiheitskampf, den mutigen Frauen und auch Männern, die ihn führen, einer Kultur, die wir schätzen, einem Zweck, der über allen anderen steht: die Erlangung von Menschenwürde. Ein großer Kampf, der von Teilen der Linken übrigens totgeschwiegen wird. Aus dem simplen und gemeinen Grund, weil das Mullah-Regime einer der letzten wertvollen Verbündeten von Wladimir Putins Regime ist. Iranische Kampfdrohnen gegen die Ukraine und gegen die Freiheit? Zunächst war es eine Vermutung, mittlerweile ist es belegt und wird von der iranischen Regierung zugegeben. Es handelt sich hier um ein Regime, das so weit von links entfernt ist, wie ein Regime nur sein kann, deswegen haben wir uns auch darüber gefreut, dass Teile der Demo dieses linke und sogar stellenweise antikapitalistische Gepräge hatten. Das hat auch mit der Genese von „Frau, Leben, Freiheit“ zu tun, ursprünglich ein Spruch der kurdischen Arbeiter:innenbewegung.

Eine freiheitlichere Regierung im Iran würde sich unweigerlich mehr am Westen orientieren, für die Freunde von Autokratien im günstigsten Fall den halbdemokratischen und neutralen Weg gehen, wie Indien, sich aber gewiss nicht an Wladimir Putin ketten. Wir werden durchaus kritisch beleuchten, dass es auch Aspekte gibt, die man hinterfragen oder beleuchten muss, wie bei jeder großen Bewegung, die viele Strömungen vereint. Uns sind zum Beispiel auf der Demo am 21.10. viele Fahnen aufgefallen, die bis 1979 die offizielle Staatsflagge des Iran waren, also die es Schah-Regimes, mit dessen verdientem Ende sich damals durchaus große Hoffnungen auch von Menschen verknüpften, denen das alte Regime schon zu reaktionär war und deren Angehörige nicht selten von der berüchtigten SAVAK traktiert wurden, der Geheimpolizei des Schah. Der Film „Persepolis“ aus dem Jahr 2007 gibt die Haltung eines bestimmten Teils der intellektuellen Mittelschicht im Iran gut wieder und ist für uns einer der besten politischen Animationsfilme überhaupt.

Viele Iraner:innen, die damals in den Westen flohen, waren auch klare Anhänger:innen dieses Regimes, daher ist es ebenfalls logisch, dass sie Gegner:innen des Islamischen Staates sind. Ausgeglichen wurde das für uns durch die erwähnten linken Gruppierungen.

Doch gerade das Beispiel der erwähnten SAVAK klärt darüber auf, wie komplex Geschichte ist und wie einfach doch, wenn man sie auf institutionelles Recht oder Unrecht herunterbricht. Schon Mohammed Mossadegh, der mit Hilfe des Westens gestürzte Premierminister, der durch den vom Westen alimentierten Schah ersetzt wurde, fing an, diese berüchtigte Geheimpolizei aufzubauen und es gibt sie unter dem Namen VEVAK noch heute. Sie hat, bar aller rechtsstaatlichen Grundsätze operierend, also drei Regierungsformen überstanden. Und dies in einem Land, das eine große Kultur der gesellschaftlichen Verantwortung der Gebildeteren kennt. Dabei bedingt dies einander: Eine wache Schicht von Intellektuellen muss immer bespitzelt und bedroht werden, wenn Regime zwar Verantwortungsbewusstsein fordern, aber Freiheit nicht zulassen. Es gibt in dieser Hinsicht durchaus Parallelen beispielsweise zur DDR. Das Mullah-Regime im Iran besteht nun übrigens schon länger, als es die DDR gegeben hat. Es ist zählebig, keine Frage, und wie die aktuelle Situation sich entwickelt, nach unserer Ansicht noch vollkommen offen. Bis auf einen Punkt: Einen friedlichen Übergang wird es nicht geben, das zeigt sich bereits zu deutlich.

Die permanente gesellschaftliche Reibung zwischen nach wie vor vergleichsweise modernen Städter:innen und dem Religionsstaat hatte nach der iranischen Revolution von 1979 für kurze Tauwetterphasen, für das Aufkommen der Idee eine Kooperation von geistlicher und weltlicher Elite zum beiderseitigen Gewinn gesorgt. Doch dann kam stets die konservative Gegenbewegung, kamen die sogenannten Sittenwächter und dadurch ist im Iran so viel gesellschaftlicher Druck unter den Deckel gekommen, dass dieser jetzt, ausgelöst durch einen Todesfall, hochfliegt und Menschen sich in Lebensgefahr begeben, um auf der Straße Veränderungen zu fordern.

Das Fanal für eine aufstandsähnliche Situation war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in Polizeigewahrsam im September 2022. Sie wurde eingesperrt, weil sie sich nicht dem Kopftuchzwang beugen wollte.

Iran: Tote bei Protesten um Mahsa Amini – ZDFheute

So stellte sich also die Situation einen Monat vor dem großen Protestzug in Berlin dar, diesem tatsächlichen heißen Herbst, bei dem es um alles ging, was das Leben von Menschen lebenswert macht. Seitdem ebbt die Gewalt im Iran nicht ab und es soll bereits zu mehr als 300 Toten gekommen sein.

Berlin, Straße des 17. Juni, 22.10.2022

Die meisten Frauen auf dem Protestzug vom 22. Oktober in Berlin trugen keine Kopfbedeckung und wer uns noch mal mit dem Spin daherkommen möchte, das alles sei nicht politisch und repressiv ins Weltliche, ins Politische, wie ein Keil in eine verfassungsrechtlich gesicherte freiheitliche Ordnung hineinragend, wer reaktionäre, repressive  Gesellschaftsbilder auch bei uns ganz okay findet und alle, die das kritisch sehen, am liebsten in die rassistische Ecke stellen würden, der soll sich anschauen, wie ein solches Weltbild im Iran gehandhabt und als gesellschaftliches Druckmittel eingesetzt wird. Wir kontern: Wer das durchwinkt oder gar gut findet, ist zutiefst frauenfeindlich.

Der Unterschied zu einzelnen sozialen Systemen hierzuland ist bisher, dass das gesamte Staatssystem dort auf diesem Druck aufbaut. Dass familien- und gruppeninterner, nichtstaatlicher Zwang, wie häufig bei uns der Fall, ebenfalls schwerwiegende individuelle Folgen insbesondere für Frauen haben kann, ist kein Geheimnis. Deshalb hören wir genau hin, wenn insbesondere Frauen nach Leben und Freiheit rufen, ihr Leben aufs Spiel setzen und die Freiheit vielleicht niemals gewinnen werden, während hierzulande wohlfeile Relativierungen und eiskaltes Schweigen gerade im linken Spektrum um sich greifen.

Wir schließen diesen einleitenden Artikel mit dem Spruch, der die Herzen von vielen Millionen Menschen auf der Welt bewegt:

Frau, Leben, Freiheit – Wikipedia

Frau, Leben, Freiheit (kurdisch ژن، ژیان، ئازادی Jin, Jiyan, Azadîenglisch Woman, Life, Freedom) ist ein politischer Slogan aus der Arbeiterpartei Kurdistans, der darauf abzielt, die Bedeutung von Frauen hervorzuheben.[1][2]

Während der Proteste, die auf den Tod von Mahsa Amini folgten, wurde der Slogan von Demonstrierenden weltweit verwendet, sowohl in der ursprünglichen kurdischen Form als auch auf Persisch (زن زندگی آزادی Zan, Zendegi, Azadi). Laut Hamid Hosravi, Dozent und Lektor für Persisch am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich, ist der Slogan die zentrale Parole der Proteste und ein Zeichen, dass die Bewegung ein feministisches Bewusstsein zum Ausdruck bringe: „Mittlerweile haben auch die Männer gemerkt, dass ihre Freiheit erst durch die Freiheit der Frauen ermöglicht wird.“[3]

TH

Briefing 53 (Briefing 52)

Dieses Mal ist Civey etwas spät dran mit der passenden Umfrage, dernn der Mauerfall war schon gestern vor 33 Jahren. Aber nach so langer Zeit kommt es auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht an, wenn man eine Bilanz der Mauer und ihres Wegfalls aufstellen möchte.

Hatte der Mauerfall eher einen positiven oder einen negativen Einfluss auf Ihr Leben?

Der Begleittext von Civey: 

Von 1949 bis 1990 gab es mit der DDR und der BRD zwei deutsche Staaten und die Berliner Mauer trennte die Hauptstadt 28 Jahre in Ost und West. Am 9. November 1989 hatte die damalige DDR-Führung nach einer großen Ausreisewelle und massiven Demonstrationen die Grenzen zur Bundesrepublik geöffnet und allen DDR-Bürgern und -Bürgerinnen das Reisen erlaubt. Am 3. Oktober 1990 folgte die deutsche Vereinigung.

Berlins Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) nennt den Mauerfall den „Glücksfall des letzten Jahrhunderts in der deutschen Geschichte”. Der Berliner Morgenpost sagte sie am Sonntag, stolz darauf zu sein, was seither alles geschafft wurde. Gestern wurden daher auf zahlreichen Events die Menschen gewürdigt, die zum Sturz des SED-Regimes, in dem es u.a. keine Meinungs-, Reisefreiheit oder freie Wahlen gab, beitrugen. Zudem wurde den Opfern der Teilung gedacht.

Obschon die Ostdeutschen mit der Wiedervereinigung mehr Freiheiten erlangt haben, war die Wende ein großer Umbruch für ihre Werte und Identität. Viele fühlten sich entwurzelt. Und noch heute sind die Löhne der Beschäftigten im Osten niedriger als im Westen. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), verwies jüngst darauf, dass gerade Ostdeutsche stark unter der Inflation leiden. Umso wichtiger sei es, die Regionalentwicklung voranzutreiben. Er selbst bezeichnet sich laut dpa als Gewinner der Wende, obschon er ein gutes Leben in der DDR geführt habe.

Für Karrierist:innen mit zweifelhafter Moral wie Franziska Giffey war der Mauerfall ganz sicher ein glück. Und zwar für solche auf beiden Seiten der früheren Grenze. So viele, die in der BRD zum Beispiel schon aussortiert waren, bekamen im Osten noch einmal eine Chance. So viele Charaktere aus dem Osten, die wissen, wie man sich perfekt so bemäntelt, dass vor allem das eigene Vorankommen gesichert ist, gehen uns heute im Politikbetrieb auf die Nerven. Zum Beispiel Franziska Giffey. Wir haben mit „unentschieden“ gestimmt. Als die Mauer noch stand, war es für uns eine Selbstverständlichkeit, dass das Grundgesetz die Wiedervereinig als Ziel beinhaltete. Nachdem sie gefallen war, begann erst einmal eine sehr emotionale und hoffnungsvolle Zeit, aber nicht nur im Osten kann man desillusioniert sein über das, was sich im Laufe der Jahre eher vertieft als verringert hat: Die Spaltung. So viele Spaltungen, und dann auch noch diese. Also eine mehr, als andere Länder in dieser schwierigen Zeiten bewältigen müssen.

Die 40 Jahre Demokratiedefizit der DDR wiegen schwer und sorgen anhaltend für Verdruss. Aus linker Sicht war sowohl die Existenz der DDR eine Hypothek als auch das Ende. Wenn wir sehen, dass aktuell Linke ihr Heil darin suchen, sich mit der AfD um die im Osten zu balgen, die gar nicht im Hier und Jetzt ankommen wollen, dreht sich uns schon mal der Magen um. Ein solches Problem gibt es nirgends sonst im Westen und in den anderen Ländern des früheren Ostblocks sind wenigstens alle zusammen und sich einigermaßen einig. Nicht immer zum Besseren, siehe Demokratiedefizit.

Und dann ist da die wirtschaftliche Seite. Niemals war Gesamtdeutschland noch einmal wirtschaftlich so gut aufgestellt wie die BRD. Niemals erreicht Deutschland beim BIP pro Kopf noch einmal so gute Werte in Relation zu anderen Nationen. Es gab schon während der 1980er Verschleißerscheinungen, aber die hätte man relativ günstig korrigieren können. Doch was kam, war ein Desaster und wir teilen ganz eindeutig nicht den Ost-Spin, dass die Wirtschaft dort vom Westen quasi bewusst zerstört wurde. Sie war einfach nicht konkurrenzfähig, in weiten Teilen, und es gab Fehler und es gab logische Konsquenzen. Und wer Augen im Kopf hatte und 1990 im Osten unterwegs war, der musste sich denken: dann gieß mal schön, Helmut, als Kanzler Kohl von blühenden Landeschaften sprach. Das hat er auch gemacht und im Westen wurde gekürzt. Mit fatalen Folgen bis heute.

Viele politische Schweinereien, die heute für ganz normal gehalten werden, waren im Zeitalter der Blockbildung nicht durchsetzbar, dazu musste erst das Ende der Geschichte ausgerufen werden können. Das ist nicht die Schuld der Menschen im Osten oder im Westen, aber die Wiedervereinigung war auch der Auftakt zu einem Wettlauf neuer Art: Nicht mehr, wer gewinnt die Systemkonkurrenz, sondern welches Land steht an der Spitze des neoliberalen Aufmarsches. In Deutschland war man zunächst zögerlich, aber in den 2000ern wurden die Weichen endgültig zulasten der Mehrheit in Ost und West gestellt. Und was passiert? Im Osten wollen politische Kreise, die progressiv sein sollten, die Ostalgie pflegen, weil sie wohl glauben, es gibt neben den AfD-Wähler:innen noch Potenzial. Ja, vielleicht ist das sogar so. Aber wo sind diejenigen, die die Zukunft wagen wollen? Dass politische Parteien  durchweg zu konservativ sind, egal in welchem Teil des Spektrums, ist zwar eine allgemeine, nicht nur dieses Land betreffende Erscheinung, hat aber auch mit der Wiedervereinigung und den Widerständen zu tun, die daraus erwachsen sind. 

Dabei hatte der doch der Mauerfall für uns erhebliche Konsequenzen. Ohne hin wären wir wohl nicht nach Berlin gezogen. Wir waren gar keine Fans der eingemauerten Stadt. Viele erzählen uns noch heute davon, wie schön und kuschelig es damals war. Ganz klar, die jetzigen Zustände in Berlin sind gruselig und das ist eine Folge der früheren Teilung. Vom Arbeitsmarkt bis zum Zustand der Infrastruktur, alles ist hier unter dem westdeutschen Durchschnitt, obwohl dieser auch nicht mehr das ist, was er mal war, siehe oben. Es gilt demnach auch für den Westen der Stadt, seit er nicht mehr durchsubventioniert wird. Viele neue Gebäude können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Berlin bezüglich der Kaufkraft seiner Einwohner sehr schwach abschneidet, für eine Hauptstadt, dass mittlerweile aber Hauptstadtpreise verlangt werden, auf allen Ebenen. Dort, wo die Mauer stand, ist noch unendlich viel Aufholarbeit zu leisten und wir kriegen dafür von führenden Parteien das Personal, das bundespolitisch nicht mehr tragbar ist. Während der Teilung kamen führende Köpfe aus Berlin oder machten hier ihren Weg, die bis heute die Demokratie des Westens geprägt haben. Das waren wirklich noch Zeiten.

Keine Spur mehr davon, die Verzwergung ist noch dramatischer als allgemein in der Politik. Hier, wo die Wiedervereingiung genäht und gestrickt wurde, wo Ost und West immer noch ganz dicht nebeneinander besichtigt werden können, sehen wir beim besten Willen keinen Grund zur Euphorie über die Wiedervereinigung. Wir wollen nicht alles nur schrecklich finden, deswegen haben wir mit „unentschieden“ gestimmt. Mehr war nicht drin. Die Mehrheit sieht das anders, immer noch. Freut uns irgendwie auch. Wir brauchen positiv denkende Menschen. Wir sind aber derzeit auf dem realistischen Novembertrip und wir registrieren auch, wie unterschiedlich Menschen in Ost und West bezüglich der aktuellen politischen Weltlage ticken.

Jeder so, wie er sozialisiert wurde, es gibt da kein „besser“ oder „schlechter“, sofern es nur um Völkerfreundschaft, nicht um die Einstellung zur Demokratie geht. Aber der Riss wird eben immer wieder sichtbar und letztlich verfestigt sich doch der Verdacht, dass wir Gück haben damit, dass das Grundgesetz bestimmte Grenzen für die Aushebelung der Demokratie zieht. Es ist heute wieder so wichtig, daran stets zu erinnern. Die Nazi-Vergangenheit wirkt immer noch und die Trennungszeit ist bei Weitem noch nicht aufgearbeitet. Mit diesen Hypotheken Zukunftspolitik zu machen, während andere Länder sich voll auf die anstehenden Aufgaben konzentrieren können, ist eine Riesenherausforderung. Sicher kann man all diese Erfahrungen nutzen, gerade dafür. Aber haben Sie den Eindruck, das geschieht? Die Politik und die Gesellschaft haben verstanden? Hat die Erfahrung mit der Mauer und hat ihr Fall die Menschen besser gemacht? 

Die Mauer ist schon fast so lange weg, wie die DDR und die BRD getrennt bestanden haben und länger, als sie selbste gestanden hat. Die Welt hat sich in den letzten Jahren aber bei allem, was es an Krisen gab, insgesamt nicht mehr so stark verändert wie in den Jahrzehnten zuvor, als Imperien entstanden und zusammenfielen und aus den Trümmern der großen Kriege eine neue Ordnung entstand. Das Gefühl ist eher, dass alles viel, viel zu langsam geht und Deutschland besonders lahm wirkt. Dieser Mangel an Agilität in Bezug auf die Herausforderungen der Zukunft ist auch ein Ergebnis der mangelnden inneren Einheit und der Gründe für diesen Mangel.

Nein, mehr als eine neutrale Haltung können wir gegenüber dem Mauerfall unter Berücksichtigung dieser Beobahtungen nicht einnehmen. Gerade diejenigen, die so sehr jubeln, sollte man sich genauer anschauen bezüglich ihrer Rolle: Sind sie Profiteure der inneren Unordnung, der Abwesenheit eines politischen Kompasses und des resultierenden Unwillens, die Zukunft beherzt anzugehen, zählen sie zsogar zu den aktiven Chancenvernichtern, welche die großen Zukunftsängste in diesem Land ausnutzen für ihre persönlichen Strategien? Wir werden die weitere Entwicklung beobachten und kommentieren, aber man muss bei allem, wofür man sich engagiert, bedenken, dass die Zeit der Illusionen vorbei ist. 32 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Ansprachen fast noch die gleichen wie kurz nach der Wende, wie man an den Einlassungen des Ostbeauftragten der Bundesregierung sieht. 

Was zu tun ist, muss immer mit einem „trotzdem“ versehen sein, sonst kommt man mental nicht mehr hinter den Ball, in diesem unserem einen, aber nicht vereinten Land.  

TH

Briefing 52 (Briefing 51)

Wissen Sie, wodurch sich das Briefing zum Wochenstart auszeichnet? Dadurch, dass es wirklich kurz ist. Es ist ein Schlaglicht und es geht um die Fußball-WM 2022 in Katar. 

WM-Boykott ist nicht mehrheitsfähig

Statista Grafik

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Am vergangenen Wochenenden haben sich die Fanszenen vieler Bundesligisten für einen Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar 2022 ausgesprochen. Ein gutes Beispiel ist die Partie Hertha BSC gegen Bayern München, bei der beide Fanszenen folgendes Banner zeigten: „15.000 Tote für 5760 Minuten Fußball. Schämt euch!“ Die Dortmunder Südkurve war sogar regelrecht mit Protestbotschaften gepflastert, wie ein Tweet von Faszination Fankurve zeigt. Mehrheitsfähig ist ein WM-Boykott aber nicht. Einer aktuellen Erhebung des Statista Global Consumer Surveys zufolge will etwas mehr als ein Viertel der Befragten das Turnier nicht am Fernsehbildschirm verfolgen. Etwas mehr sprechen sich für einen Boykott der Weltmeisterschaft durch die Fans (31 Prozent) oder die DFB-Elf (30 Prozent) aus. Am niedrigsten ist der Boykott-Anteil bei den Sponsoren. 17 Prozent sagen, dass sie Marken boykottieren wollen, die beim Turnier werben.

Viele von Ihnen, die uns heute lesen, werden nicht wissen, dass der erste Wahlberliner im Jahr 2011 einen ersten Höhepunkt an Zugriffen durch Sportberichterstattung erreichte. Es ging um unsere Liveticker zur Frauen-Fußballweltmeisterschaft, die in Deutschland stattfand. Für die deutschen Fußballfrauen verlief das Turnier eher enttäuschend, aber die Berichterstattung hat uns trotzdem vie Spaß gemacht. Davon, heute wieder so viel Aufwand für Sportbeiträge zu treibtn, sind wir weit entfernt, zumal bei einem Männerturnier, das wieder einmal Heerscharen von Journalist:innen und Kommentator:innen anlocken wird.

Werden diejenigen, die über die Spiele schreiben oder sie live kommentieren, etwas zu den Umständen dieser WM sagen und standhaft wiederholen, dass man sie niemals hätte in dieses Land vergeben dürfen? Wir glauben, es wird sich in Grenzen halten mit der Kritik. Schon deswegen, damit eine ungestörte Ausstrahlung möglich ist. Mini-Update: Mittlerweile gab es einen Mini-Skandal, weil ein katarischer Sportfunktionär sich vor laufender ZDF-Kamera homophob geäußert hat. Da hat sie uns schon wieder, die Wirklichkeit.

Und die Bevölkerung will es so: Brot und Spiele oder auch Spiele, wenn das Brot bereits knapp wird. Die Fußballgladiatoren steigen in die grüne Manege und alle ethischen Aspekte sind vergessen. 

Das hat tiefgreifendes Nachdenken zur Folge, zumindest bei uns. Dürfen wir beispielsweise die Demokratie einer ignoranten Mehrheit überlassen? Es wird diejenigen, die mit der deutschen Geschichte vertraut sind, nicht überraschen, wenn wir an dieser Stelle festhalten: Das Grundgesetztsagt eindeutig nein. Das dürfen wir nicht. Deshalb sind in ihm einige Eckpunkte, unverrückbare Säulen einer besseren Nachkriegsordnung nach dem NS-Regime, festgeschrieben, die auch durch noch so große Mehrheiten nicht geändert werden können. Art. 1 GG (Menschenwürde) und die Staatsprinzipien (die Demokratie selbst, der Sozialstaat, die föderale Ordnung und einige weitere Punkte) dürfen nicht angetastet werden. 

In den letzten Jahren verdichtet sich wieder der Eindruck: Was für ein Glück. Wir möchten nicht wissen, was eine sogenannte direkte Demokratie in Deutschland für Verwüstungen in dieser Gesellschaft anrichten würde. Die 27 Prozent die sich die WM in Katar nicht ansehen wolle, tun das möglicherweise gar nicht überwiegend aus ethischen Gründen, sondern, weil sie sich einfach nicht für Fußball interessieren. Solche Menschen gibt es. Wir werden uns keine Spiele anschauen, es sei denn, Deutschland erreicht das Finale. Für den Fall behalten wir uns eine Ausnahme vor, das geben wir auch zu. Ansonsten verbieten wir uns selbst erstmals jedes Reinglotzen in eine Manege, in welcher vor allem etwas fehlt, was im Sport doch so wichtig sein soll: Fairness, ein Fest der Völker, heute auch -nachhaltigkeit und Werteorientierung.

Es gab schon viele zweifelhafte Austragungsorte, aber ein Scheichtum in der Wüste, wegen der Hitze müssen die Spiele in den Winter verlegt werden und trotzdem ist der Energieverbrauch für die klimatisierten Stadien ein Wahnsinn, das zum Beispiel bei der Pressefreiheit auf ca. Rang 120-130 der Welt zu finden ist, war bisher nicht dabei. Sicher, auch in China dürften nach demokratischen Maßstäben keine internationalen Sportereignisse stattfinden, ganz gerecht ist also auch diese Betrachtungsweise nicht, zumal die Katarer nicht irgendwelche Fangruppen in Deutschland haben, wie so viele andere  Staaten, die keinerlei Anforderungen an die Wahrung der Menschenwürde gegenüber ihrer Bevölkerung erfüllen.

Über die katarische Regierung könnte man also hier viel Negatives schreiben, ohne dass man gleich von mächtigen Interessengruppen in die Zange genommen wird. Die Lage ist einerseits weltweit zu ernst, um mit ihnen Wertepolitik zu üben, weil es weniger Widerstand gibt als von einigen Staaten, von denen wir zu sehr abhängig sind, aber keine Kritik zu üben, kann ebenfalls nicht angehen. 

Es ist uns insgesamt nicht schwergefallen, den Verzicht auf die WM zu deklarieren, von ode rerwähnten Ausnahme abgesehen. Auch wenn diese Ausnahme auf das Gegenteil deuten könnte: Wir sind in den letzten Jahren immer skeptischer geworden bezüglich jener Turniere, in denen Nationen gegeneinander antreten und der Nationalismus sich im Fantum versteckt. Fan kommt von Fanatiker, das darf man nicht vergessen, auch wenn der Begriff sehr extensiv verwendet wird. Ein bisschen was davon steckt aber in den meisten von uns und es kommt auf das Maß an. Es ist für uns ein riesiger Unterschied, ob wir uns ein Endspiel anschauen, weil es Hansi Flicks Buben bis dorthin gepackt haben oder ob wir in anderen Ländern herumziehen und dort den schlechten Eindruck hinterlassen, der leider eine permanente Begleiterscheinung der hiesigen „Fankultur“ oder Unkultur ist. Zum Beispiel. Und dann  noch die Verteidiger der WM, darunter der verurteilte Straftäter Uli Hoeneß, die über Kritiker herziehen, als ob ihr eigenes Verhalten nie zu fundamentaler Kritik Anlass gegeben hätte. Und als ob Katar ein Ort wäre, dessen Fußballkultur durch alle Zeiten hinweg herzhaft verteidigt werden müsste.

Eigentlich sind wir froh, dass es Katar geworden ist. Wir hätten wieder schwierige Entscheidungen bezüglich unseres Zeitbudgets treffen müssen, wenn wir uns entschlossen hätten, die WM in einem super schönen, demokratischen Land zu verfolgen. Was auch wir, wie die meisten, nicht tun werden: sämtliche Firmen, von denen wir irgendein Produkt kaufen, daraufhin abzuklopfen, ob sie diese WM gesponsert haben oder nicht. Das ist nicht nur aufwendig, sondern auch nicht unbedingt zielführend: Wichtig ist, wie diese Unternehmen sich ingesamt in diesem Spätkapitalismus verhalten – und da sieht es unabhängig von Katar oder Nicht-Katar eher bescheiden aus. Trotzdem können wir sie nicht alle permanent boykottieren, das würde unsere Kasse nicht aushalten, denn echte Ethik, die sich im Konsum ausdrückt, ist sehr teuer. Aber der Versuchung widerstehen, auch noch Sportfernsehen zuzubuchen, das  gelingt uns locker. Das war bisher so und wird auch nach der WM so bleiben. Es ist eh alles nicht sauber, aber bis zu einem gewissen Ausmaß an Verschmutzung des Lebens durch die Auswüchse dieses Systems kann man mit dem inneren Cleaning noch nachkommen und allzu viel ethischen Müll von sich fernhalten. Beim Cleaning hilft das Grundgesetz: Nicht immer hat die vergnügungssüchtige und den Menschenrechten gegenüber gleichgültige Mehrheit recht. Das wussten schon dessen Väter und Mütter.

TH

Briefing 51 (Briefing 50)

Auf den ersten Blick liegen die Themen des Briefings 51 recht weit entfernt von der vorausgehenden Ausgabe. Am Ende und weil Sonntag ist, denken Sie aber bitte ein wenig darüber nach, was das eine mit dem andern zu tun haben könnte. Falls Sie Zeit und Lust haben.

Wirtschaft am Sonntagmorgen? Aber ja. Die Zeiten sind lange vorbei, in denen die meisten Männer zum Fühschoppen (nicht zu verwechseln mit Frühshoppen) gingen, während die Hausfrau das Essen zubereitete. Damals war die Welt der Wirtschaft und der Familie noch in Ordnung. Letzteres vor allem dann, wenn man außerhalb der Blackbox lebte. Mittlerweile ist die Welt der Wirtschaft so anders und es gibt so viele Nachrichten, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Beim Frühschoppen hat man sich vor allem über Sport unterhalten, nehmen wir an. Über Fußball und so.

Beim heutigen Früh- und Rund-um-die-Uhr-shoppen geht es oft um Finanztransaktionen, von denen die meisten Menschen früher nicht nur nie etwas gehört hatten, es gab sie einfach nicht. Vieles davon wird unter dem Namen Fintech zusammengefasst. Dabei sind einige nützliche Dienstleistungen, aber, weil die Finanzindustrie sich auf einer hypertrophe Weise und trotz der Bankenkrise von der Realwirtschaft entkoppelt hat, viele Unternehmungen, die, sagen wir es mal vorsichtig, viele Bullshit-Jobs kreieren, die in Krisen schnell in Gefahr sind, wieder verlorenzugehen, denn in Krisen schauen die Leute eher auf das, was man wirklich zum Leben braucht als auf Nice to Haves, für die dann manchmal kein Geld, oft auch schlicht kein Nerv vorhanden ist. Wenn der Nerveknkitzel ins Stresslager wechselt, weiß man in der Regel, dass es an der Zeit ist, ein paar Justierungen vorzunehmen. Und das passiert gegenwärtig schnell. Zum Beispiel, weil die Wertpapiermärkte nicht mehr so flutschen und das Betongold auch nicht mehr so glänzt.

Ganz logisch, dass dann die Investments der Kapitageber in den Bereich „Fintech“ zurückgehen:

Infografik: Einbruch bei Fintech-Investments | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Fintechs weltweit haben es in diesem Jahr deutlich schwerer Venture-Kapital für ihre Unternehmen zu gewinnen als im Vorjahr. Aufgrund der krieg- und Inflationsbedingten schlechten Wirtschaftslage, sehen viele Kapitalgeber momentan von Investments ab.

Im dritten Quartal 2022 haben die Gesamtinvestitionen in Fintechs laut CB Insights etwa 12,9 Milliarden US-Dollar betragen – ein Rückgang von rund 64 Prozent gegenüber der sehr starken Vorjahresperiode. Damit liegen die Investitionen in junge Finanzunternehmen wieder auf dem Niveau von 2020. Das Jahr 2022 hatte zunächst vielversprechend angefangen; knapp 30 Milliarden US-Dollar gingen im ersten Quartal an Fintechs weltweit, im darauffolgenden Quartal kam es dann schon zu einem deutlichen Einbruch, wie die Statista-Grafik zeigt.

Die Folgen der Ausbleibenden Investments sind bei den Unternehmen deutlich zu spüren. So musste beispielsweise Klarna sich mit Massenentlassungen retten und einen Bewertungsabschlag akzeptieren. Auch der deutsche Neobroker Trade Republic aus Berlin musste einen Teil der Belegschaft gehen lassen. Und das, obwohl die Geldgeber bei diesen Unternehmen in der Vergangenheit geradezu Schlange gestanden haben.

Klarna sagt uns sogar etwas, weil wir schon damit bezahlt haben. Ein Fintech ist das also. Meistens, wenn wir nicht auf klassischem Weg überweisen oder Daueraufträge angelegt haben, nutzen wir PayPal, das demnach auch ein Fintech sein muss. Nach eigener Auskunft ist es sogar einer der am meisten vertikal integrierten Konzerne dieser Art und anerkanntermaßen ein herausragendes Beispiel für globales, in der Tat technikbasiertes Finanzdienstleistungswesen.

Was uns immer erstaunt, auch bei der Quelle, die der Grafik zugrundeliegt, dem Report von CB Insights, ist die kurzfristige Betrachtungsweise. Das Quartal ist das Ding, nicht die Nachhaltigkeit über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg. Deswegen fällt erst auf den zweiten Blick auf, wie außergewöhnlich hoch die Investitionen im Jahr 2021 waren und dass ein Rückgang auf „normal“ im Jahr 2022 eigentlich kein Krisenzeichen ist, sondern nur belegt, dass im Vorjahr außergewöhnlich viele große Fintech-Deals über den Tisch gegangen sind. Aber das Reporting ist ähnlich wie die Branche selbst immer stark am Maximum ausgerichtet, auch wenn dieses Maximum klar ein Ausnahmetatbestand ist und nicht eine organische Entwicklung über viele Jahre spiegelt. Es tut uns leid, aber wir werden uns sicher nicht in Richtung „wo um Himmels willen soll man jetzt noch anlegen“ entwickeln, sondern weiterhin mit kritischer Distanz auf Auswüchse des Kapitalismus schauen, zu denen auch und insbesondere einige Fintechs gehören. In Deutschland haben wir außerdem oft kein gutes Händchen für solche Firmen, wie man am Fintech WireCard sehen kann, das einmal als eines jener Einhörner angesehen wurde, die sich in den letzten Jahren so auffällig vermehrt haben, dass man nicht mehr von einer gefährdeten oder gar legendären Spezies sprechen kann.

Und damit zu den Einhörnern, von denen sich die meisten im Fintech-Stall tummeln, hier sehen wir die europäische Situation im Jahr 2022:

Infografik: Wer hat die meisten Einhörner im Stall? | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Mit 47 Einhörnern liegt das Vereinigte Königreich im europäischen Vergleich deutlich vorne, obwohl sich die Wachstumsrate der nicht börsennotierten Unternehmen mit einem Marktwert von einer Milliarde US-Dollar oder mehr in den vergangenen Monaten aufgrund steigender Preise und des Krieges in der Ukraine verringert hat. Dennoch könnte der bisher Zweitplatzierte in den nächsten Monaten seinen Platz abtreten müssen, wie unsere Grafik zeigt.

Nach sechs Neuzugängen im deutschen Einhornstall im ersten Halbjahr 2022 konnte seit Mai kein weiteres Startup die nötige Marktbewertung erreichen. In Frankreich traten allein im Januar fünf Unternehmen dem Club der Einhörner bei, noch im Juni folgten zwei weitere. Damit hat die französische Wirtschaft das von Präsident Emmanuel Macron gesteckte Ziel, bis zum Jahr 2025 25 Einhörner hervorzubringen, drei Jahre früher als geplant eingelöst. Der erste Platz auf der Liste der Länder mit den meisten Einhörnern dürfte jedoch in naher Zukunft unangefochten bleiben. Mit 47 Start-ups im Wert von mehr als einer Milliarde US-Dollar liegt das Vereinigte Königreich deutlich in Führung.

Das Investieren in Fintech-Startups ist nicht neu, entwickelte sich allerdings erst 2021 zum echten Trend, der dieses Jahr aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Lage einen Dämpfer bekommen dürfte. Laut Daten von CB Insights überschritt die Anzahl der Mitglieder im Einhorn-Club im Februar 2022 die 1.000er-Marke, Stand jetzt sind über 150 Firmen dazugekommen. Der größte Teil, knapp 70 Prozent der vertretenen Unternehmen, stammt aus China und den USA, während etwa die Hälfte aller Einhörner weltweit aus den Sektoren Fintech, Internet-Software und -services sowie E-Commerce stammen.

Man glaubt es kaum, in Europa gibt es Länder, die sich strategische Wirtschaftsziele setzen, pro Einwohner hat Frankreich nun also mehr Einhörner als Deutschland und der Brexit scheint sich für Großbritannien zumindest in diesem Bereich nicht unbedingt vernichtend ausgewirkt zu haben. Allerdings ist das UK auch sehr finanzdienstleistungslastig und uns würde als Einwohner eines klassischen Industriestandorts auch interessieren, wie es mit langfristig überlebensfähiger neuer Industrie aussieht, die mal nicht der Finanz-„Industrie“ angehört. Eigentlich sind Finanzen keine Industrie, sondern alles, was hier läuft, zählt zu den Dienstleistungen, aber der Begriff wird eben so verwendet, als ob es um die Herstellung wertvoller Produkte und nicht nur um den Umschlag von Unsummen von Geld ginge. Sorgen müssen wir uns in Deutschland vor allem dann machen, wenn die Basis der „tatsächlichen Industrie“ wegbrechen sollte, die mehr als in anderen großen europäischen Ländern das Rückgrat der Wirtschaft bildet. Bei den Finanzdienstleistungen hat sich nämlich  herausgestellt, dass die Deutschen es nicht können. Das beginnt beim Abstieg der einst mächtigen Deutschen Bank, geht weiter über den wirklich blamablen WireCard-Skandal und endet noch nicht bei den Cum-Ex-Cum-Cum-Geschäften, die ein führendes Land der echten Industrie finanzseitig wirken lassen sie eine verfaulte Bananenrepublik, in der kein billiger Trick schändlich genug ist, um von einem im Grunde debilen Club aus Banken, die Gesetze schreiben und Politikern, die sie durchdrücken, nicht ausprobiert zu werden. Der Finansektor ist hierzulande in jeder Hinsicht unterentwickelt, Deutschland betreibt nicht einmal eine eigene Steueroase, anders als gewisse führende europäische Länder im Einhornbusiness, die von ihren in jede Richtung, sowohl regional wie in Sachen ethischem Zerfall ausbaufähigen Finanzplätzen profitieren.

Gehen wir noch ein paar Monate zurück, dann finden wir z. B. diese Grafik:

Infografik: Das Jahr der Fintech-Einhörner | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Der NFT-Hype mag abgeklungen sein und die Kurse für Bitcoin und Ethereum mögen schwanken, aber Unternehmen aus der Blockchain-Branche gelten weiterhin als lukrative Investitionsmöglichkeiten für Risikokapitalanleger:innen. Das wurde in der aktuellsten Finanzierungsrunde des NFT-Marktplatzes OpenSea bestätigt. Nach Aufnahme von weiteren 100 Millionen US-Dollar gilt die Firma jetzt als Einhorn, also als privates, nicht börsennotiertes Unternehmen, dessen Marktwert über einer Milliarde US-Dollar liegt. Damit liegt OpenSea voll im Trend: Die Statista-Grafik zeigt, dass knapp ein Viertel der 2021 als Einhörner eingestuften Start-ups aus dem Fintech-Segment stammen.

Bis zum 8. Juli 2021 wurden 253 neue Einhörner in den „Global Unicorn Club“ von CB Insights aufgenommen. Das entspricht einem Zuwachs von 532 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 60 der 253 Firmen sind im Fintech-Sektor tätig, 52 im Bereich Internet-Software. Weitere wichtige Sparten sind Cybersecurity, Künstliche Intelligenz und E-Commerce.

Insgesamt führt CB Insights 750 Firmen auf seiner Einhorn-Liste. Davon stammen 16 aus Deutschland, darunter das Softwareunternehmen Celonis mit einem Marktwerkt von 11 Milliarden US-Dollar und der Online-Broker Trade Republic, deren Marktwert 5,3 Milliarden US-Dollar beträgt. Den ersten Platz der wertvollsten Einhörner belegt die TikTok-Mutterfirma Bytedance mit 140 Milliarden US-Dollar.

Sie haben es oben gelesen: Mittlerweile sind es über 1.000 Einhörner, das Einhorn für jeden kommt also näher. Selbstverständlich haben wir zu den Kryptowährungen auch eine Meinung: Es ist verrückt, dass Zahlungsmittel, die von irgendwelchen Privaten geschaffen und per Computereinsatz generiert werden können, mittlerweile von vielen Firmen als Zahlungsmittel anerkannt werden, auf diese Weise in die reale Wirtschaft eingeschleust werden und damit die Geldmenge weiter aufblähen, die ohnehin von einer zu  lockeren Finanzpolitik zu sehr gesteigert wurde. Das Ganze ist rein virtuell und wenn der Kurs dieser Währungen einbricht, werden einige, die sich auf immer weitere Steigerungen verlassen haben, schlecht aussehen, denn sie haben dann auch keinen institutionellen Schutz vor Verlusten und keine Notenbank wird gegen den Totalzerfall ansteuern können. Tendenzen in diese Richtung gibt es schon, der Bitcoin hat sich von seinem Höchststand aus bereits halbiert. Sicher, wer am Anfang dabei war, konnte gigantische Gewinne einfahren, aber trotzdem zeigt allein die Tatsache, dass das jenseits eines halbwegs geordneten Marktes möglich war, wie schadhaft dieses Finanzsystem ist. Es mangelt an Kontrolle, man hat aus der Bankenkrise des Jahres 2008 so gut wie nichts gelernt, es wurden sogar neue Risiken geschaffen wie etwa das Hineinwuchern der Kryptowährungen in das Finanzsystem und der nächste Crash ist nur eine Frage der Zeit.

Doch auch jenseits von Fintech ist so vieles mehr als fragwürdig. Schauen wir uns dazu die Liste der deutschen Einhörner an, wie sie Anfang 2022 von Statista erstellt wurde:

Infografik: Deutsche Einhörner und wo sie zu finden sind | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

elonis ist der Spitzenreiter unter den höchstbewerteten deutschen Unternehmen vor Börsengang. Das Software-Unternehmen aus München ist mit einer Bewertung von elf Milliarden US-Dollar das wertvollste Einhorn Deutschlands. Damit übertrifft Celonis die zweitplatzierte Online-Bank N26 (9,23 Mrd. US-Dollar) oder den Neo-Broker Trade Republic (5,3 Mrd. US-Dollar) – zwei Unternehmen aus der FinTech-Elite Europas. Personio (6,3 Mrd. US-Dollar) aus München und die Berliner Firma Mambu (5,5 Mrd. US-Dollar) folgen auf den Plätzen drei und vier.

Laut Daten von CB Insights gibt es derzeit 25 Start-Ups mit einer Marktbewertung von mindestens einer Milliarde US-Dollar in Deutschland. Die meisten dieser Einhörner haben ihren Sitz in der Hauptstadt oder anderen deutschen Metropolen. Nur einige wenige hält es in kleineren Städten wie Duderstadt oder Unterföhring. Die neuesten Mitglieder in den Top 10 der Einhörner sind der Schnelllieferdienst Gorillas und der Konkurrent Flink. Das Unternehmenskonzept hat sich in den vergangenen Monaten als sehr erfolgreich erwiesen, sodass es mehr und mehr Wettbewerber auf diesem Gebiet entstehen und um Kunden buhlen.

Im Vergleich zu Überfliegern aus den USA wie beispielsweise SpaceX (100,3 Mrd. US-Dollar) und Stripe (95 Mrd. US-Dollar), sind die deutschen Unternehmen relativ gering bewertet. Die US-Firmen werden nur noch von Tech-Giganten aus China in den Schatten gestellt. Das mit Sage und Schreibe 140 Milliarden US-Dollar wertvollste Einhorn weltweit ist Bytedance, ein auf Künstliche Intelligenz spezialisiertes Unternehmen aus Peking.

Wir lernen nicht nur, dass deutsche Einhörner eher einer Zwerg-Unterspezies angehören, sondern fragen uns auch, was Firmen zu dieser Bezeichnung qualifiziert, die vor allem negativ von sich reden machen, wie etwa Gorillas. Dieses sogenannte Einhorn ist längst in den Strudel seines unsagbaren Umgangs mit Mitarbeitern geraten, Flink-Kurieren begegnen wir in Berlin aber täglich, besonders, seit wir vermehrt auf dem Rad sitzen. Aber was bitte soll an diesen Firmen avantgardistisch sein? Es sind ganz schlichte Low-Tech-Firmen, wenn man von den elektronischen Bestellsystem und Navis ihrer Fahrer absieht.

Wer, wie wir, während des Studiums als Kurier (mit dem Auto) unterwegs war, der erkennt sofort, dass es sich bei diesen Einhörnern und ein Business handelt, das fast so alt sein dürfte wie die Menschheit und in dem Mitarbeitende alles andere als moderne Arbeitsbedingungen antreffen. Wenn die deutsche Einhornlandschaft vor allem solche Wesen hervorbringt, dann haben wir aufgehört, in High-Tech-Dimensionen denken zu wollen, von „guter Arbeit“ ganz zu schweigen. Bei „Flink“ ist es schon ein hervorhebenswerter Tatbestand, dass die Kuriere tatsächlich angestellt sind und nicht scheinselbstständig und natürlich ist die Liefergeschwindigkeit hoch. Dass alles innerhalb von zehn Minuten zugestellt werden kann, halten wir trotzdem für unmöglich. Wie es mit den Gehältern aussieht, kann man hier einsehen: Flink Fahrer:in Gehalt | kununu. Dafür, dass Radkurier sein in Berlin ein sehr gefährlicher Job ist, eindeutig zu wenig und je länger wir hier schreiben, desto mehr nutzt sich auch der Begriff „Einhorn“ ab. Genau das ist unser Ziel: herauszustellen, dass viele elitär klingende Begrifflichkeiten much ado about nothing sind.

Wir haben nun ca. 90 Minuten am Entwurf dieses Artikels geschrieben, die Publikation wir ebenfalls noch einmal 15 Minuten in Anspruch nehmen. Schluss für heute mit dem Briefing, aber speziell zu diesem Thema der modernen Investements, der Einhörner etc. wird es eine Fortsetzung in einem der kommenden Briefings geben. Bis dahin: denken Sie über das nach, was wirklich wertvoll und nachhaltig ist, wenn Sie möchten. Wenn die aktuellen Krisen zu etwas nützlich sind, dann dazu, dieses in weiten Teilen eklektische Business, das hier unendlich gehypt wird, zu hinterfragen und ein wenig mehr auf Distanz zu alldem zu gehen. Vielleicht ist es sogar ein Ausweis von Standortqualität, dass Deutschland bei diesen „Einhörnern“ nicht führend ist, sondern dass es hier viele Marktführer gibt, die kaum jemand kennt. Natürlich gibt es auch für sie einen zeitgeistigen Begriff: „Hidden Champions.“ Dass sie so „hidden“ sind, liegt vor allem daran, dass sie oft nicht im BtC, sondern im BtB-Bereich tätig sind. Ach ja: „BtC“ = Business to Consumer, „BtB“ = Business to Business. Sprich, es handelt sich um Unternehmen, die andere Unternehmen z. B. mit Ausrüstungsgegenständen beliefern und daher bei Verbrauchern eher wenig bekannt sind. Diese wirklichen Champions sind übrigens durch den immer stärkeren Zugriff Chinas auf die deutsche Wirtschaft besonders gefährdet. Auch dazu wieder mehr in einem der kommenden Briefings.

TH

Briefing 50 (Briefing 49)

Unser heutiges Briefing schließt an die Klima-Energie-Reporte an, aber da es keine Statistiken zu diesem Thema enthält, belassen wir es bei der Eingliederung in die Rubrik des „überwiegend täglich aufgegriffenen Themas“. Sie kennen FFF und Sie kennen mittlerweile sicherlich auch LG. Wir meinen nicht die Elektrogeräte-Firma aus Südkorea, sondern, ausgeschrieben, die „Last Generation“, die Aktivist:innen, die der Ansicht sind, die jetzt junge Generation sei die letzte, die den Klimawandel noch zu einigermaßen erträglichen Konditionen stoppen könne.[1]

Sowohl die Aktivist:innen von Fridays For Future als auch diejenigen der „Last Generation“eint der Will, den Kampf für den Klimaschutz so zu führen, dass Menschen darauf aufmerksam werden, dass die Gesellschaft, dass Eltern, Regierungen, die Wirtschaft Stellung beziehen müssen. Beide haben auch gemeinsam, dass ihnen anfänglich eine Wutwelle seitens der Konservativen entgegenschlug. Bei „Last Generation“ ist das noch immer der Fall, während die protestierenden Schüler:innen u. a. durch Corona geradezu dadurch integriert wurden, als teilweise nicht nur freitags, sondern monatelang gar keine (Präsenz-) Schule stattfand. Die Aktionen der „LG“ sorgen auch deshalb immer wieder für Aufsehen, weil sie nicht ungefährlich für die Aktivist:innen selbst sind, weil es zu handfesten Auseinandersetzungen vor allem mit Autofahrer:innen kommt, die behindert werden – und nun soll eine der Straßenbesetzungen in Berlin dazu geführt haben, dass eine Radfahrerin nicht rechtzeitig notfallversorgt werden konnte, die einen Unfall mit einem Baustellenfahrzeug hatte. Der Vorgang ist hier bereits dargestellt:

Am 31. Oktober 2022 führten Aktivisten von „Letzte Generation“ an mehreren Stellen in Berlin Straßenblockaden durch, was zu Verkehrsstaus führte. Ein Rettungsfahrzeug der Feuerwehr geriet in einen Stau und traf erst verspätet an einem Unfallort mit einer lebensgefährlich verletzten Radfahrerin ein. „Letzte Generation“ teilte mit, dass man bestürzt sei. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisierte die Straßenblockaden scharf. Die Aktivisten nähmen in Kauf, dass Menschen in Not länger auf die Hilfe von Polizei und Feuerwehr warten müssen.Die Radfahrerin wurde am 3. November 2022 für hirntot erklärt und verstarb am selben Tag. Die Berliner Polizei ermittelt aufgrund der Blockade auf der A 100 wegen unterlassener Hilfeleistung beziehungsweise der Behinderung Hilfe leistender Personen gegen zwei Aktivisten.[58][59] Im Raum steht die Frage, welchen Anteil die Aktion oder andere Faktoren wie eine fehlende Rettungsgasse für das verspätete Eintreffen der Rettungskräfte hatten.

Nun hat die Süddeutsche Zeitung einen Artikel veröffentlicht, in dem die zuständige Notärztin gesagt haben soll, dass die Rettungs- / Bergungsarbeiten nicht durch die in Rede stehende „LG“-Aktion konkret behindert worden seien: Bericht: Klimablockade behinderte laut Notärztin Bergung von Radfahrerin nicht | WEB.DE

Dieser Vorgang schlug hohe Wellen, besonders natürlich bei uns in Berlin, wo Unfälle von Radfahrer:innen mit Autofahrer:innen leider zum Alltag gehören und wo außerdem die Menschen von „LG“ ihre Aktionen, vor allem die gegenwärtige Hauptform der Straßenbesetzungen,[2] konzentrieren. Da kommt einiges an Emotionen zusammen. Aber nicht nur solche Fälle stehen in der Diskussion, sondern auch, natürlich wieder gerne in Berlin, die Beschädigung von Kunstwerken durch „LG“-Aktivistinnen. Zu dieser Aktionsform wiederum hat Civey eine Umfrage aufgesetzt, Sie dürfen abstimmen:

Der Erklärungstext der Meinungsforscher dazu:

Civey-Umfrage: Haben Sie Verständnis für neue Klima-Protestformen (z.B. Kunstwerke mit Essen beschütten) als Alternative zu herkömmlichen Protestformen? – Civey

Im Oktober wurde ein Gemälde von Claude Monet mit Kartoffelbrei im Barberini-Museum in Potsdam überschüttet. Da das Bild verglast ist, sei es laut Museum nicht beschädigt worden. „Ganz im Gegensatz zu dem unermesslichen Leid, das Fluten, Stürme und Dürren als Vorboten der drohenden Katastrophe schon heute über uns bringen“, schrieb das verantwortliche Aktivistenbündnis Letzte Generation auf Twitter als Begründung.

Da Deutschland bei den Klimazielen stark hinterherhinkt, fordern Klimaschutzgruppen von der Regierung Nachbesserungen bei der Klimapolitik. Weltweit mehren sich derzeit ähnliche Protestaktionen. Am Sonntag klebten sich zwei Aktivistinnen im Berliner Museum für Naturkunde an Metallstäbe unter Dinosaurierskeletten. Politik und Ausstellende reagieren mit Empörung und hinterfragen den Zusammenhang von Kunst und Klimaschutz.

Der Potsdamer Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) nannte die Aktionen auf Twitter „Kulturbarbarei und keine politische Meinungsäußerung“, die dem eigentlichen Ansinnen nur schaden. Das Naturkunde-Museum will sich laut rbb weiter für den gemeinsamen Dialog zum Schutz der Natur einsetzen – aber unter Einhaltung von Gesetzen. Grünenpolitikerin Renate Künast sieht zwar auch klimapoltischen Nachholbedarf, kritisiert die Proteste aber, weil diese Debatten über den Klimaschutz erschweren.

Noch nie waren wir mit unserem Abstimmungverhalten bei einer so kleinen Minderheit wie in diesem Fall. Wie wir das meinen? Schauen Sie selbst nach, indem Sie abstimmen. Wir mussten erst einmal nachschauen, ob ein Schaden an den betreffenden Kunstwerken aufgetreten war, denn auch solche Aktionen gab es in Berlin schon und da ist für uns die Grenze klar überschritten, wie auch immer diese Beschädigungen motiviert gewesen sein mögen. Aber ein bisschen Essen auf Schutzglas? Künstler:innen, die unwiderbringliche Werke geschaffen haben, können nichts für die Klimakrise, Kulturschätze machen jede Zukunft erst lebenswert, finden wir. Deswegen spielt für uns der Aspekt des Schadens eine entscheidende Rolle. Kein Schaden, keine Ablehnung der Aktionsform, um es knapp auf den Punkt zu bringen.

Man kann über die Ästhetik, sogar über den Sinn solcher Vorgänge streiten, man kann auch die Berufspendler:innen in Schutz nehmen, die zum Stillstand kommen, weil sich „LG“-Aktivist:innen an der Straße festgeklebt haben. Man kann aber auch sagen, komischerweise regt sich niemand darüber auf, dass der Stau im Berliner Berufsverkehr der Normalfall ist, dass während dieser Zeit sowieso kein Rettungsfahrzeug die Autobahn ohne massive Zeitverzögerung benutzen kann und auch auf den größeren Ausfallstraßen riskiert, blockiert zu werden und es zu vielen hier so was von wurscht oder sie sind sogar dagegen, dass die Stadt seit vielen Jahren die Verkehrswende versäumt. Jetzt hat sie auch noch eine Populistin zur Regierenden Bürgermeisterin, die sich ihre Stimmen vor allem aus den konservativen Randbezirken geholt hat, in denen viele Leute schlicht zu ignorant sind, um den ÖPNV zu benutzen. Innerhalb von Berlin kann man das nämlich immer tun und ist damit in der Regel auch schneller am Ziel.

Wir klammern die Menschen mal aus, die von außerhalb reinfahren, aber auch hier: Sie fallen nicht nur durch ihr oft wüstes Fahrverhalten besonders auf, sondern es ist auch aus Gründen einer besseren Lebensqualität für alle, die hier wohnen, dringend erforderlich, dass am Stadtrand genug Möglichkeiten zum stressfreien Umsteigen auf die BVG und die S-Bahn geschaffen werden. So wird ein Schuh draus, den man in den Zeiten des Klimawandels ohne schlechtes Gewissen tragen kann. Wir unterstützten auch die Initiative „Berlin autofrei“.

Mittlerweile schon aus dem schlichten Grund, dass wir als Radfahrer gerne etwas länger leben würden, und das ist angesichts dessen, was hier seitens vieler Autofahrer:innen abgeht, keineswegs gewährleistet. Wir nehmen die Mehrheit wieder ausdrücklich aus, aber es reicht schon, wenn eine irre Minderheit rast, schneidet, abbiegt, blockiert, Dooring verursacht, widerrechtlich parkt, als ob das Leben anderer nichts zählen würde. Von der StVO gar nicht zu reden. Das klimapolitische Argument stand für uns lange im Vordergrund, leider ist es aufgrund persönlicher Alltagserfahrungen auf Rang zwei zurückgefallen.

Aber all dies gilt nicht nur für Berlin, es gilt nicht nur für die Verkehrswende. Mit welchen Aussagen die Politik, aber auch irgendwelche Spezialist:innen fürs Gesellschaftliche die Akvist:innen überziehen, ist bodenlos. Demokratiefeindlich oder gar in Gefahr, die nächste RAF-Generation zu werden, all das kann man nachlesen und staunt nur noch, angesichts der Gefahren des Klimawandels. Wir haben den warmen Oktober genossen, auch zum draußen sein verwendet, aber uns ist jederzeit klar, dass wir alle mit dem Feuer spielen, wenn wir nicht solche Erscheinungen kritisch hinterfragen und uns endlich aktiv für eine Wirtschaftswende einsetzen, die einen Klimawende erst möglich macht, und auch das nur auf lange Sicht.

Warum auch die Grünen die neuen Aktivist:innen kritisieren, obwohl sie selbst mit der Blockade-Politik in Sachen Atomkraftwerke sozialisiert wurden? Es ist zu offensichtlich geworden, dass auch die Grünen einen regelrechten Fail in Sachen zukunftsgerichteter Politik hinlegen, aber von ihrem schlechten Gewissen vielleicht doch geplagt werden als die Rechten und Scheinlinken, die ernsthaft FFF und jetzt auch LG mit „Law and Order“ begegnen wollen.

Bei den Straßenblockaden muss man bedenken, dass aus einer abstrakten Gefährdungslage, wie sie von den Aktivist:innen geschaffen wird, eine konkrete werden kann. Man kann auch nicht, wie wir das oben getan haben, die Sache nur relativ bewerten, indem man sagt: Was sind die Gefahren und Kosten dieser Aktionen gegen das, was unsere eigene Ignoranz uns kostet? Gegen die vielen unnötigen Verkehrstoten, gegen die anhaltend zu hohen CO2-Emissionen beispielsweise? Deswegen nun das Folgende. Wir treffen uns mit Forderungen der LG wieder, wie Tempo 100 auf Autobahnen (jedenfalls überwiegend) oder der Fortsetzung des 9-Euro-Tickets. Letzteres gibt es nicht, das ist längst klar, Ersteres in diesem Land wohl erst, wenn keine Einwohner mehr da sind, denen Raserei jetzt wichtiger ist als die Zukunft, also dann, wenn wir längst alle Opfer einer Umweltkatastrophe geworden sind.

Grundsätzlich befürworten wir die Aktionen von „LG“, die außerdem darauf hinweisen, dass diese so ausgefasst sind, dass Rettungseinsätze nicht behindert werden. Das kann bei zusätzlichen Staus nicht gewährleistet werden, ist unsere Ansicht dazu, aber es geht wohl mehr darum, dass nicht die Akvisti:nnen das direkte Hindernis bilden.

Jede Protestform, die in dieser dauerignoranten Gesellschaft und angesichts der zu dieser passenden Politik noch irgendetwas bewirken soll, muss eine gewisse Radikalität aufweisen, das ist die Essenz aus allem. Wählen gehen reicht nicht aus. Oder haben Sie den Eindruck, dass sich durch Regierungswechsel wirklich etwas bewegt? Und, ganz ehrlich, wollen Sie das überhaupt oder gehören Sie zur ultrabequemen Mehrheit, die erst dann laut wird, wenn ihr sprichwörtlich das Wasser bis zum Hals steht? Wir sind natürlich ein wenig beeinflusst durch die Mietenbewegung in Berlin, die immer wieder für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft vernichtende Niederlagen einfährt, weil sie sich auf friedliche Proteste beschränkt und die dadurch marginalisiert wird, dass das Kapital mit krudesten Mitteln, auch gewaltsam, von der Staatsmacht gegen Menschen, die nicht verdrängt werden wollen und deren Würde verteidigt wird. Das ist in dieser Stadt der Alltag. Das „Wunder von Berlin“ in Form einer von der Politik und den Bewegungen gemeinsam organisierten fairen Lösung eindeutig die Ausnahme.

Selbstverständlich haben wir uns wegen der Erkenntnisse, die aus solchen Beobachtungen folgen, auch damit befasst, dass diese Wirtschaftsform nicht grüngewaschen werden kann. Damit sind wir wieder bei den Grünen: Ihre Distanz zu „LG“ und oft und besonders zu Beginn auch zu „FFF“ ist Ausdruck von deren Wandlung hin zu einer politischen Kraft, die in vieler Hinsicht nicht mehr progressiv ist. Über die anderen Parteien brauchen wir   nicht erst viele Worte zu verlieren: die Aussagen von deren Vertretern zeigen allzu deutlich, dass es nicht um Menschen generell und nicht um unser aller Morgen geht. Widerstand hat sehr wohl eine ethische Komponente und muss in der vorliegenden Form auch von aktiver Gewalt gegen Menschen getrennt werden, die nach unserem Wissen von Angehörigen der „LG“ nicht ausgeübt wird.

Wir müssen aber festhalten, dass alles, was wir bisher geschrieben haben, keinen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund darstellt, wenn es zu Straftaten gegen das Leben anderer kommt: Ist der Fall zu bewerten, dass jemand während, aber auch wegen einer Blockade der „LG“ verstirbt, weil z. B. ein Rettungsfahrzeug nicht rechtzeitig am Unfallort ankommt, dann gilt, wie immer, der Grundsatz der Kausalität im Einzelfall in Form einer unabdingbaren Voraussetzung dafür, dass der Tod eingetreten ist und dass eine strafrechtliche Handlung sowie eine tatbestandliche Erfüllung infrage kommen. Ob und zu welcher Strafe das führt, muss dann vor Gericht verhandelt werden, wie bei jeder anderen Straftat, unabhängig vom motivischen Hintergrund. Dieses Risiko gehen die „LG“-Angehörigen also ein, wenn sie eine Lage nicht komplett überschauen können, die sie mit ihren Blockaden schaffen, aber wissen, dass so etwas passieren kann. Es wird zu Fällen kommen, in denen sie sich bedingten Vorsatz werden zurechnen lassen müssen. Sie haben dann so viel oder wenig wie jeder andere, der eine konkrete Straftat gegen das Leben begeht, mit der Schuldfrage zu leben und die Konsequenzen zu tragen.

Alles andere, wie die Ablehnung jeder aufsehenerregenden Aktion aufgrund ihrer formalen Rechtswidrigkeit, hier meist mit dem Tatbestand der Nötigung verknüpft, aber ist politisch motivierte Augenwischerei und das übliche reflexartige Anbiedern der Politik bei einer Mehrheit, die noch immer nicht verstanden hat, worum es geht: darum, dass auch diese Mehrheit eine Zukunft auf diesem Planeten hat.

TH

[1] Letzte Generation ist ein Bündnis von Aktivisten aus der Umweltschutzbewegung mit dem erklärten Ziel, durch Mittel des zivilen Ungehorsams Maßnahmen der deutschen und der österreichischen Bundesregierung gegen die Klimakrise zu erzwingen. Es bildete sich 2021 aus Teilnehmern des Hungerstreiks der letzten Generation. Ihre Anfang 2022 einsetzenden Aktionen bezeichnen die Aktivisten des Bündnisses als Aufstand der Letzten Generation. Der Begriff wurde von ihnen gewählt, weil die Überschreitung von Kippelementen im Erdklimasystem drohe und sie der letzten Generation angehörten, die verhindern könne, dass die Erde unbewohnbar wird. (Wikipedia)

[2] In dem Wikipedia-Artikel können Sie auch die wesentlichen Aktionen des Bündnisses bis zum 2. November 2022 nachlesen.

Briefing 49 (Briefing 48)

Unser 49. Briefing ist nach dem schweren Thema „Wagenknecht-Partei“ wieder ganz schlicht und Basis-Wissen Wirtschaft und Social Media, wie es sich für einen Donnerstagnachmittag gehört – bevor wir alle zum Wochen-Schlussspurt ansetzen.

Apropos – wie viel Zeit verbringen Sie eigentlich auf oder mit Twitter? Bei uns war es eine Zeitlang ziemlich viel, weil wir alle unsere Beiträge auch dort veröffentlichen und es während der Hochzeit unserer Berichterstattung zum Thema #Mietenwahnsinn auch einiges an Reaktionen gab. Was wir dabei unter anderem gelernt haben: uns ökonomischer zu verhalten. Das Engagement für andere hat Grenzen, wenn Support in den sozialen Medien nicht das Mindestergebnis seitens derer ist, die wir dort unterstützt haben. Mittlerweile ist alles viel intrinsischer und wir lassen uns kaum auf Diskussionen ein. Mögliche Ansätze dazu gibt es ohnehin nur noch dann und wann beim Thema Corona. Aber nicht erst, seit Elon Musk Twitter erworben hat und offenbar noch nicht versteht, wie die Community tickt, ist diese Plattform ins Gerede gekommen. Mehrere Politiker:innen haben sich beispielsweise mittlerweile von ihr distanziert.

Kleine Überraschung: Wir halten das für falsch. Wie man damit umgeht, ist entscheidend. Lieber eine:n Mitarbeiter:in mit der Führung des Accounts beauftragen, der Angriffe nicht persönlich nimmt und cool kontern kann, als gar nichts machen. Nach wie vor ist unser Eindruck, dass Twitter viel wirksamer ist, als es seiner Repräsentation in der Bevölkerung entspricht. Anders ausgedrückt: Viele Meinungsmacher:innen und solche, die es gerne wären, setzen dort ihre Markierungen und werden überproportional stark wahrgenommen. Im politischen Raum, aber auch für dieses Blog, halten wir Twitter nach wie vor für unverzichtbar. Auch, weil vergleichbare Angebote es nicht schaffen, sich gegen dieses Gezwitscher durchzusetzen. Falls es mal so kommt: Ist doch eh das Gleiche in Grün, Rosa oder welche Farbe die Alternative auch immer tragen würde. Twitter funktioniert u. E. auch in weiten Teilen anders als Facebook und wer auf der einen Plattform präsent ist und die andere weglässt, versteht nicht, dass erst diese beiden, mittlerweile wohl ergänzt durch Instagram oder bestimmte Chatmodule, einen professionellen Internetauftritt darstellen oder abrunden. Bei uns ist es eher das Abrunden, weil wir uns zurücknehmen und Zeit und Nerven sparen, siehe oben.

Was uns am unter der Grafik folgenden Text überrascht hat: Namen von Diensten, die wir noch nie gehört haben. Und dass Tumblr und Twitter als eine Kategorie von Social Media angesehen werden. Wir haben Tumblr bisher näher am Picturestore Flickr als an Twitter verortet, denn das Microblogging steht u. E. bei Tumblr nicht im Vordergrund. Dass Twitter selbst nicht so riesig ist, wie man annehmen könnte, sagt die Zahl der täglich aktiven Nutzer:innen aus, zu denen wir uns ebenfalls rechnen. Wir hätten diese Zahl weitaus höher eingeschätzt.

Infografik: Twitter-Alternativen weit abgeschlagen | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Seit dem 28. Oktober ist Tesla-CEO Elon Musk Besitzer des sozialen Netzwerks Twitter. Kaum eine Woche später hat Musk weitgreifende Änderungen an Teamzusammensetzungen und Strukturen des 2006 gegründeten Microblogging-Diensts entweder angekündigt oder direkt durchgeführt. Das Moderationsteam besteht laut übereinstimmenden Medienberichten mittlerweile nur noch aus 15 Personen, der gesamte Vorstand wurde entlassen und die Verifikation von Personen oder Institutionen öffentlichen Interesses wie Politiker:innen, Journalist:innen oder Marken in Form eines blauen Hakens soll in Zukunft allen Nutzer:innen im Rahmen des Abodiensts Twitter Blue für acht US-Dollar im Monat zugänglich sein.

Sich eher dem liberalen, progressiven oder linken Spektrum zuordnende Nutzer:innen befürchten zudem eine deutliche Zunahme von Hassrede und Diskriminierung, die je nach Auslegung unter Musks weithin bekannte Auffassung von Meinungsfreiheit fallen könnten. Wer allerdings nach ähnlich gut besuchten Alternativen im Microblogging-Bereich sucht, wird derzeit kaum fündig.

Wie unsere Grafik auf Basis von Unternehmensangaben zeigt, hatte Twitter im Juli 2022 beispielsweise 238 Millionen täglich aktive User:innen. Der 2007 gegründete Blogging-Dienst Tumblr, der 2013 für 1,1 Milliarden US-Dollar von Yahoo gekauft und 2019 für drei Millionen US-Dollar an den Blog-Hoster WordPress verkauft wurde, hat in den vergangenen zwei Jahren einen deutlich Beliebtheitsschub erfahren. Obwohl der Dienst mit 135 Millionen aktiven Accounts nicht an Twitter heranreicht, ist er derzeit die am stärksten genutzte direkte Alternative.

Kaum relevant sind die explizit als Twitter-Alternativen aufgefassten Dienste Mastodon und Cohost. Obwohl es bei ersterem am Tag nach der Übernahmeankündigung Musks laut Medienberichten 70.000 neue Account-Registrierungen gab, beteiligen sich Angaben von fediverse.party zufolge nur 1,3 Millionen Menschen aktiv an dem 2016 gegründeten Dienst. Eine genaue Zahl abzubilden ist allerdings schwierig. Mastodon besitzt keine globale Homepage, sondern ist in sogenannten dezentralen Instanzen organisiert, die von Einzelpersonen oder Teams betrieben werden und oft keine detaillierten Statistiken erheben. Mitglieder unterschiedlicher Instanzen können zwar untereinander kommunizieren, aber die jeweiligen Administrator:innen haben beispielsweise die Möglichkeit, bestimmte Instanzen auf Blacklists zu setzen, was die Darstellung von Inhalten und Kommunikation mit Nutzenden aus den entsprechenden Instanzen unmöglich macht.

Der Twitter-Tumblr-Mix Cohost, der sich seit 2020 in Entwicklung befindet und im Februar 2022 einem kleinen Kreis an User:innen zugänglich gemacht wurde, weist laut eigenen Angaben derzeit etwa 9.000 aktive User:innen auf. Der Dienst will eine werbe- und trackingfreie Alternative zu gängigen Social-Media-Portalen und chronologische statt algorithmisch bestimmte Timelines bieten. Ob Portale wie Cohost, Mastodon oder Tumblr auf Dauer eine Alternative zu Twitter darstellen können, bleibt weiter fraglich.

Ein wenig hatte das aktuelle Briefing auch den Charakter von „in eigener Sache“. Womit werden wir uns als Nächstes befassen? Vielleicht damit, das eine oder andere Thema doch geschlossener in Form eines Dossiers weiterzuentwickeln, das stets aktualisiert und ergänzt wird. Wir schreiben zu häufig das Gleiche, anstatt einfach auf das verweisen zu können, was wir zu einem Gegenstand bereits geschrieben und gesammelt haben.

TH

Briefing 48 (Briefing 47)

Unser 48. Briefing befasst sich mit der deutschen Parteienlandschaft. Speziell mit einer Politikerin, die jeder kennt und deren Verhalten so kontrovers diskutiert wird wie gegenwärtig bei sonst niemand in der Bundespolitk.

Vielleicht sollte man einschränken: Bei sonst niemandem, der keine Verantwortung trägt. Dass die „Macher“, also die Politiker:innen der Ampelkoalition ebenfalls die Gemüter erregen, in diesen Zeiten, versteht sich von selbst. Vielleicht wäre es ja auch besser gewesen, diese Politikerin irgendwann in die Verantwortung zu nehmen. Das hätte ihr die Möglichkeit genommen, sich gegen alle anderen zu stellen, auch gegen die politische Kraft, die immer noch ihre eigene Partei ist. Sie werden es sich schon gedacht haben, es handelt sich um Sahra Wagenknecht. Wie würde sich die politische Landschaft verändern, wenn sie eine eigene Partei gründen würde, der verschiedene Medien auf Anhieb zweistellige Ergebnisse bei Wahlen zutrauen würden?

Civey-Umfrage: Wie würden Sie es bewerten, wenn Sahra Wagenknecht (Linke) eine neue Partei gründen würde? – Civey

Der Begleittext von Civey dazu:

Sahra Wagenknecht (Linke) polarisiert. Im September erhitzte sie parteiübergreifend die Gemüter, als sie der Bundesregierung vorwarf, durch Sanktionen einen Wirtschaftskrieg mit Russland „vom Zaun zu brechen.” Es folgten Hunderte Parteiaustritte. Kürzlich sprach sie bei Bild TV von dem Wunsch einer neuen Partei, „die die Politik der Regierung verändern kann“.

Trotz anhaltender Dispute scheinen die Linken von ihr abhängig zu sein. Der Bild nach ist Wagenknecht derzeit die beliebteste Politikerin Deutschlands. Sollte sie die Linke verlassen, wäre die Partei der ARD zufolge „den Fraktionsstatus und damit Geld für Ressourcen und Personal los.” Denn danach könnten weitere Austritte folgen. Die nzz hält eine neue Partei aufgrund der mangelnden „Teamplayer“-Qualitäten der Gründerin indes für „unwahrscheinlich”.

Wagenknechts Beliebtheit hängt auch mit der Krisenpolitik der Bundesregierung zusammen. Der Spiegel verwies jüngst darauf, dass v.a. Geringverdienende unter den „unzureichenden Schutzmaßnahmen” und der sozialen Ungerechtigkeit leiden. Wagenknecht scheint viele daher mit ihrer direkten, gesellschaftskritischen Art abzuholen. AfD-Parteichefin Alice Weidel sprach kürzlich bei t-online von Wagenknecht als direkte Konkurrentin. Es wird vermutet, dass Wagenknecht viele Stimmen aus der AfD-Wählerschaft erhalten würde.

Wenn man sich über Jahre mit der Linken und Wagenknecht in der Linken so intensiv befasst hat wie wir, kann man das, was Civey oben geschrieben hat, nur als unterkomplex empfinden. Seit 2016 haben wir uns dem Thema und der Person gewidmet und als sie „Aufstehen“ mitinitiiert hatte, schrieben wir: Nur als Partei, die man wählen kann, würde diese „Bewegung“ funktionieren, etwa nach dem Vorbild des nationalistischen Linkspopulisten Jean-Luc-Mélenchon in Frankreich, der in der Tat für Wagenknecht und ihren Mann Oskar Lafontaine Vorbildfunktion hat oder zu jener Zeit hatte.

Andererseits: Die Frage muss auch für Menschen offen sein, die nicht, wie wir, die Linke von innen studiert haben und zu mittlerweile äußerst ernüchternden Ergebnissen gekommen sind. Auf der Demo „Solidarischer Herbst“ sprach uns ein sehr netter Genosse aus Zehlendorf an, der gemäß seinem dem Logo auf seinem Mund-Nasenschutz der KPF (der kommunistischen Plattform in der Linken) angehören sollte. Ich fragte ihn, er bestätigte mir das. Wir kamen is Gespräch und überein: Die einen können keinen Klassenkampf mehr, die anderen verfahren sich in schrägen Spins etwa zum Ukrainekrieg. Wagenknecht könne Ersteres übrigens auch nicht, tue sich aber bei Letzterem stark hervor, darüber waren wir uns ebenfalls einig. Ob ich nicht den Ortsverband wechseln bzw. wiedereintreten will. Es ist bekannt, dass mein Heimatbezirk Tempelhof-Schöneberg sehr wagenknechtlastig ist. Aber die Lage ist heillos verfahren, denn sozialistische Aufbauarbeit mit der „Gesellschaftslinken“ käme uns genauso wenig produktiv vor, wie Wagenknecht auf ihrem mittlerweile falschen Weg zu folgen. Allerdings war der Genosse auf der Demo auch ein Sonderfall, denn wir waren in einem wichtigen dritten Punkt d’accord: Antiimperialismus benötigt Äquidistanz, und das sehen führende Kräfte der KPF anders.

Haben Sie alles verstanden? Wenn Sie die Linke begreifen wollen, wie sie sich gegenwärtig zeigt, müssen Sie das leider und noch viel mehr als das. Wenn Sie Sahra Wagenknecht begreifen wollen, müssen sie bloß einen destruktiven, das nationale Großkapital hypenden Scheinsozialismus mit Putinfreundlichkeit verbinden können und schon haben Sie das Wesentliche beisammen. Leider. Das war nicht immer so, nicht so einseitig, so dominant, aber die Zeitenwende hat diese Tendenz entweder verstärkt oder für alle sichtbar gemacht.

Es ist für uns absolut kein Wunder, dass Alice Weidel Sahra Wagenknecht als Konkurrentin ansieht. Wagenknecht würde der AfD viele Stimmen wegnehmen, vor allem im Osten. Ob eine von ihr ins Leben gerufene Partei im Westen auf zweistellige Ergebnisse käme? Wir sind skeptisch, aber viele ihrer Anhänger:innen begreifen sich ja auch als Sachwalter:innen des Ostens. Eine Gemeinsamkeit mit der AfD, die sich dort beheimatet sieht. Obwohl kaum eine:r ihrer führenden Politiker:innen aus dem Osten stammt. Bei Wagenknecht ist das anders. Die Menschen dort finden sie authentisch, obwohl sie sozusagen emigriert ist und am Südwestrand der Bundesrepublik sehr gutbürgerlich lebt. Zusammen mit einem Mann, der nie ein Klassenkämpfer war, sondern ein Sozialdemokrat, der in der SPD vor der Ära Schröder nur knapp links des Mainstreams angesiedelt, und, das vergessen viele gerne, auch mal deren Vorsitzender war.

Dass sich heute viele Kommunisten in der Linken gerne solidarisch mit Wagenknecht zeigen, hat mit deren Putinfreundlichkeit zu tun. Es ist der Teil in der Linken, der aktuell auch dröhnend zur Revolte im Iran schweigt. Aus dem schlichten Grund, weil bei einem Abdanken des Mullah-Regimes einer der letzten wichtigen Verbündeten Putins verlorengehen könnte. Frau, Leben, Freiheit? Einem gewissen Cluster in der Linken ist das egal. Hauptsache, der Feind meines Feindes (der USA in dem Fall) ist mein Freund. Haben Sie schon gehört, dass Sahra Wagenknecht sich zu diesem größten und beeindruckendsten Freiheitskampf geäußert hat, der aktuell weltweit stattfinden? Wir nicht.

Wer Wagenknecht wählen will, muss wissen, dass er seine Stimme keiner Menschenfreundin gibt und keiner bewegungsorientierten oder klasenkämpferischen Sozialistin, das ist für uns ein wichtiges Ergebnis langjähriger Beobachtung und Analyse. Was immer sie ist, die NZZ hat einen wichtigen Punkt gemacht, als sie schrieb, es wird an ihrer Fähigkeit zum Teamplay fehlen, wenn es um den Aufbau von etwas ganz Neuem geht.

Allerdings auch hier eine Einschränkung: Sofern ihre Partei aufgebaut wäre, wie Parteien in der BRD nun einmal aufgebaut sind, nämlich als Sammlungen für politische ähnlich Denkende, dann wäre ihre Persönlichkeitsstruktur ein großes Hindernis. Wenn wir jedoch sehen, wie sich z. B. die erwähnte französische Demokratie entwickelt hat, wie es in Italien läuft oder vor einiger Zeit in Griechenland gelaufen ist, der muss berücksichtigen: Eine politische Kraft, die ganz auf eine Person zugeschnitten ist, kann sehr wohl etwas bewegen, wenn diese Person genug Gefolgsleute und Fans hat, die ihr den Rücken freihalten und es nicht zulassen, dass es innerhalb dieser Bewegung Meinungskämpfe geben kann, wie sie gerade unter Linken hinlänglich bekannt sind.

Allerdings: Regierungswirksam wurde auf diesem Weg vor allem das Mitte-Rechts-Lager, wie etwa der Neoliberale Emmanuel Macron in Frankreich, und im Hintergrund droht immer das Rassemblement National, die LePen-Bewegung, damit, eines Tages die Regierung zu bilden. Personenkult kann auch links sein, aber ganz tief im Inneren sind Linke dieser Art von Kult abhold und sie wissen, warum: Weil er anti-egalitär und anti-partizipativ, anti-emanzipativ und im Kern undemokratisch ist. Deswegen waren wir in besseren Zeiten Sahra Wagenknecht zwar gewogener als jetzt, aber nie unkritische Fans oder Gefolgsleute von ihr.

Wir sehen jedoch nicht, warum es in Deutschland prinzipiell nicht möglich sein sollte, eine Art personalisierter Bewegung zu schaffen. Um das böseste Beispiel nicht wegzulassen: Ein geewisser Adolf Hitler hat es vorgemacht. Auch die heutige „Die Linke“ war einmal stark an wenigen Führungspersönlichkeiten orientiert, als sie ihre beste Phase hatte. An Oskar Lafontaine aus dem Westen und Gregor Gysi aus dem Osten. Mit dieser Konstellation, etwas langfristig Unvereinbaren, war allerdings der Niedergang schon angelegt. Viele sind heute noch dankbar, dass Sahra Wagenknecht diesen Niedergang mit einem respektablen Wahlergebnis im Jahr 2017 aufzuhalten schien. Heute wissen wir, dass es sich um eine Scheinblüte handelte und dass ihre Popularität die Probleme überdeckte, die in ihrer Person, aber auch in einer Partei angelegt sind, die nicht zu ihr passt. Schon damals waren wir der Meinung, es hätte angesichts der zunehmenden sozialen Probleme ein zweistelliges Ergebnis für die Linke geben müssen. Es war aber nicht so und die Analyse dieses Gaps zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit wurde versäumt. Besonders bitter: Nach der Halbierung der Linken bei der Bundestagswahl 2021 findet dei Analyse ebenfalls entweder nicht statt oder keine Abnehmer:innen unter den linken Politiker:innen.

Mittlerweile ist wohl auch dem Letzten, insbesondere Sahra Wagenknecht klar, dass die Linke keine Chance mehr auf gute Ergebnisse hat und dass sie selbst dazu beiträgt, denn das sehen wir auch so: Ein guter Teil ihres Wählerpotenzials ist bei der AfD gebunden, solange Wagenknecht nicht unter eigener Flagge antritt.

Deswegen haben wir auch mit „sehr positiv“ gestimmt. Ja, wenn sie denn das Format respektive den Mut hat, soll sie es machen. Das würde eine Klärung des Kuddelmuddels in der Linken bewirken, die Querfront zwischen AfD und vielen Wagenknecht-Anhänger:innen offenlegen und die Linke könnte sich als Kleinpartei erneuern. Sie wäre dann gezwungen, wirklich links zu sein, um nicht wiederum von der SPD und den Grünen marginalisiert zu werden, während sich die AfD und die Wagenknechtianer:innen um eine Wählerschicht balgen können, zu der wir zum Beispiel nicht zählen. Die Gefahr für die Demokratie, die wir immer im Blick haben, wenn sich neue politische Entwicklungen ergeben, sehen wir hingegen als eher gering an. Niemals wird eine Wagenknecht-Partei die Wucht entwickeln, die Demokratie in Gefahr zu bringen. Vielmehr wird in der Tat die von Beobachtern prognostizierte Spaltung des rechten Lagers eintreten. Manche Menschen spalten eben, egal, wo und wie sie auftreten.

Ein Opfer wird auch die Linke sein. Auf den ersten Blick. In Wirklichkeit bekommt sie die Chance, es mal wieder mit profundem Sozialismus zu versuchen. Und vielleicht kommt jemand daher, der links wieder zum Strahlen bringen kann, ohne dass es dabei Ausfransungen nach rechts gibt. Vielleicht treten wir dann auch wieder ein. Man soll niemals nie sagen. Der Grund für unseren Austritt war nicht nur Wagenknecht, sondern auch die andere Seite, die sich in einem gesellschaftspolitischen Klein-Klein verheddert. Doch es gibt Restbestände echter Linker, mit denen man vielleicht etwas anfangen könnte. Wie jenen sympathischen Genossen, mit dem wir auf der Demo vor einer Woche gesprochen haben.

Das Herz an der richtigen Stelle und haben und wissen, dass man sowohl mit Wagenknecht wie auch mit ihren parteiinternen Gegner:innen dem Sozialismus keinen Schritt näher kommt, das ist eine Grundvoraussetzung für das Wiedererstehen von Solidarität und Gerechtigkeitssinn. Das ist für uns wichtiger als alle ideologischen Positionen. Diese sind vor allem deshalb so unvereinbar, weil ihre Vertreter:innen verbiesterte Typen sind, denen es vor allem ums Recht haben, nicht um die Menschen geht. Zu diesen Typen zählt leider auch Sahra Wagenknecht. Soll sie sich diejenigen holen, die ähnlich ticken wie sie selbst und die jetzt verblendet der AfD nachlaufen. Sie wird sich dabei auch einige handfeste Nazis einfangen, die versuchen werden, Wagenknecht für sich zu instrumentalisieren, aber das ist dann ihr Problem, nicht unseres.

Wir müssen nicht mehr das Gefühl haben, vielleicht eine Partei zu unterstützen, in der einige antidemokratische Geostrateg:innen alter stalinistischer Schule  zu viel, einige verkappte Nazis, dafür aber zu wenige Menschenfreund:innen unterwegs sind. Insofern: Soll Sahra Wagenknecht, wie in letzter Zeit häufig, das Richtige im Falschen tun und eine Partei gründen, die endlich die unerträglichen Zustände im linken bzw. pseudolinken Lager, die unendliche Reibungsverluste beendet und klar hervorbringt, wer welchen Geistes ist.

TH

Damit nicht ein Briefing nach dem anderen sich nur mit China befasst, heute zu etwas vollkommen anderem. Keine Angst, es geht noch am selben Tag oder spätestens morgen weiter mit diesem wichtigen Thema.

Heute fangen wir mit Wirtschaft an und enden mit Dingen, die man wirklich leicht ändern könnte, um die Menschen mental etwas zu entlasten, wenn die Politik sich einfach nur der Mehrheit anschließen würde, ohne Minderheiten tatsächlich zu diskriminieren. 

Die Inflation beherrscht wie kein anderes Thema derzeit das Denken:  

Das neue Maß der Dinge ist 57/33/50. Die Zeiten werden schlechter, warum sollen nicht die Realmaße unterhalb der Idealmaße liegen? 57 Prozent haben in einer aktuellen Umfrage die Inflation als wichtigste Sorge bezeichnet, ein Drittel muss sich beim Kauf „nicht existenzieller“ Konsumgüter bereits einschränken, die Hälfte hat am Monatsende kein Geld mehr übrig, um z. B. Vermögen zu bilden oder für noch schlechtere Zeiten zu sparen.

Nur 18 Prozent hingegen sehen derzeit den Ukrainekrieg als Hauptsorge an, ganz abgeschlagen der Klimawandel mit 6 Prozent und Corona mit drei Prozent. Das erklärt auch die Ignoranz gegenüber der Pandemie und leider auch gegenüber der ökologischen Katastrophe, an deren Relevanz sich nichts geändert hat: Themen, die nicht direkt das eigene Leben zur Hölle machen, werden beiseite geschoben. Es ist ganz natürlich und sogar gesund, in Krisenzeiten erst einmal die Prioritäten zu verschieben und sich neu ein- und auszurichten. Aber diese Verschiebung wird langfristig zu einer Verschärfung der Probleme führen, die jetzt in den Hintergrund treten, das muss uns klar sein.

Private Personen handeln durchaus richtig, wenn sie erst einmal schauen, wo sie jetzt sparen können, außerdem ist die kognitive und psychische Kapazität des Einzelnen begrenzt, daher verengt sich sein Fokus, wenn die Lage brenzlig wird. Dieser Schutzmechanismus ist überlebenswichtig. Doch die Politik muss vorausschauender denken, dafür hat sie unzählige Fachleute, die trotz der aktuellen Lage die Szenarien für eine bessere Zukunft weiterentwickeln können. Das ist ihr Job und der Job der Politiker:innen ist es, in Zusammenhängen zu denken und zu reden, damit die Bevölkerung nicht panisch nur noch ein Thema im Fokus hat, sondern auch die Chancen erkennt, die in im mehr oder weniger aufgezwungenen Wandel dieser vogelwilden Jahre liegen können.

Vielleicht sollte man mit den einfachen Dingen anfangen, den Zwang zu Vernunft und Wandel ernst zu nehmen? In der kommenden Nacht wird ja auch die Uhr wieder einmal umgestellt. In welche Richtung? Es gibt mindestens zehn Methoden, um sich das zu merken: Zeitumstellung: Vor oder zurück? Die besten Eselsbrücken | WEB.DE. Wohl dem, der diese Methoden in dem Moment abrufen kann, in dem sie gebraucht werden. Und es gibt eine Umfrage zum Thema:

Civey-Umfrage: Empfinden Sie die halbjährliche Zeitumstellung persönlich als belastend? – Civey

Der Erklärungstext dazu:

Am morgigen Sonntag wird hierzulande die Zeit von Sommer- auf Winterzeit (MEZ) umgestellt. Dann werden die Uhren von drei auf zwei Uhr um eine Stunde zurückgestellt. Theoretisch gewinnen wir so also eine Stunde Schlaf. Die Zeitumstellung ist weltweit umstritten. In Mexiko wurde die Sommerzeit gerade offiziell abgeschafft, da der gewünschte Energiespareffekt ausgeblieben sei.

Eigentlich sollte die Zeitumstellung nach einem Beschluss des Europäischen Parlaments von 2019 auch hier längst abgeschafft sein. Jedoch konnte sich die EU bisher nicht darauf einigen, ob die Sommerzeit oder die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) in Zukunft gelten soll. Den Mitgliedsländern ist es zwar freigestellt, für welche Zeit sie sich entscheiden. Allerdings soll ein Flickenteppich verhindert werden, der etwa Chaos bei internationalen Fahrplänen im Zug- und Flugverkehr erzeugen könnte.

Zeitumstellungen wurden eingeführt, damit die Menschen mehr Tageslicht nutzen können und Strom sparen. Allerdings hat sich gezeigt, dass die Menschen früh morgens mehr heizen. Zudem fühlen sich viele Menschen müde und schlapp nach der Zeitumstellung. Dies zeigt sich auch an erhöhten Krankmeldungen von Beschäftigten am Montag danach. Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin plädiert für die Winterzeit aufgrund des Tageslichts und des Blauanteils im Sonnenlicht.

Genau so sehen wir es auch: Weg mit der Zeitumstellung und bitte auf Winterzeit umstellen. Die Mehrheit ist zumindest bei uns, wenn es darum geht, ob die Zeitumstellung als störend empfunden wird. Wir haben aber nicht mit „eindeutig ja“, sondern mit „eher ja“ geantwortet. Denn morgen werden wir uns über die geschenkte Stunde freuen. Sie ist natürlich nicht wirklich geschenkt, sondern wurde uns im Frühjahr entwendet, es handelt sich also um eine Rückgabe. Wenn man diesen Vorgang als sich wiederholend innerhalb eines Jahres betrachtet, hat man auch schon einer der zehn Brücken, über die man gehen kann, ohne bei der Zeitumstellung in Not zu geraten: Was uns im Frühjahr geklaut wird, wir uns im Herbst zurückgegeben.

Im Herbst kommt auch wieder ein Thema auf, das uns am 31.12. jedes Jahr ebenso sicher beschäftigt wie im April und im Oktober die Zeitumstellung: Wie haltet ihr’s mit der Böllerei? Wir fangen dieses Jahr früh damit an, uns dagegen zu positionieren. Unterstützt durch diesen Artikel:

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Canan Bayram sagte dem Redaktionsnetzwerk dazu: „Ein Böllerverbot in Städten halte ich für unausweichlich.“ Sie unterstütze die Bundesländer in dem Wunsch, rechtssichere Verbote für Feuerwerkskörper einzuführen. „Klar ist, dass es unter Umwelt- und Gesundheitsschutzaspekten möglich und geboten sein sollte.“ Böllerverbot in Deutschland? Die Mehrheit ist dafür – WELT

Bayram ist in Berlin-Kreuzberg tätig. Sie weiß, wovon sie redet und wir wissen es als Bewohner des Nachbarbezirks auch. 57 Prozent der Befragten haben sich für ein Böllerverbot ausgesprochen, am höchsten war die Ablehnung in unserer Alterskohorte, am geringsten interessanterweise nicht bei den sehr jungen Menschen, die es gerne fetzig lieben, sondern in der nächstjüngeren Gruppe, die offenbar mit der Böllerei besonders stark sozialisiert wurde. Im Osten ist die Ablehnung eines Böllereverbots geringer als im Westen und besonders gering bei AfD-Anhänger:innen, von denen es wiederum im Osten besonders viele gibt und wodurch sozusagen der Kreis sich schließt.

Eine Mehrheit der Brandenburger hat sich in einer Umfrage gegen ein Böllerverbot zu Silvester ausgesprochen. In einer repräsentativen Umfrage des Instituts Insa-Consulere im Auftrag der Verbraucherzentrale Brandenburg sprachen sich 50 Prozent der Befragten gegen ein Verbot aus, nur 45 Prozent stimmten dafür. 5 Prozent der Befragten antworteten mit „weiß nicht“ oder machten keine Angabe. Bundesweit stimmte dagegen eine Mehrheit von 53 Prozent für ein Böllerverbot, 39 Prozent waren dagegen. (…) Große Zustimmung für ein Verbot gab es bei den Wählern von Grünen, SPD und Linke – dagegen stimmten fast zwei Drittel der Anhänger der AfD und 71 Prozent der Wähler von BVB/Freie Wähler. Die Anhänger von CDU und FDP zeigten sich mit Werten von 47 bis 49 Prozent in beiden Lagern gespalten.

Eindeutig: Je mehr Empathie Menschen haben, desto eher sind sie für ein Böllerverbot, daher überrascht der hohe Ablehner-Anteil bei AfD-Anhänger:innen keinesfalls. Mehrheit in Brandenburg gegen Böllerverbot zu Silvester (bz-berlin.de) und freie Wähler haben ja oft dieses Verständnis von Frieheit: Die Freiheit ist stets meine Freiheit, nie jene der anderen.

In Berlin dürfte es, anders als in Brandenburg, aufgrund der Erfahrungen mit Krach, Gefährdung und Müll eine deutliche Mehrheit für ein Böllerverbot geben. Aber solange die hiesige SPD gegen den Willen ihrer eigenen Wähler die Knallerei zum Nachteil aller, manchmal auch der Beteiligten, als eine Art Volksgut ansieht und mit der gegenüber ihrem Vorgänger deutlich populistischeren Franziska Giffey als Regierende Bürgermeisterin werden wir auch dieses Jahr vermutlich wieder im wörtlichen Sinne nicht erhört werden.

Dabei wird nun sogar der Ukrainekrieg als zusätzliches ethisches Argument gegen die Böllerei ins Feld geführt. Klappen wird es wohl nur dann, wenn die meisten einfach kein Geld mehr für solchen Quatsch haben und das heißt, es wird dauern und dauern. Denn die Leute, die ebenjenen Quatsch für unverzichtbar halten, essen lieber weniger und schlechter, dem Motto „Freier Quatsch für freie verarmte Bürger“ folgend, als freiwillig vernünftig zu sein. In anderen Ländern bzw. deren Großstädten ist man da schon viel weiter, aber dort wird auch nicht, wie besonders im Osten der Republik und mehr als 30 Jahre nach der Wende, Freiheit immer noch als Freiheit, andere ungehindert belästigen und gefährden zu dürfen, ausgelegt. Es ist vieles, zum Beispiel der Wert der Rücksichtnahme, auch eine Frage der Bildung, und mit der geht es in Deutschland bekanntlich abwärts.

Wir möchten wetten, dass der Knallereibefürworter:innenanteil unter den Querdenker:innen (wir meinen damit nicht speziell und ausschließlich jene in Sachen Corona) besonders hoch ist. Kommt das daher, dass diese Spezies dazu tendiert, einen Knall zu haben? Oh je, wieder ein offenes Fass.

TH

Damit nicht ein Briefing nach dem anderen sich nur mit China befasst, heute zu etwas vollkommen anderem. Keine Angst, es geht noch am selben Tag oder spätestens morgen weiter mit diesem wichtigen Thema.

Heute fangen wir mit Wirtschaft an und enden mit Dingen, die man wirklich leicht ändern könnte, um die Menschen mental etwas zu entlasten, wenn die Politik sich einfach nur der Mehrheit anschließen würde, ohne Minderheiten tatsächlich zu diskriminieren. 

Die Inflation beherrscht wie kein anderes Thema derzeit das Denken: 

Aber in der kommenden Nacht wird ja auch die Uhr wieder einmal umgestellt. In welche Richtung? Es gibt mindestens zehn Methoden, um sich das zu merken: Zeitumstellung: Vor oder zurück? Die besten Eselsbrücken | WEB.DE. Wohl dem, der diese Methoden in dem Moment abrufen kann, in dem sie gebraucht werden. Und es gibt eine Umfrage zum Thema:

Civey-Umfrage: Empfinden Sie die halbjährliche Zeitumstellung persönlich als belastend? – Civey

Der Erklärungstext dazu:

Am morgigen Sonntag wird hierzulande die Zeit von Sommer- auf Winterzeit (MEZ) umgestellt. Dann werden die Uhren von drei auf zwei Uhr um eine Stunde zurückgestellt. Theoretisch gewinnen wir so also eine Stunde Schlaf. Die Zeitumstellung ist weltweit umstritten. In Mexiko wurde die Sommerzeit gerade offiziell abgeschafft, da der gewünschte Energiespareffekt ausgeblieben sei.

Eigentlich sollte die Zeitumstellung nach einem Beschluss des Europäischen Parlaments von 2019 auch hier längst abgeschafft sein. Jedoch konnte sich die EU bisher nicht darauf einigen, ob die Sommerzeit oder die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) in Zukunft gelten soll. Den Mitgliedsländern ist es zwar freigestellt, für welche Zeit sie sich entscheiden. Allerdings soll ein Flickenteppich verhindert werden, der etwa Chaos bei internationalen Fahrplänen im Zug- und Flugverkehr erzeugen könnte.

Zeitumstellungen wurden eingeführt, damit die Menschen mehr Tageslicht nutzen können und Strom sparen. Allerdings hat sich gezeigt, dass die Menschen früh morgens mehr heizen. Zudem fühlen sich viele Menschen müde und schlapp nach der Zeitumstellung. Dies zeigt sich auch an erhöhten Krankmeldungen von Beschäftigten am Montag danach. Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin plädiert für die Winterzeit aufgrund des Tageslichts und des Blauanteils im Sonnenlicht.

Genau so sehen wir es auch: Weg mit der Zeitumstellung und bitte auf Winterzeit umstellen. Die Mehrheit ist zumindest bei uns, wenn es darum geht, ob die Zeitumstellung als störend empfunden wird. Wir haben aber nicht mit „eindeutig ja“, sondern mit „eher ja“ geantwortet. Denn morgen werden wir uns über die geschenkte Stunde freuen. Sie ist natürlich nicht wirklich geschenkt, sondern wurde uns im Frühjahr entwendet, es handelt sich also um eine Rückgabe. Wenn man diesen Vorgang als sich wiederholend innerhalb eines Jahres betrachtet, hat man auch schon einer der zehn Brücken, über die man gehen kann, ohne bei der Zeitumstellung in Not zu geraten: Was uns im Frühjahr geklaut wird, wir uns im Herbst zurückgegeben.

Im Herbst kommt auch wieder ein Thema auf, das uns am 31.12. jedes Jahr ebenso sicher beschäftigt wie im April und im Oktober die Zeitumstellung: Wie haltet ihr’s mit der Böllerei? Wir fangen dieses Jahr früh damit an, uns dagegen zu positionieren. Unterstützt durch diesen Artikel:

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Canan Bayram sagte dem Redaktionsnetzwerk dazu: „Ein Böllerverbot in Städten halte ich für unausweichlich.“ Sie unterstütze die Bundesländer in dem Wunsch, rechtssichere Verbote für Feuerwerkskörper einzuführen. „Klar ist, dass es unter Umwelt- und Gesundheitsschutzaspekten möglich und geboten sein sollte.“ Böllerverbot in Deutschland? Die Mehrheit ist dafür – WELT

Bayram ist in Berlin-Kreuzberg tätig. Sie weiß, wovon sie redet und wir wissen es als Bewohner des Nachbarbezirks auch. 57 Prozent der Befragten haben sich für ein Böllerverbot ausgesprochen, am höchsten war die Ablehnung in unserer Alterskohorte, am geringsten interessanterweise nicht bei den sehr jungen Menschen, die es gerne fetzig lieben, sondern in der nächstjüngeren Gruppe, die offenbar mit der Böllerei besonders stark sozialisiert wurde. Im Osten ist die Ablehnung eines Böllereverbots geringer als im Westen und besonders gering bei AfD-Anhänger:innen, von denen es wiederum im Osten besonders viele gibt und wodurch sozusagen der Kreis sich schließt.

Eine Mehrheit der Brandenburger hat sich in einer Umfrage gegen ein Böllerverbot zu Silvester ausgesprochen. In einer repräsentativen Umfrage des Instituts Insa-Consulere im Auftrag der Verbraucherzentrale Brandenburg sprachen sich 50 Prozent der Befragten gegen ein Verbot aus, nur 45 Prozent stimmten dafür. 5 Prozent der Befragten antworteten mit „weiß nicht“ oder machten keine Angabe. Bundesweit stimmte dagegen eine Mehrheit von 53 Prozent für ein Böllerverbot, 39 Prozent waren dagegen. (…) Große Zustimmung für ein Verbot gab es bei den Wählern von Grünen, SPD und Linke – dagegen stimmten fast zwei Drittel der Anhänger der AfD und 71 Prozent der Wähler von BVB/Freie Wähler. Die Anhänger von CDU und FDP zeigten sich mit Werten von 47 bis 49 Prozent in beiden Lagern gespalten.

Eindeutig: Je mehr Empathie Menschen haben, desto eher sind sie für ein Böllerverbot, daher überrascht der hohe Ablehner-Anteil bei AfD-Anhänger:innen keinesfalls. Mehrheit in Brandenburg gegen Böllerverbot zu Silvester (bz-berlin.de) und freie Wähler haben ja oft dieses Verständnis von Frieheit: Die Freiheit ist stets meine Freiheit, nie jene der anderen.

In Berlin dürfte es, anders als in Brandenburg, aufgrund der Erfahrungen mit Krach, Gefährdung und Müll eine deutliche Mehrheit für ein Böllerverbot geben. Aber solange die hiesige SPD gegen den Willen ihrer eigenen Wähler die Knallerei zum Nachteil aller, manchmal auch der Beteiligten, als eine Art Volksgut ansieht und mit der gegenüber ihrem Vorgänger deutlich populistischeren Franziska Giffey als Regierende Bürgermeisterin werden wir auch dieses Jahr vermutlich wieder im wörtlichen Sinne nicht erhört werden.

Dabei wird nun sogar der Ukrainekrieg als zusätzliches ethisches Argument gegen die Böllerei ins Feld geführt. Klappen wird es wohl nur dann, wenn die meisten einfach kein Geld mehr für solchen Quatsch haben und das heißt, es wird dauern und dauern. Denn die Leute, die ebenjenen Quatsch für unverzichtbar halten, essen lieber weniger und schlechter, dem Motto „Freier Quatsch für freie verarmte Bürger“ folgend, als freiwillig vernünftig zu sein. In anderen Ländern bzw. deren Großstädten ist man da schon viel weiter, aber dort wird auch nicht, wie besonders im Osten der Republik und mehr als 30 Jahre nach der Wende, Freiheit immer noch als Freiheit, andere ungehindert belästigen und gefährden zu dürfen, ausgelegt. Es ist vieles, zum Beispiel der Wert der Rücksichtnahme, auch eine Frage der Bildung, und mit der Bildung geht es in Deutschland bekanntlich bergab.

Wir möchten wetten, dass der Knallereibefürworter:innenanteil unter den Querdenker:innen (wir meinen damit nicht speziell und ausschließlich jene in Sachen Corona) besonders hoch ist. Kommt das daher, dass diese Spezies dazu tendiert, einen Knall zu haben? Oh je, wieder ein offenes Fass.

TH

Briefing 46 (hier zu Briefing 45)

Liebe Leser:innen, wir haben es geschafft. Die Bundesregierung hat auf uns gehört und den 24,9-Prozent-Deal mit China über ein Hamburger Hafenterminal abgeschlossen – und ist somit unterhalb der Sperrminorität von 35 Prozent geblieben. Das war tatsächlich unser Vorschlag im 44. Briefing. Selbstverständlich war unser Vorschlag nicht kausal für das Handeln der Regierung, aber wir dürfen uns trotzdem darüber freuen, dass eine sinnvolle Idee, die wir schon hatten, bevor öffentlich darüber diskutiert wurde, dass ein vernünftiger und konstruktiver Mittelweg mögliciherweise Realität werden wird. 

Den anderen Teil, eine Überkreuzbeteiligung am Hafen von Schanghai, haben wir nicht wirklich ernst gemeint, nicht für hier und jetzt, denn so etwas muss wachsen. Das Verständnis, dass Wirtschaftsbeziehungen ausgeglichen gestaltet werden müssen, muss wachsen. Die Einsicht in Europa, dass man China nicht durch Uneinigkeit und dumpfen Egoismus Tür und Tor öffnen darf, muss wachsen. Eine strategische Politik geht nicht von heute auf morgen, nur, weil Journalist:innen es fordern, sondern muss wachsen. Ebenso wie eine neue strategische Ausrichtung Russland gegenüber und im laufenden Krieg und den Auseinandersetzungen, die kommen werden.

Wir haben erstmals bei Markus Lanz vorgestern Abend gehört, dass nun tatsächlich eine abgespeckte Version des Deals in Rede steht, als Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD, befragt wurde. Er hat übrigens gut erklärt, was Scholz vorhat und warum der Mittelweg aktuell der Beste ist, aber Lanz bleibt Lanz, da kann man nichts machen. Lassen Sie sich von seinen Behauptungen nicht manipulieren, die Darstellung des SPD-Manns war so logisch und präzise, wie sie in einem solchen Format sein kann.

Es wäre falsch gewesen, dem chinesischen teilstaatlichen Unternehmen COSCO die Nase vor der Tür zuzuknallen und es geht auch nicht darum, mit China keinen Handel mehr zu treiben. Sondern um eine umsichtige und vorsichtige Neuorientierung, die unfassbare Deals wie etwa den Verkauf des Industrieroboterherstellers KUKA komplett nach China vor einigen Jahren künftig verhindert. Dieses Geschäft war auch nur die Spitze des Eisbergs, der deutsche Maschinenbau, der Industrieunternehmen in aller Welt mit Investitionsgütern ausrüstet, ist schon in einem viel zu hohen Maße mit China liiert.

Die angesprochene Firma war insofern besonders, als sie Meta-Wissen über hiesige Industrieabläufe besitzt. Doch die Merkel-Regierung hat dies und mehr einfach laufen lassen. Ihr Nachfolger Olaf Scholz und das Kanzleramt haben mit ihrem ersten vorsichtigen Schritt in Richtung Grenzen setzen alles richtig gemacht, was man in der aktuellen Lage richtig machen konnte. Gleichwohl waren auch die Warnungen der „Dienste“ und der Fachministerien richtig und hoffentlich sind sie nicht umsonst gewesen. Und vor allem darf die Beteiligung nicht in einem weiteren Schritt, der vielleicht schon vereinbart ist, ohne dass die Öffentlichkeit davon weiß und vorgenommen wird, wenn gerade keiner so genau hinschaut – nein, sie darf nicht einfach so erhöht werden, egal, ob die übrigen Europäer ihr Tafelsilber komplett verscherbeln. Einige tun dies nicht und lassen es auch nicht zu, dass Deutschland sich bei ihnen breit macht, wie man vor einiger Zeit am geplatzten Siemens-Alstom-Deal sehen konnte. Es gibt in dieser Richtung viele weitere Einseitigkeiten.

Auch innerhalb Europas muss endlich Reziprozität eintreten, da muss und darf Kanzler Scholz sich mehr ins Zeug legen, als seine Vorgängerin dies getan hat. Dass gewisse Nachbarn im Westen ihre Märkte abschotten, in Deutschland aber ungehindert Zugang erhalten, das war eine Blaupause für das zu einseitig verlaufende China-Geschäft und ist seit Jahrzehnten schädlich für die deutsche  Industrie. Die Marktliberalen hierzulande haben mit ihrer Ideologie der Nichteinmischung des Staates selbst in hochgradig systemrelevante Geschäfte erheblich dabei geholfen, das Land abhängiger von anderen zu machen. Dass sie jetzt den China-Deal bezüglich des Hafenterminals mit besonders markigen Worten kritisieren, ist lächerlich bis zum Mond und zurück und da ist eine frivole Form von Unehrlichkeit drin, die wir ihnen nicht durchgehen lassen dürfen.

Es wird sich nicht vermeiden lassen, auch mit Diktaturen Handel zu treiben, vor allem dann nicht, wenn sie so groß sind wie China, sonst wird Deutschland wirklich abgehängt werden. Aber nur eines wird die Unabhängigkeit wirklich sichern: Technologisch wieder hinter den Ball zu kommen und mehr anzubieten als den Ausverkauf der hiesigen Industrielandschaft. Zum Beispiel jene Autarkie, die Wahlmöglichkeiten eröffnet. Jene Nachhaltigkeit, die Vorbildfunktion haben kann. Darin liegt eine Riesenchance, denn China ist dermaßen auf weiteres quantitatives Wachstum angewiesen, dass es in Sachen Transformation nicht mit der europäischen Wirtschaft mithalten kann, deren hoher Sättigungsgrad es ermöglicht, nicht wahllos und auch nicht strategisch durch Aufkaufen der Welt, sondern für eine bessere Welt zu investieren. Es ist möglich, den Trend zu wenden, aber man muss beherzt an der richtigen Stelle Geld in die Hand nehmen.

Dass das nur zusammen mit den Partnern in der EU und den USA geschehen kann, ist aus Gründen der Größenordnung klar, aber im Notfall muss auch der eine oder andere Alleingang erlaubt sein, wenn es um die Entwicklung einer strategischen Wirtschaftspolitik geht, die wir seit vielen Jahren fordern und von der wir dank der ignoranten Merkel-Regierungen, an denen auch die SPD dreimal beteiligt war, weit entfernt sind.

Es war zum Haare raufen, wie dämlich die hiesige Politik sich diesbezüglich angestellt hat. Vielleicht, so stand es kürzlich in einem Kommentar, hat der Hafendeal immerhin den Vorteil, dass jetzt eine breitere Öffentlichkeit wach zu werden scheint. Bisher haben wir uns mit unseren Forderungen nach einer strategischen Wirtschaftspolitik oft ziemlich alleine gefühlt. Dabei lag es klar auf der Hand, wie gefährlich dieses Den-Kopf-in-den-Sand-Stecken ist. Für die Wirtschaft, auf lange Sicht, aber auch für die Demokratie, die uns besonders am Herzen liegt.

Hat die chinesische Seite dem etwas downgesizten Hamburg-Deal eigentlich schon zugestimmt? Falls sie das nicht tut, sollten umso mehr die Alarmglocken schrillen und es darf keine weiteren Zugeständnisse geben. Jetzt ist der Moment, einen leisen, aber konsequenten Turnaround einzuleiten. Und hier ist die Symbolik eines Unterschieds von nur 10 Prozent Beteiligung elementar: Die Sperrminorität bei Entscheidungen einer Firma liegt bei 25 Prozent und über sie zu verfügen oder nicht, macht einen erheblichen Unterschied. Dieses Sinnbild, das im Hafendeal erkennbar ist, werden die Chinesen sofort verstehen, weil sie sich auf Symbolik verstehen. Das, was wir hier sehen, muss eine Prämisse für alles werden, was künftig bei großen China-Deals zu entscheiden ist. Handel ja, Einfluss aber nur bis zu einer Grenze, die Deutschland im Krisenfall nicht wieder einmal handlungsunfähig macht. Wenn es läuft, wie es derzeit vorgesehen zu sein scheint, haben beide Seiten das Gesicht gewahrt. Die deutsche Politik ist häufig viel zu rudimentär, um diesem Aspekt eine Bedeutung beimessen zu können, für die chinesische Politik gilt das aber nicht. Wir hoffen, alle haben verstanden und wir sehen in den kommenden Jahren endlich wieder etwas wie Gestaltungspolitik, die vorausschauend ist und aktiv den Herausforderungen in der Welt begegnet.

Unsere heutige Grafik befasst sich notabene wieder mit den deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen. Wir haben im letzten Briefing schon angedeutet, dass die Handelsbilanzungleichheit für uns nicht das Hauptproblem darstellt, aber warum nicht auch sie mal zeigen, hat man sich bei Statista wohl gedacht und eine entsprechende Grafik erstellt:

Infografik: Deutsche Wirtschaft so abhängig von China wie nie | Statista

 

Die deutsche Wirtschaft war noch nie so abhängig von China wie im vergangenen Jahr. Das zeigt der Blick auf den deutschen Handelsbilanzsaldo mit China: Er hat 2021 mit rund 39 Milliarden Euro einen neuen Allzeit-Negativrekord aufgestellt. Die Handelsbilanz bezeichnet den Wert der Warenexporte minus dem Wert der Warenimporte. Ein positiver Wert bedeutet einen Handelsbilanzüberschuss, ein negativer Wert ein Handelsbilanzdefizit. Deutschland importiert also Waren mit einem deutlichen höheren Wert aus China, als es selbst dorthin exportiert.

Hierzulande wird nicht erst seit der geplanten Cosco-Beteiligung am Hamburger Hafen darüber diskutiert, ob und wie die deutsche Wirtschaft ihre hohe Abhängigkeit von China reduzieren soll. Sollte China den Konflikt mit Taiwan eskalieren lassen, gelten internationale Wirtschaftssanktionen gegen China als wahrscheinlich. Das hätte entsprechende negative Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft.

Wie diese Statista-Grafik zeigt, ist China längst der wichtigste Player im Hamburger Hafen. So liegt der Anteil Chinas am dortigen Containerumschlag bei rund 30 Prozent. Erst mit großem Abstand folgen die USA, Singapur und Russland. In Containern gemessen wurden im vergangenen Jahr im Hamburger Hafen 2,56 Millionen Standard-Container aus und nach China umgeschlagen.

Noch ein Schlusswort muss sein: Die Journalist:innen, die jetzt, ähnlich wie im Ukrainekrieg, „Eskalation!“ bzw. „Eine Schande, wir haben uns reinlegen lassen!“ kreischen, aber sich jahrelang nicht mit dem Thema China befasst haben, sollten mal etwas auf dem Teppich bleiben. Denn sie hatten ebensowenig wie die Merkel-Regierungen, denen sie immer affirmativ zur Seite standen, einen Plan davon, wie eine tatsächlich umsetzbare Strategie gegenüber China aussehen könnte.  

TH

UPDATE 2. Briefing 45 (hier zu Briefing 44, Update): Liebe Leser:innen, das Briefing wächst sich gegenwärtig zu einer Aktionsfolge aus und zu einem monothematischen Infoblock mit immer neuen Dante. Das liegt am brandaktuellen Thema, zu dem es fast im Stundentakt Neues gibt:

Hallo Thomas Hocke,

Teile des Hamburger Hafens nicht an das chinesische Regime verscherbeln: Du und mehr als 200.000 Menschen haben unseren Eil-Appell an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterschrieben. Morgen bei der Kabinettssitzung im Kanzleramt kommt das Hafen-Geschäft auf den Tisch. Es droht ein brandgefährlicher Deal: Wenn der chinesische Staatskonzern Cosco Teile des größten deutschen Hafens übernimmt, treibt das unsere Wirtschaft noch mehr in die Abhängigkeit des autoritären Herrschers Xi Jinping. Das darf Scholz nicht zulassen!

Mit einem Banner, Schildern und lauten Sprechchören stehen wir morgen ganz früh direkt vor dem Kanzleramt und zeigen: Wir Bürger*innen sind gegen den Hafen-Ausverkauf! Auch die Presse ist eingeladen. Unter den Augen der Öffentlichkeit kann Scholz sein Klüngeln mit dem Despoten in Peking nur noch schwer rechtfertigen. Er soll den Hamburger Hafen sichern und den China-Deal stoppen.

Ort: Kanzleramt, Willy-Brandt-Straße 1, 10557 Berlin

Zeit: Mittwoch, 26.10., 7.30 Uhr

Wenn Du kommst, teile uns das doch bitte in einer kurzen Mail an aktion@campact.de mit. Dann können wir besser planen. Und bringe gerne eine selbst gestaltete Fahne oder ein Plakat mit. So wird die Aktion noch bunter.

Herzliche Grüße

Lara Eckstein, Campaignerin

PS: Dieses Mal ist es besonders knapp. Um möglichst viele Menschen morgen früh vors Kanzleramt zu mobilisieren, brauchen wir Deine Hilfe: Leite die Mail bitte an Freund*innen und Bekannte weiter.

So viel Alarm ist selten, sogar in dieser Zeit der Krisen. Aber wir finden die Aktion gut, denn es gilt, die Politik so nach wie möglich an ihren Ausübungsorten zu stellen. Nachdem wir im Ausgangsartikel des Briefings etwas umfassender informiert und argumentiert und den EIl-Appell von Campact unterzeichnet haben (untenstehend), empfehlen wir denen, die es können, morgen früh schon vor dem Kanzleramt zu stehen. Denn morgen ist der letzte Tag, an dem der China-Hamburg-Deal in seiner bisher vorgesehenen Form gestoppt werden kann. Wenn Kanzler Scholz hier nicht auf alle sechs beteiligten Fachministerien hört und nicht auf die Bürger:innen, wird er sich wieder mehr Fragen stellen lassen müssen. Wir haben ihn zuletzt deutlich unterstützt, weil er im Ukrainekrieg eine Position vertritt, die Möglichkeiten in alle Richtungen offen lässt. Aber nun die nächste Abhängigkeit verstärken? 

Wir haben hier eine aktuelle Statista-Grafik, die belegt, wie weit die chinesische Staatsfirma Cosco bereits in Europa vorangekommen ist.

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die Bundesregierung setzt sich laut Medienberichten weiter für einen Teilverkauf des Containerterminals Tollerort (CTT) an COSCO ein. Statt 35 Prozent soll der chinesische Staatskonzern aber nur 24,9 Prozent des CTT von der Hamburger Hafen und Logistik AG übernehmen dürfen. Als Minderheitsaktionär hätte die Reederei keinen Einfluss auf die Geschäftsführung. Bereits jetzt hält COSCO Beteiligungen an vier der fünf größten EU-Containerhäfen, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt. Insgesamt ist das Unternehmen an acht europäischen und sieben weiteren internationalen Häfen vertreten. Während die sechs Ministerien, die bislang gegen den COSCO-Einstieg in Hamburg waren, überwiegend ihren Widerstand aufgegeben zu haben scheinen, zeigen sich andere Kritiker:innen weiterhin beunruhigt. „So wenig, wie es in der Natur ein bisschen schwanger gibt, so wenig gibt es bei dem Hafendeal in Hamburg ein bisschen chinesisch. Entweder man lässt sich auf das Geschäft ein oder man lässt es“, so die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

MASZ ist ja immer für eine Pointe gut, siehe Ukrainekrieg, aber es gäbe sehr wohl die Möglichkeit, an der konkreten Gestaltung des Deals etwas in der Richtung zu ändern, dass der chinesische Einfluss weniger massiv wäre.

Der Hamburger Hafen  ist der letzte der Big Five im Containergeschäft, an sie noch nicht beteiligt ist. Das alles war für uns in Deutschland bisher kaum ein Matter of Interest, es wurde höchstens in Fachzeitschriften darüber publiziert und es ist höchste Zeit, dass sich das ändert, denn diese Häfen gehören zu kritischen und systemrelevanten Infrastruktur. Das überdurchschnittliche Wachstum der niederländischen Wirtschaft in den letzten Jahren ist vor allem zwei Faktoren zu verdanken: Der nicht neuen, aber immer wirkungsvollen Idee, mit günstigen Steuerkonditionen Firmensitze aus aller Welt buchstäblich an Land zu ziehen und sich damit fragwürdige Wettbewrbsvorteile zu verschaffen, und den China-Deals, die den Top-Hafen der Niederlande gestärkt haben (ebenso den größten belgischen Hafen Antwerpen). Über den Fall Piräus haben wir mehrfach berichtet,  zunächst, als 2016 der Deal zustandekam.

Nun fragen wir uns: Was ist, wenn zwischen der EU und China die Interessenkonflikte zunehmen und wichtige Branchen so starkvon diesem Land achängig sind? In Deutschland sind es noch nicht die Häfen, wohl aber die Autoindustrie. Das enorm wichtige China-Geschäft ist auch einer der Gründe, warum Deutschland und die Niederlande wirtschaftspolitisch oft an einem Strang ziehen. Aber Wertepolitik lässt sich durch die einseitige Gestaltung dieser Beziehungen eben nicht durchsetzen. Es wird ohnehin ein sehr langwieriger Prozess ein, so gegenzusteuern, dass niemand das Gesicht verliert und alle Interessen berücksichtigt werden, ohne dass man China weiterhin einfach machen lässt. 

Das Dilemma zwischen einer Abkehr von der Verscherbelungspolitik und einer mittlerweile sogar durch Drohungen von chinesischer Seite unterstützte Lesart, die besagt, dass man sich ansonsten unweigerlich starke Nachteile im Wettbewerb einhalt, ist leider nicht von der Hand zu weisen und ein weiterer Fail der ignoranten Merkel-Politik. Aber die ersten Zeichen gegen das ungebremste und nicht reziproke Wachstum Chinas in Europa müssen jetzt langsam gesetzt werden. Die EU hat diesbezüglich ein Koordinationsforum geshafffen. Viel zu spät natürlich wieder und wir sind schon gespannt, ob am Ende nicht doch wieder die nationalen Eigeninteressen alle Ansätze einer strategischen WIrtschaftspolitik zunichte machen werden. Genau darauf setzt China, dass die Vielfalt und auch der Egoismus in der EU nichts ausrichten werden gegen ein zentral gesteuertes Wirtschaftsimperium, das eine Binnenbevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen für den Kampf der Systeme zur Verfügung hat. Im Grunde müsste der gesamte Westen inklusive den USA ganz eng koordiniert arbeiten, um die daraus erwachsende Gefahr abzuwehren. Derlei ist nicht in Sicht, also muss eben doch erst einmal national operiert werden. Möglicherweise auch um den Preis eines geringeren Wirtschaftswachstums in den nächsten Jahren, aber mit Freiheit für die eigenständige Gestaltung der Zukunft.

Morgen früh vor dem Kanzleramt, das wird bei uns leider nicht funktionieren, wegen eines wichtigen Termins schon recht früh. Wir waren dort erst am Wochende, anlässlich der Demo #SolidarischerHerbst, auch Camapct-Geschäftsführer Christoph Bautz war dabei und hat eine der Einführungsreden gehalten. Wir wünschen uns, dass so viele Menschen wie möglich laut werden gegen den Ausverkauf Europas und werden selbstverständlich weiter berichten.

TH

ZUM UPDATE: Liebe Leser:innen,

wenige Stunden, nachdem wir gestern unseren China-Artikel im Briefing 44 veröffentlcht hatten, kam von Campact eine Petition zu uns, die wir Ihnen unbedingt zur Unterschrift empfehlen. Wir haben uns zur Lage aus Einsicht und die Entwicklung der letzten Jahre bedauernd etwas differenzierter geäußert und in einer Civey-Umfrage nur mit „eher nein“ gestimmt, was die chinesische Beteilidung an einem Terminal des Hamburger Hafens angeht.

Doch prinzipiell hat Campact-Geschäftsführer Christoph Bautz recht und vor allem: Wenn nicht ganz schnell noch etwas passiert, wird der Deal in der bisher vorgesehenen Form, ohne jede Korrektur durch die Politik, über die Bühne gehen, und das wäre grundfalsch. Wir hatten die Petition schon gestern am späten Abend unterzeichnet. Die ursprünglich angezielten 100.000 Stimmen waren da bereits überschritten, aktuell sind es bereits 181.000. Man sieht also, das Thema Abhängigkeit von Diktaturen ist in der Bevölkerung angekommen. Wir haben aus Zeitgründen und um bei dieser wichtigen Angelegenheit die authentische Original-Optik zu erhalten, den Eil-Appell von Campact als Foto eingestellt, die dortigen Links funktionieren also nicht.  Unterzeichnen können Sie bereits hier. Lesen Sie im Anschluss oder zuerst auch unseren nachfolgenden Artikel von gestern!

Hier noch einmal zur Unterschrift!

Und hier zum Briefing 44,in dem wir uns der Sache etwas ausführlicher gewidmet und auf weitere Informationen verwiesen haben, u. a. auf den Tagesschau-Artikel, der auch von Campact erwähnt wird.

Liebe Leser:innen,

wir müssen reden bzw. informieren. Unser 44. Briefing befasst sich, wie die Nr. 43, mit Wirtschaftsthemen. Genauer, mit einem Thema, nämlich ausschließlich mit China und unseren wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Land. Es ist mittlerweile Deutschlads größter Handelspartner und steht für fast 10 Prozent des gesamten Außenhandels. Und es ist eines der wenigen Länder, die gegenüber Deutschland einen deutlichen Handelsbilanzüberschuss ausweisen.

Letzteres ist traditionell so und wäre nicht besorgniserregend, würde nicht gleichzeitig das Volumen geradezu explodieren. Besonders das Jahr 2021 zeigt ein deutlichen Anstieg der China-Importe. Noch viel wichtiger aber ist der chinesische Einfluss in Deutschland und Europa, der immer mehr wächst. China ist aber nicht irgendein großes Land, mit dem man gute Geschäfte machen kann, sondern die größte und eine der rigidesten Diktaturen der Welt. Und diese Diktatur hat bereits mehrfach nach den Versorgungslinien Europas gegriffen. Gut in Erinnerung ist uns noch der Verkauf des griechischen Hafens Nr. 1, Piräus, an China im Jahr 2016. Auch die Niederlande profitieren derzeit von massiven chinesischen Investments in ihren Hafen Rotterdam, der Hamburg mittlerweile locker abgehängt hat. Da liegt es geradezu auf der Hand, diesem Rückstand einen Einstieg des chinesischen Konzerns Cosco entgegenzusetzen, oder? Es handelt sich um ein halbstaatliches Unternehmen, in dem Funktionäre der KPCh das Sagen haben, mithin um eine eng an die China-Strategie der maximalen Expansion angebundene Firma.

Es ist noch nicht lange her, da wollte Kanzler Scholz uns einreden, Nord Stream 2 sei unpolitisch. Diese Sichtweise haben wir damals schon abgelehnt, mittlerweile wissen wohl alle, wie hochpolitisch dieses deutsch-russische Projekt ist. Es hat aber, wie der gesamte Russland-Handel bei Weitem nicht die Dimensionen wie die Verflechtungen mit China. Um es auf den Punkt zu bringen und gleich eine Meinung in den Ring zu werfen: Wir werden uns viel eher von russischem Gas befreien können als von der Umklammerung durch das Riesenreich der Mitte, die immer beängstigender wird.

Wir beginnen die Faktendarstellung mit einigen allgemeinen Zahlen:

Infografik: Deutschlands wichtigster Handelspartner | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Im vergangenen Jahr vereinbarten der Hamburger Hafenlogistiker HHLA und der chinesische Terminalbetreiber Cosco Shipping Ports Limited eine 35-prozentige Beteiligung der Chinesen am HHLA-Terminal Tollerort in der Hansestadt, über das Cosco seine Fracht abwickelt. Die zweitgrößte Container-Reederei der Welt will im Gegenzug bevorzugt mit seinen Schiffen anlaufen und sich damit stärker mit dem Wirtschaftsstandort verzahnen. Die Bundesregierung könnte dem Geschäft allerdings den Riegel vorschieben, denn die Beteiligung eines chinesischen Staatsunternehmens an kritischer Infrastruktur könnte Deutschland in erneute Abhängigkeiten manövrieren, die wie im Fall Erdgas aus Russland schwerwiegende Folgen haben können.

Schon jetzt ist die Bundesrepublik gewissermaßen abhängig von China. Wie die Statista-Grafik zeigt, ist die asiatische Volksrepublik der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Laut vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamtes hatten Importe aus China im vergangenen Jahr einen Rekordwert von rund 142,3 Milliarden Euro. Dabei importiert Deutschland vor allem Datenverarbeitungs- und Nachrichtentechnik. Ins Reich der Mitte wurden von hier aus rund 103,7 Milliarden Euro Warenwert exportiert – Über 25 Milliarden Euro entfallen dabei auf Kraftfahrzeuge sowie entsprechende Teile und Zubehör. China hält momentan einen Anteil von rund 9,5 Prozent am Gesamtvolumen des deutschen Außenhandels – vor zehn Jahren lag dieser noch bei 7,4 Prozent.

 

Einst waren europäische Staaten Deutschlands größte Handelspartner, regelmäßig die Niederlande vor Frankreich. Dann übernahmen die USA die Spitzenposition, nun ist sie an China übergegangen. Donald Trump hatte den Tatbestand der engen Verflechtung mit den USA genutzt, um Deutschland erheblich unter Druck zu setzen. Aber er konnte dabei nicht den strategischen Durchgriff erzielen, wie China es kann. Das geht eben in einer Demokratie so nicht, auch nicht in der angeschlagenen Demokratie der USA und nicht gegenüber einem Land, mit dem man schon so lange aufs Beste kooperiert, zum beiderseitigen Nutzen, nicht so einseitig, wie Trump es mit seinem populistischen Duktus gerne verkauft hat. Er hat aber den deutsch-amerikanischen Beziehungen geschadet und wem kam das zugute? China selbstverständlich. Dem Land, das unter Führung der KPCh noch nie Wirtschaftsbeziehungen auf Augenhöhe zugelassen hat. Seit dem Jahr 2011, als der „erste“ Wahlberliner gegründet wurde, beklagen wir den Mangel an Reziprozität in diesen Wirtschaftsbeziehungen. Dieser Mangel wurde bis heute nicht behoben. Auch diese Fehlentwicklung geht auf das Konto der Merkel-Regierung und deren Weg des geringsten Widerstandes.

Dieses Verhältnis zu China ist sehr komplex und wir müssten aus diesem Artikel ein Dossier machen, um es wenigstens in groben Zügen erfassen zu können. Heute geht es aber erst einmal darum, nicht zu tief zu gehen, auch heute wieder nicht, sondern weiter um Aufmerksamkeit für dieses Thema zu werben. Das ist gerade etwas leichter, wegen des Wunschs der Cosco, sich in ein Hamburger Hafenterminal einkaufen zu wollen. Nun wieder ein paar Infos:

Hafenbeteiligung in Hamburg: Kanzleramt will offenbar China-Geschäft durchsetzen | tagesschau.de

Eine solche Konfrontation ist selten: Obwohl alle Fachministerien den Einstieg von Chinesen beim Hamburger Hafen ablehnen, will ihn das Kanzleramt nach Informationen von NDR und WDR offenbar ermöglichen. (…) Die Blockade des Kanzleramts [gegen die Ablehnung durch die Ministerien] ist bemerkenswert, vor allem zum jetzigen Zeitpunkt. Nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich gezeigt, wie verwundbar Deutschland sein kann, wenn ein autokratisches Regime mit einem Mal die eigenen Interessen durchsetzt. Gerade deshalb lehnen die beteiligten Fachressorts – sie werden von SPD, Grünen und FDP geführt – das Geschäft in Hamburg ab. (…) Weniger Scheu vor dem offenen Konflikt [als die Politiker der Ampel-Parteien] könnte die chinesische Regierung haben. Aus Kreisen der deutschen Wirtschaft wird ein schwerwiegender Vorwurf berichtet, nämlich dass die chinesische Botschaft zuletzt deutsche Unternehmen direkt kontaktiert habe. Man solle sich für den chinesischen Einstieg beim Hamburger Hafen einsetzen. Ansonsten drohten Folgen für das eigene Geschäft. Die chinesische Botschaft verwies auf Anfrage auf ein vorheriges Statement der Außenamtssprecherin: Man hoffe, Deutschland werde Prinzipien wie jenen des offenen Marktes treu bleiben, statt normale ökonomische Beziehungen zu politisieren.

Kann man von einem Kanzler, der Nord Stream 2 als unpolitisch bezeichnet hat, dass er jetzt in Bezug auf das China-Geschäft etwas anderes sagt? Er weiß, es stimmt nicht, aber bei Nord Stream waren viele Genoss:innen in die Russland-Connections eingebunden, das wusste auch Scholz. Und hier geht es um seine Heimat: den wirtschaftlichen Anschluss verlieren oder die Chinesen weiter an Einfluss gewinnen lassen? So einfach ist die Entscheidung gar nicht. Sie ist es vor allem deshalb nicht, weil es nie eine strategische China-Politik Deutschlands, geschweige denn eine strategische Wirtschaftspolitik gegeben hat. Jetzt ein Zeichen setzen, kann richtig sein, muss aber nicht. Nach unserer Ansicht könnt der Kompromiss sein, dass China sich auf einen Anteil von 25 Prozent beschränkt und nicht über essenzielle Weichenstellungen der Hafenpolitik mitentscheiden darf. Oder: Nur im Gegenzug zur Übernahme eines florierenden chinesischen Konzerns durch deutsche Firmen. Eine Überkreuz-Verflechtung vielleicht. Aber derlei lehnt die chinesische Regierung eben ab und das macht ihr Handeln so gefährlich.

Nun hängt aber die sogenannte neue Wertepolitik erheblich davon ab, dass man sich nicht in Abhängigkeit von Staaten begibt, deren Menschenrechtsverletzungen man gerne kritisieren möchte, bei China vor allem die Behandlung Uiguren, aber auch der Umgang mit abweichenden Meinungen. Wenn für die Wertepolitik nur noch en paar billige Adressen an kleine, machtlose Länder bleiben, sollte man besser gleich die Wahrheit verkünden: Wir können diese Politik nicht gegenüber wirtschaftlich starken Partnern durchsetzen und schon gar nicht gegenüber solchen, die zusätzlich Atommächte sind, wie eben China.

Darin liegt eine Chance, das darf man nicht vergessen: Sich ehrlich zu machen und Interessenpolitik Interessenpolitik zu nennen, anstatt sie als ethisch intendiert an die Öffentlichkeit vermitteln zu wollen. Der Westen wird noch lange stark genug sein, um seine Interessen gegen China zu bündeln. Aber nur, wenn nicht viele westliche Unternehmen schon in chinesischer Hand sind. In Deutschland sind bereits knapp 30 Prozent der Vorzeigebranche Maschinenbau mit China kooptiert oder gehören gleich ganz chinesischen Firmen. Vor einigen Jahren hat zum Beispiel der Industrieroboter-Bauer Kuka, ein Weltmarktführer, den Besitzwechsel in chinesische Hände vollzogen und auch das war ein ziemliches Politikum, das Wellen über Deutschlands Grenzen hinaus geschlagen hat. Zu Recht, denn dieses Unternehmen besitzt auch die Software für Produktionsprozesse in der zweiten Schlüsselbranche Deutschlands, der Automobilindustrie. Überall in deutschen, euopäischen, asiatischen Hallen werkeln Roboter dieser Firma und geben den Chinesen dadurch Aufschluss über den Stand der Dinge in Sachen Produktivität und manches mehr. Das wiederum führt dazu, dass in China selbst die Aufholjagd beschleunigt vorangetrieben werden kann und europäische und amerikanische Hersteller immer mehr an Einfluss verlieren.

Warum hat man es so weit kommen lassen? Wegen kurzfristiger Interessen der deutschen Industrie und ihrer Lobbys. Man wollte unbedingt auf den riesigen chinesischen Markt und hat sich dafür regelrecht verkauft, fast ohne Bedingungen zu stellen und auf Gleichberechtigung zu achten. Langfristig könnte das ein gigantischer Bumerang werden, in den Ausmaßen nicht vergleichbar mit dem Aufstieg der japanischen Industrie, die jahrelang einfach von den Europäern geklaut hat, um in etwa gleiche Produkte günstiger herzustellen, bis sie in einigen Bereichen selbst innovativ genug war, um als eigenständig zu gelten. Aufgrund seiner Marktmacht muss China diesen Weg gar nicht gehen, es kann einfach sagen: Entweder ihr gebt eure Geheimnisse preis oder ihr kommt hier nicht rein.

Wer angesichts dieser Methode glaubt, die „neue Seidenstraße“ sei so ein friedliches Projekt, hat nichts begriffen oder singt aus naheliegenden Gründen (Hass auf den Westen) das Lied vom friedfertigsten Imperium aller Zeiten. Nach unserer Ansicht wurde schon so vieles falsch gemacht, dass man nicht plötzlich sagen kann: So, und nun ist Schluss. Das ist typisches Habeck-Niveau, und er wird sich abermals eine blutige Nase holen, wenn er Realisten wie Scholz gegenübersteht. Vielmehr muss es um die Entwicklung einer Strategie gehen, die nachhaltig gegen eine allzugroße Ausdehnung des chinesischen Wirtschaftsimperiums wirken kann. Profiteur davon, dass der Westen die Herausforderung endlich annimmt, könnte der globale Süden sein, der nun von zwei Seiten umworben wird. Da dort aber nur wenige vollständige Demokratien existieren, hat China einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Es kann den oftmals nicht demokratisch legitimierten Machthabern versprechen, sie zu stützen. Das Volk hingegen, wenn es wirklich etwas zu sagen hat, stützt sich auch selbst und kann kritisch gegenüber beiden Imperien sein. Es müsste insofern dem Westen zuneigen, aber ist das so, angesichts von Kolonialismus und Wirtschaftsimperialismus seit Jahrhunderten?

Wechseln wir wieder zu Texten Dritter: Sie dürfen nun mitmachen, denn Civey möchte wieder einmal den Puls der Zeit erfühlen und hat die passende Umfrage aufgesetzt:

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie den geplanten Verkauf von Anteilen eines Hamburger Hafenlogistik-Unternehmens an den chinesischen Konzern Cosco? – Civey

Der Begleittext dazu:

Der chinesische Staatskonzern Cosco will einen 35-prozentigen Anteil an dem Hamburger Containerterminal Tollerort übernehmen. Der Kauf von Anteilen des Hamburger Hafens sorgt für Streit in der Bundesregierung, die den Kauf unterbinden könnte. Genau wie Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher ist Bundeskanzler Olaf Scholz für den Deal, entgegen den sechs an der Prüfung beteiligten Bundesministerien.

FDP, Grüne und Teile von Union warnen Scholz vor zu großer Abhängigkeit von China. FDP-Fraktionschef Christian Dürr sagte der Rheinischen Post am Freitag: „Ich halte es für falsch, dass ein autoritäres Regime Einfluss auf unsere kritische Infrastruktur nimmt.” Anton Hofreiter (Grüne) mahnte in den Funke Medien, nicht die gleichen Fehler im Umgang mit China zu machen wie in den vergangenen 20 Jahren mit Russland.

Nun verteidigte SPD-Chef Lars Klingbeil Scholz und warnte vor voreiligen Schlüssen. Es gehe „um eine Minderheitenbeteiligung an einem Terminal“ und „nicht darum, dass man die Chinesen in die kritische Infrastruktur reinlässt“, sagte er im Deutschlandfunk. Mit Blick auf Russland gelte es ähnliche Fehler zu vermeiden. Dennoch sollte man jetzt intensive Gespräche führen, bevor man jahrelange Verhandlungen abbricht, so Klingbeil.

Lesen Sie, bevor Sie entscheiden, wie Sie abstimmen, gerne auch den ARD-Artikel ganz, den wir oben verlinkt haben. Es ist durchaus so, dass auch unternehmerische Entscheidungen bezüglich des Terminals künftig von chinesischen Managern mitbestimmt werden. Aber typischerweise sind mal wieder dort alle am meisten einer Meinung, wo das Thema wirklich kompliziert ist. Wir haben mit „eher nein“ gestimmt, nicht mit „eindeutig nein“, wie derzeit fast 80 Prozent der Abstimmenden. Weil wir das Dilemma sehen, in das man sich mit der bereits weit fortgeschrittenen Abhängigkeit von China gefahren hat. Deshalb plädieren wir für eine abgespeckte und dauerhaft in diesem Zustand verbleibende Beteiligung Chinas an dem bewussten HHLA-Terminal.

Gar nichts wäre ein zu abrupter Wechsel, aber es einfach laufen lassen, wäre nicht nur genau das, was die chinesische Führung wieder einmal als Zeichen von Schwäche interpretieren könnte, sondern in der Tat: es wäre ein Ausdruck von Schwäche. Wenn Cosco hingegen eine etwas reduzierte Beteiligung ablehnt, könnte man darauf verweisen, dass ein fairer Kompromiss von dieser Seite verweigert wurde. Gleichermaßen bei der von uns vorgeschlagenen Variante, wenn sie von der chinesischen Seite abgelehnt wird. Warum nicht mal ein Terminal des Hafens von Schanghai in deutsche Hände übergehen lassen, z. B. zugunsten der erfahrenen Frachtexperten von Hapag Lloyd? China hat so viele riesige Häfen, die allesamt größer sind als jeder Hafen in Europa, da wäre das doch problemlos möglich, ein Plätzchen für dieses renommierte deutsche Unternehmen zu öffnen – und ein Zeichen für die Friedlichkeit der chinesischen Ambitionen.

Bei Correctiv gibt es längst, worüber wir wieder nachdenken und was wir einst auch im Programm hatten: Eine eigene Reihe zu Chinas steigendem Einfluss in der Welt, von dort wurde auch der oben zitierte ARD-Artikel verlinkt: China Science Investigation (correctiv.org). Natürlich mit eigenen Recherchen, während wir nur Fakten wiedergeben und auf ihnen basierend Einschätzungen vornehmen können. So unterschiedlich sind die Ergebnisse aber gerade im Fall China nicht: Wir können nur davor warnen, schon wieder ein Imperium zu unterschätzen, das alles andere als ideologisch neutral ist. Die Behauptung, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, ist ein Märchen. Die Art der Einmischung ist oft ganz simpel: Seit der griechische Hafen Piräus an China verkauft wurde, ist es schwieriger geworden, in der EU eine einheitliche Position in Menschenrechtsfragen zu erreichen. Auch südosteuropäische Staaten sind bevorzugte Ziele für die Erweiterung der eigenen Einflusszone. Und Deutschland? Wir haben es oben in Teilen beschrieben. Es ist höchste Zeit, etwas zu ändern. Aber nicht so, dass die weltweiten Konfrontationen gefördert werden, sondern so, dass kluge Diplomatie dafür sorgt, dass es um berechtigte Interessen geht, ohne mit dem ohnehin nicht sauberen moralischen Finger auf andere zu zeigen.

Als wir vor mehr als 10 Jahren begannen, uns mit Chinas Aufstieg zu befassen, hatten wir im Grunde schon etwas richtig gemacht: Die Gefahren allzu deutlicher Verschiebungen in der Tektonik der Weltökonomie anzusprechen und nicht so zu tun, als hätte Europa die Aufgabe, seinerseits China mit „Werten“ unter Druck zu setzen und sein Modell auch dorthin zu exportieren, wo es nicht gewünscht ist. Sollte es eine indigene Freiheitsbewegung geben, sollten wir sie unterstützen, aber wenn es sie nicht gibt, ist es nicht Aufgabe des Westens, eine solche zu inszenieren oder herbeizuintrigieren.

Wenn diese Regelung eingehalten wird, ist es viel einfacher, dem Einfluss Chinas auf sachlicher Basis und ohne falsche Töne Grenzen zu setzen. Nur so kann ein fairer Ausgleich auch Erfolge geben und nur so werden auch neutrale Länder Vertrauen in den Westen gewinnen, in denen man noch allzu gut in Erinnerung hat, wie die alten Großmächte sich aufgeführt hatten, als sie über die Macht dazu verfügten. Das ist grundsätzlich von einer hierzulande wirklich gewollten Demokratieverteidigung in bereits demokratischen Ländern zu unterscheiden oder in solchen, in denen die Bevölkerung eindeutig in diese Richtung will. Aber machen wir es doch so, wie Scholz es gerne rüberbringt. Der Hamburger Hafen ist ein wirtschaftliches Projekt. Grundsätzlich gibt es keine Notwendigkeit dafür, dass chinesische Firmen deutsche Häfen übernehmen müssen, um hier ihre Waren zu verkaufen. Also reden wir über Interessen: Ihr wollt hier Einfluss, also messen wir eure Absichten daran, ob wir auch Einfluss bei euch bekommen dürfen. Wir riskieren, dass ihr euer System bei uns promotet, ihr dasselbe in umgekehrter Richtung (falls es denn wirklich so ist). Fair ist fair. Und vor den ethischen Maxima als Messlatte wäre es erst einmal notwendig, dass es in der Weltwirtschaft fairer zugeht als bisher.

TH 

Unser 43. Briefing hält wieder wirtschaftliche Informationen für Sie bereit. Was wäre Europa ohne seine Industrie: Gilt dieser Satz noch, in einer Welt der Dienstleistungen? Und ist in Deutschland die Produktion wirklich erst durch die Corona-Krise eingebrochen?

Infografik: Motor der deutschen Wirtschaft stottert seit Jahren | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die deutsche Industrieproduktion befindet sich seit Jahren in einem rückläufigen Trend. Der entsprechende Indikator fällt seit dem Jahr 2018 ab. Zuvor konnte die Industrie seit dem Ende der letzten Wirtschaftskrise beinahe kontinuierlich wachsen. Nach dem Einbruch im ersten Pandemiejahr erholte sich die Industrie zwar recht schnell, der insgesamt rückläufige Trend konnte allerdings nicht gestoppt werden.

Wie diese Statista-Grafik zeigt, ist die Industrie für die deutsche Wirtschaft von großer Bedeutung. Sie trägt zu etwas mehr als einem Viertel zum hiesigen Bruttoinlandsprodukt bei. Damit gehört die Bundesrepublik zu den Ländern, deren Industriesektor einen vergleichsweise großen Anteil an der Wirtschaftsleistung hat.

Der Ökonom Hans-Werner Sinn wies jüngst darauf hin, dass sich in Deutschland eine Rezession der Industrie verfestigt habe. Ein wichtiger Grund für diesen Negativtrend sei eine Schwäche des Herzstücks der deutschen Industrie, der Automobilproduktion. Sie sei durch den Dieselskandal und politische Entscheidungen des Europaparlaments zum Ende des Verbrennermotors starken Belastungen ausgesetzt. Zudem schwächele der Absatz der deutschen Autobauer im wichtigen Markt China.

Auf eines hat der alte Globalist Werner Sinn hier nicht hingewiesen, zumindest erwähnt Statista es nicht: Die deutsche Autoproduktion leidete bis zur Coronakrise weniger, als dass sie verlagert: Im Jahr 2016 war der Zeitpunkt erreicht, ab dem mehr Kraftfahrzeuge mit deutschen Markenlabels und deutscher Konzerne im Ausland als in Deutschland produziert worden sind. Vor allem der Anteil der in den USA und in China hergestellten „deutschen“ Autos wächst sukzessive. BMW betreibt sein größtes Werk in Spartanburg, Alabama und in China ist die Lage auch deshalb kompliziert, weil dort nur verkaufen darf, wer auch Arbeitsplätze schafft. Chinesische Firmen darf ein europäischer Konzern aber nicht übernehmen = keine Mehrheitsanteile an ihnen erwerben.

Es sei denn, sie stehen schlecht da, deswegen wurde, wiederum für BMW, kürzlich eine Ausnahme gemacht, damit sich die Deutschen die Sanierung dieses in die Sackgasse gefahrenen chinesischen Herstellers antun dürfen. BMW ist bekannt für die Neigung zu Himmelfahrtskommandos, siehe die grandiose Fehlinvestition in die Kernstücke der traditionellen britische Autoindustrie vor über 20 Jahren, von der nur Mini und Rolls-Royce übrig blieben – die aber wirklich im UK hergestellt werden. Auch Daimler-Benz hat sich auf ähnliche Weise mehrfach selbst geschwächt, betreibt aber seit einiger Zeit ein Montagewerk in Russland und muss nun überlegen, was mit einer solchen Fertigung passieren soll. Einzig das riesige VW-Konglomerat scheint einigermaßen kohärent zu funktionieren, wobei aber möglicherweise die chronisch defizitäre spanische Marke SEAT aufgegeben werden wird. In den iberischen Werken werden dann wohl vor allem Audi-Modelle produziert werden. Wiederum per Saldo eine Verlagerung weg aus Deutschland.

Richtig ist auf jeden Fall, dass die deutsche Industrie bereits seit 2018 schwächelt. Im Grunde war das Jahr 2019 bereits eines, das auf eine Rezession im folgenden Jahr hindeutete, sie fiel dann durch Corona so deutlich aus, dass man Sondereffekte und strukturelle Schwächen der deutschen Industrie kaum auseinanderhalten konnte. Trotzdem weist Deutschland noch immer einen relativ hohen industriellen Anteil auf, die BIP-Erwirtschaftung betreffend:

Infografik: So wichtig ist die Industrie für Europa | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die deutsche Industrie trägt zu etwas mehr als einem Viertel zum hiesigen Bruttoinlandsprodukt bei. Damit gehört die Bundesrepublik zu den Ländern, deren Industriesektor einen vergleichsweise großen Anteil an der Wirtschaftsleistung hat. Das veranschaulicht die Infografik auf Basis von Daten der World Bank. Neben Irland und Norwegen befinden sich viele osteuropäische Länder im Spitzenfeld.

In Deutschland wird derzeit die Gefahr einer so genannten Deindustrialisierung diskutiert. In Teilen der deutschen Wirtschaft ist die Produktion wegen des rapiden Anstiegs der Gas- und Strompreise in Gefahr. Angesichts der bis Anfang nächsten Jahres erwarteten weiteren Preiserhöhungsrunde fürchten sowohl Betriebe als auch deren Branchenverbände, dass die Produktion in Deutschland dauerhaft unrentabel werden könnte. Das Münchner Ifo-Institut erwartet, dass die Entwicklung der Energiepreise zu vermehrten Investitionen im Ausland führen wird. Länder mit einer weniger stark ausgeprägten Industrie sind von den steigenden Energiepreisen nicht so stark und unmittelbar betroffen.

Der Ökonom Hans-Werner Sinn wies jüngst darauf hin, dass die Industrie als Motor der deutschen Wirtschaft schon seit dem Jahr 2018 ins Stocken geraten ist. Seitdem habe sich in Deutschland eine Rezession der Industrie verfestigt, die sich am Rückgang der industriellen Produktion ablesen lasse. Ein wichtiger Grund für diesen Negativtrend sei eine Schwäche des Herzstücks der deutschen Industrie, der Automobilproduktion. Sie sei durch den Dieselskandal und politische Entscheidungen des Europaparlaments zum Ende des Verbrennermotors starken Belastungen ausgesetzt. Zudem schwächele der Absatz der deutschen Autobauer im wichtigen Markt China.

Das Bruttoinlandsprodukt bezeichnet den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die im betreffenden Jahr innerhalb der Landesgrenzen hergestellt wurden und dem Endverbrauch dienen. Es gilt als wichtiger Indikator für die Wirtschaftskraft eines Landes. Die Wirtschaft eines Landes wird zudem meist in die drei verschiedenen Sektoren Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen eingeteilt. In vielen offiziellen Statistiken werden in der Regel nur diese drei genannten Sektoren unterschieden.

Sie sehen, einige Informationen lassen sich für mehrere Grafiken verwenden. Die hohen Energiepreise in Deutschland standen vor der aktuellen Krise in der Diskussion, obwohl die Industrie nicht das zahlen musste, was uns Verbrauchern schon seit Langem aufgedrückt wird, nämlich die höchsten Energiepreise weltweit. Gleichzeitig erfahren Sie auf diese Weise einen wichtigen Grund dafür, warum Deutschland so sehr an günstigem russischem Gas interessiert war. Der Fehler war nach unserer Ansicht nicht die Idee, sich mittelfristig und durch Nutzung einer Brückentechnologie, die umweltseitig besser ist als Energieträger auf Karbonbasis, Energie zu fairen Preisen zu sichern, sondern die Aufgabe der Priorisierung einer Energiewende als langfristiges Ziel unter der Regierung Merkel.

Man hat also die Beine hochgelegt, mit Nord Stream 2 zudem die Partner in Europa verärgert und Wladimir Putin hat diese phlegmatischen Beine jetzt vom Tisch geschubst. Fair ist das nicht, denn die jetzige Bundesregierung hat diesen Stillstand höchstens in Form der vielen GroKos zu verursachen, an denen auch die SPD beteiligt war. Oder, je nach Lesart, diejenigen, die sich auf den Energiekrieg mit Russland eingelassen oder ihn provoziert haben, und das wäre dann sehr wohl die neue Regierung.

Man hat sich Auseinandersetzung um die Installation von Windkraftanlagen gespart, den Bau teurer Stromtrassen von Nord nach Süd, die Förderung alternativer Energien beim Hausbau, um alles schön günstig und die Baukosten für Bürger:innen sowie den Stress mit einigen von ihnen niedrig zu halten. Doch der Unwille, in die Zukunft zu investieren, rächt sich langfristig, wie so vieles an Angela Merkels opportunistischer Politik. Insofern war es auch ein Fehler, die wichtige deutsche Autoindustrie nicht früher zu einem Wechsel auf andere Antriebstechnologien als die Verbrenner zu „animieren“, während der frühere Ifo-Chef Hans-Werner Sinn ganz gemäß seiner marktliberalen Ideologie in den klimaschutzseitig notwendigen, jedoch viel zu späten und gegen den massiven Widerstand aus Deutschland doch irgendwie zuwege gebrachten Eingriffen der EU in das schadstoffhaltige Werkeln der Autoindustrie das Übel ausmacht.

Was uns überrascht hat: Dass die EU insgesamt das 20-Prozent-Industrieanteil-am-BIP-Ziel einzuhalten scheint, das sie sich selbst gegeben hat. Allerdings mit einem Vorbehalt: Wir sind uns nicht sicher, ob die Zahlengrundlage mit der übereinstimmt, die für die Definition dieses Ziels verwendet wurde, denn wir haben Zahlen im Kopf gehabt, nach denen auch Deutschland schon knapp an dieser 20-Prozent-Marke entlangschrammt, während Frankreich nur noch auf etwa die Hälfte kommt. Dass die osteuropäischen Länder so viel Industrie haben, liegt einerseits daran, dass bei ihnen immer noch günstiger produziert werden kann als in Westeuropa, andererseits, überspitzt formuliert, an der Absenz einer modernen, hochwertigen Dienstleistungsindustrie unter Einschluss der Finanzindustrie, die das westeuropäische BIP ebenso aufbläst wie das amerikanische.

Auch überraschend: Der hohe Industrieanteil Irlands und Norwegens. In Norwegen dominiert nach unserem Bild der primäre Sektor, durch die Nordseeöl- und -gasförderung, in Irland, das für uns eher dienstleistungslastig daherkam, könnte der durch Niedrigsteuern generierte Boom von Unternehmenszentralen eine Rolle spielen, die trotz der niedrigen Steuern erhebliche Einnahmen auf die Insel spülen. Ob aber die Produktionsstätten dort angesiedelt sind, ist eine andere Frage.

Insgesamt ist der oben ausgewiesene Industrieanteil in Europa höher, als wir ihn eingeschätzt haben, aber, siehe oben, die World Bank legt u. U. eine andere Definition zugrunde als andere Stellen, die solche Statistiken erstellen. Ähnliche Schwächephasen hatte die deutsche Wirtschaft schon zwei Mal. Nach dem Ende des Wende-Booms und wenige Jahre später, als die das Land wirtschaftlich als „Der kranke Mann Europas bezeichnet wurde“. Bundeskanzler Schröder hatte dann seine eigene Vorstellung davon umgesetzt, wie man Abhilfe schaffen könnte: Nicht mit massiven Investitionen in Zukunftstechnologien, sondern mit dem „besten Billiglohnsektor Europas“. Auch die damaligen Versäumnisse, die sich mit denen der Regierung Merkel zu einem jetzt kaum aufzuholen Rückstand im Bereich der Spitzentechnologie aufgetürmt haben, wurden in den 2010ern durch billiges Kapital inszenierten Scheinblüte geführt. Das geldpolitisch erzwungene Ende dieser Form von Wirtschaftsförderung, die vor allem konservative Branchen wie die Immobilienindustrie privilegiert hat, lässt nun das gefährliche Ausmaß der deutschen Innovationsschwäche ausgerechnet in der Krise voll zutage treten.

Das Einzige, worauf man nun hoffen kann, ist, dass die derzeit kontraproduktive Schuldenbremse für die nächsten Jahre endlich ohne opernhafte Allüren seitens der FDP ad acta gelegt und dass massiv in Richtung Erneuerung und Sanierung auf allen Gebieten umgesteuert wird. Dort, wo der Staat Anschubfinanzierungen leistet, muss er dann auch von den Früchten profitieren dürfen. Ohne massive Eingriffe in den „Markt“ geht es ohnehin schon lange nicht mehr, aber die Gewinne daraus sind bisher privatisiert worden, währen die Mehrheit der Menschen ärmer wurde. Diesen Kardinalfehler muss man angesichts der historischen Zwangslage, die man auch als Gelegenheit sehen kann, ebenfalls beheben.

TH

Briefing Nr. 42

Liebe Leser:innen, mit der Meinungs- und Pressefreiheit haben wir uns zuletzt hier beschäftigt, denn wir wollen ja nicht so tun, als ob in Deutschland alles perfekt wäre.

„Eine Zensur findet nicht statt“ (Verfassungsblog, Kommentar) | Frontpage | Demokratie in Gefahr – DER WAHLBERLINER

Wir haben dabei auch herausgearbeitet, dass es hierzulande, anders als im Grundgesetz festgelegt, sehr wohl Tatbestände gibt, die man mindestens bezüglich ihrer faktischen Wirkung als Zensur bezeichnen kann. Da im besprochenen Artikel auch ein Beispiel aus der Filmwelt verwendet wurde, ergänzen wir an der Stelle, dass auch freiwillige Selbstzensur, wie sie Filmverleiher hierzulande immer wieder ausüben, problematisch ist. Selbst dann, wenn sie nur dazu dienen soll, das Publikum nicht zu sehr zu konfrontieren, z. B. mit dem Schnitt oder der Wegsynchronisierung von Nazi-Darstellungen in ausländischen Filmen während der 1950er und 1960er, stellt sie eine Verfälschung dar. Auf welch einem vergleichsweise hohen Niveau wir hier aber diskutieren, sehen Sie im Folgenden am Beispiel berüchtigter Diktaturen bzw. Königshäuser im arabischen Raum:

Infografik: So unfrei ist die Presse der arabischen Halbinsel | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Katar schränkt laut Stern die Pressefreiheit während der FIFA-Fußball-Weltmeisterschaft ein. Konkret geht es darum, dass Kamera- und Filmteams eine Liste mit Auflagen unterschreiben müssen, die massive Einschränkungen enthält. Zum Beispiel darf weder bei Privatpersonen, noch in Regierungsgebäuden gedreht werden. Aber auch ohne WM-Einschränkungen ist es um die Pressefreiheit im Emirat eher schlecht bestellt, wie die Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen zeigt. Dort landet Katar auf Rang 119 von 180 Ländern.

Zur Situation im Land heißt es: „Katarischen Medienschaffenden bleibt angesichts der repressiven juristischen Rahmenbedingungen nur sehr wenig Spielraum. So erlaubt das Pressegesetz von 1979 die Vorabzensur von Medien. Ein Gesetz gegen Internetkriminalität verbietet angebliche Verstöße gegen soziale Normen. Medienberichte über die Regierungspolitik, die Königsfamilie und den Islam sind nur in engen Grenzen möglich.“ Indes ist Katar im Vergleich noch dass pressefreundlichste Land der arabischen Halbinsel, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt.

Katar hat sich sogar im internationalen Ranking leicht verbessert, ist aber vor allem deshalb das pressefreundlichste Land auf der arabischen Halbinsel, weil andere, wie der Oman, geradezu eine Rolle rückwärts gemacht haben. Dass das Kopf-Ab-Regime von Saudi-Arabien auch bei der Pressefreiheit keine gute Figur macht, versteht sich beinahe von selbst, das ist man sich sozusagen schuldig. Deutschland steht auf Rang 16, mit „zufriedenstellender Situation“, wie die meisten westeuropäischen Länder. Wirklich gut sieht es in Europa nur in Skandinavien aus – wieder einmal. China steht übrigens auf Platz 175 von 180 Ländern, schlechter als jede der arabischen Feudaldikataturen. So viel dazu, was es bedeutet, wenn der Einfluss dieses Landes in Europa immer größer wird. Zur Bewahrung der Demokratie gehört nicht nur bedingte, sondern unbedingte Abwehrbereitschaft. Dazu muss man keinen Krieg führen. Es reicht aus, diese Länder ohne Freiheit nicht immer weiter wirtschaftlich anzufüttern. Dadurch kommen sie in die Lage, sich in Europa einzukaufen und gerade Deutschland ist diesbezüglich offen wie ein Scheunentor, während in Frankreich wenigstens versucht wird, das Schlimmste zu verhindern (auch zulasten Deutschlands, aber letztlich sollte hier das gemeinsame Interesse überwiegen).

Wenn sich diese Regime und ihre Unternehmen aber erst einmal in den hiesigen Kapitalgesellschaften festgesetzt haben, gewinnen sie natürlich auch politischen Einfluss. Wir schreiben nicht zum Spaß immer wieder über die Lobbyverflechtungen der hiesigen Politik. Und je mehr zum Beispiel chinesisches Kapital in deutschen Firmen akkumuliert wird, desto mehr Einfluss entsteht auch von dieser Seite.

Die Fußball-WM von Katar ist ebenso ein Trauerspiel wie die Tatsache, dass die wirtschaftliche Ausbreitung der autoritären Regime von unter Druck stehenden kapitalistischen Staaten gefördert wird. Oder: Diese WM 2022 ist ein Symbol dafür. Und denken Sie mal, wer sich besonders dafür einsetzt, dass die Kritik bloß nicht zu laut wird. Die FIFA natürlich, die das alles zu verantworten hat, aber auch gewisse deutsche Vereinsbosse, die sich zuletzt vor allem als Straftäter hervorgetan haben. Unrechtsbewusstsein? Ach was:

Katar-Kritiker Michael Ott hat sich nach seinem Redebeitrag bei der Jahreshauptversammlung des FC Bayern München laut eigener Aussage einige „böse Worte“ von Uli Hoeneß anhören müssen. Der 70 Jahre alte Ehrenpräsident ging das Vereinsmitglied Ott im Audi Dome demnach verbal an, wie mehrere Medien berichteten. Hoeneß sagte demnach zu Ott: „Ihr Auftritt war peinlich. Das ist der Fußballclub Bayern München und nicht die Generalversammlung von Amnesty International.“ Ott gab den Wortlaut nach der Veranstaltung am Samstagabend auch so wieder.

Hoeneß wettert gegen Katar-Kritiker Ott – „Kein Amnesty International“ | FC Bayern (chiemgau24.de)

Aber warum sollte der Sport ethischer sein als die Wirtschaft und die Politik? Alles ist doch miteinander verwoben. Dass sich Menschenrechte und Demokratie so nicht schützen lassen, wissen die Protagonisten auch, aber es ist ihnen mindestens egal, vielen von ihnen darf man durchaus unterstellen, dass die Autokratien im Grunde mögen, weil sie selbst autokratische Charaktere sind. Das wird auch nicht dadurch widerlegt, dass jemand sich zu einer demokratischen Wahl stellt, denn das Prozedere ist nun einmal so und man kann es nicht im Alleingang ändern. Sehr wohl aber kann der Druck auf die Demokratie immer größer werden, weil hemmungslos unethisch gedacht wird und selbstverständlich sollte der Sport etwas wie eine Vorbildfunktion haben. An diesem Anspruch, den man sehr wohl formulieren darf, auch unterhalb der Schwelle von Amnesty International, scheitert er immer wieder, sonst würde es diese Katar-WM nicht geben. Solange der Westen mit diesen Regimen dermaßen kungelt, sollte man genauer hinschauen, was „werteorientierte Politik“ wirklich meint, in der es immer nur ein paar Buhmänner und ein paar Leuchttürme gibt, die meisten aber einfach nur Geschäftspartner sind, die sich offenbar einer ethischen Bewertung entziehen.

Dieses Dilemma bekommt eine Politik nicht gelöst, die nicht strategisch auf mehr und mehr Unabhängigkeit und auf die Begrenzung nichtdemokratischer Einflüsse aus allen Richtungen setzt. Dass die Unabhängigkeit dazu führt, dass einige Geschäftschancen ausgelassen werden müssen, ist vollkommen klar, aber hier gilt das Primat der Politik und hier geht es auch um deren Pflicht, die Demokratie selbst etwas ernster zu nehmen (falsche Haltung n dem Zusammenhang: „Mir egal, was meine Wähler zuhause dazu sagen“). Wir brauchen dringend einen anderen, einerseits achtsameren und andererseits widerstandsfähigeren Politikstil gegenüber dem Einfluss von Diktaturen und dem Einfluss von demokratiefeindlichen Rechten und Neoliberalen seitens der aktuellen Regierung. Das wäre wenigstens ein Anfang, für den man auch mal etwas Mut zeigen müsste. Ansagen kommen zwar neuerdings häufiger, aber wenn sie keine Wirkungen nach sich ziehen, weil keine Substanz vorhanden ist, mit der man Druck in Richtung mehr Kooperation und weniger Infiltration aufbauen kann, wirken sie nicht mutig, sondern dilettantisch und kontraproduktiv und fallen zudem durch eine höchst ungleiche Maßstäbe auf. Auch diesbezüglich geht der Blick in Richtung Außenministerium.

TH

Briefing 41

Unser 40. Briefing war wirtschaftlichen Themen gewidmet, das 41. schließt sich an. Doch es wird jetzt viel persönlicher. Die folgende Grafik zeigt, dass in Deutschland bereits im Jahr 2020 fast 40 Prozent der Haushalte nicht mehr in der Lage war, Sonderausgaben problemlos zu stemmen. Wie es jetzt, mitten in der Energiepreiskrise aussieht, dürfte klar sein: Die nächste Auffrischung der Zahlen, die auf einer Eurostat-Tabelle basieren, dürfte noch dramatischere Ergebnisse zeigen. Was auffällt: Wie schwach deutsche Haushalte im EU-Vergleich dastehen.

Infografik: Wo Menschen in der EU Zahlungsunfähigkeit droht | Statista Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Führende deutsche Wirtschaftsinstitute und die Bundesregierung haben für 2023 eine Rezession in Höhe von 0,4 Prozent prognostiziert.

[Anmerkung: Wir haben das im 40. Briefing thematisiert.}

Eine Erholung von den Nachwehen der Krisenmonate der Corona-Pandemie und dem immer noch andauernden Krieg in der Ukraine sei unter anderem aufgrund der drastisch gestiegenen Preise für Energieimporte erst für 2024 zu erwarten. Die Inflationsrate soll laut Herbstprojektion von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von aktuell zehn Prozent im September 2022 auf rund sieben Prozent im Jahr 2023 sinken, auch bedingt durch den 200 Milliarden Euro schweren Abwehrschirm, der Bürger:innen und Unternehmen ab dem Frühjahr hinsichtlich Zahlungen für Strom und Gas entlasten soll. Wie unsere Grafik auf Basis von Daten von Eurostat zeigt, hatten schon 2020 mehr als ein Drittel der deutschen Haushalte nicht genug Geld, um unerwartete Zahlungen begleichen zu können.

Mit einem Anteil von rund 38 Prozent liegt Deutschland damit im EU-Vergleich im oberen Drittel. Noch mehr Haushalte mit Zahlungsschwierigkeiten gibt es vor allem in Südost- und Osteuropa. An der Spitze des Rankings liegt Griechenland. Hier konnten 2020 etwa die Hälfte aller Haushalte potenzielle Mehrzahlungen nicht leisten, auch in Kroatien und Rumänien belief sich der Anteil auf fast 50 Prozent. Deutlich besser stehen einige deutsche Nachbarländer da. In den Niederlanden und Österreich lag die entsprechende Quote beispielsweise nur bei 19 respektive 18 Prozent.

Bei einem genaueren Blick auf die Daten fällt auf, dass vor allem Haushalte mit abhängigen Kindern potenziell häufiger in Zahlungsnot geraten könnten. Im EU-Durchschnitt fielen 32 Prozent der Haushalte ohne Kinder in das entsprechende Raster, bei Haushalten mit Kindern waren es insgesamt 34 Prozent. Isoliert man die Haushalte von Alleinerziehenden, erreicht die Quote sogar 57 Prozent. In Irland, Griechenland und Zypern fallen jeweils mehr als 70 Prozent aller Alleinerziehenden-Haushalte in diese Kategorie. Eine Einschränkung ist bei der Analyse der Daten allerdings zu beachten: Der Indikator bezieht sich laut Eurostat auf das Vermögen der Haushalte, Einkommen und Ausgaben wurden hierbei nicht betrachtet. Entsprechend bilden die Werte finanzielle Sicherheit und nicht etwa Einkommensverhältnisse ab.

Hier die Tabelle von Eurostat, auf der die obige Grafik aufbaut:

Die Einschränkung im letzten Absatz bedeutet was?

Die Statista-Grafik ist im Grunde eine Spiegelung dessen, was wir schon mehrfach angesprochen haben: Deutschland als reich zu bezeichnen, ist ein Witz, den Neoliberale und andre Profaschisten gerne erzählen, um zu verschleiern, dass die Menschen hierzulande mittlerweile zu den Ärmsten im „alten“ (West-) Europa zählen, nur, damit niemand sich fragt, warum das Kapital immer weiter zulasten der Mehrheit akkumulieren und die Ungleichheit immer weiter anwachsen darf. Das Medianvermögen in Deutschland ist erschreckend niedrig und sinkt weiter. Diese Darstellung zeigt, wie sehr dieses Land in Wirklichkeit gestrippt worden ist:

Liste der Länder nach Vermögensverteilung – Wikipedia

Auf den ersten Blick fällt auf, dass das Medianvermögen in Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Italien um ein atemberaubendes Zweieinhalb- bis Dreifaches höher liegt als bei uns. Nicht, dass damit alle reich wären, aber z. B. in den romanischen Ländern würden die Menschen es nicht dulden, zu ihren eigenen Lasten und zugunsten weniger dermaßen von einer gewissenlosen Politik in den Ruin getrieben zu werden wie bei uns. Und das, obwohl die Deutschen doch angeblich so viel sparen. Wo geht es aber hin? Zum Beispiel in die Weginflationierung, derzeit, in die Negativzinsen, schon seit einiger Zeit usw. Der Verfall der Vermögensbasis der Mehrheit in diesem Land ist ein Alarmzeichen auch für die Demokratie.

Der Gini-Index in Deutschland liegt mit über 81 Prozent wirklich sehr hoch. Nur Länder wie Russland und die USA liegen unter den größeren Staaten noch einmal deutlich darüber.

Das zeigt auch ergebnisseitige Ähnlichkeiten zwischen dem hochkapitalistischen US-System und dem russischen Oligarchen-System auf: Wenige profitieren in absurd hohem Maß von den Vielen. Deswegen ist Antikapitalismus für mich untrennbar äquidistant. Wenn ich dann lese, wie ein gewisser Herr Linnemann ein Buch darüber schreibt, wie man die “Vollkaskomentalität“ in Deutschland beheben müsse …

Carsten Linnemann wurde vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz als Leiter der CDU-Kommission eingesetzt, die ein neues Grundsatzprogramm für die C-Partei ausarbeiten soll.

Hier gibt es ein Interview mit ihm. Klingt alles ziemlich verschwurbelt, was er darin sagt, aber am Ende wird es herrlich konkret: Die Armen haben hier noch zu viel Geld. Und es trendet gerade #Eigenverantwortung.

Linnemann: „Mein Ziel ist es, die Vollkasko-Mentalität aufzubrechen“ | WEB.DE

Nicht nur die Wortwahl kennen wir von früher, auch die Ideen sind in Wirklichkeit nicht innovativ, sofern sie aus dem Interview zu entnehmen sind. Nur ist dieser Spin heute noch krasser, wo die Verarmung im Land so weit fortgeschritten ist. Kommt mir vor wie einst bei Roman Herzog: „Ein Ruck muss durch das Land gehen“. Das hat sich Gerhard der Grausame (Ex-Kanzler Schröder) zu Herzen genommen und dafür gesorgt, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Nur gab es damals viel mehr offizielle Arbeitslose als jetzt. Linnemann drischt aber auf eine Chimäre ein, zumindest, wenn die offiziellen Arbeitslosenzahlen stimmen, denn es hat ja fast jeder Arbeit. Da wird wieder ungeniert die neuliberale Keule ausgepackt, und sie ist im Kern antidemokratisch.

Die CDU wird doch mit dieser Politik nach den Erfahrungen der Mehrheit in den letzten Jahren niemals wieder Mehrheiten gewinnen können.

In einer Civey-Umfrage haben viel zu viele Abstimmende gesagt, das Bürgergeld, das 2023 kommen soll, sei ausreichend (oder mehr als das). Viele kapieren es immer noch nicht: In einer wirklich innovativen Gesellschaft, in der einfache Arbeiten weitgehend wegautomatisiert werden können, wird für viele nur noch ein Grundeinkommen übrigbleiben oder jene Bullshit-Jobs, die sich rasant vermehren, aber im Grunde kaum Wertschöpfung erzielen. Das Ziel ist es aber ja, Arbeit aufs Notwendige zu reduzieren, damit das Klima und die Umwelt möglichst wenig zu belasten und dabei so viel Wert zu schöpfen, dass die Menschen, die an diesem Prozess nicht mehr teilhaben können, sich angenehmen, vielfach kreativen Aufgaben widmen können, die das Zusammenleben ganz sicher mehr verbessern als der rechte Quark, der bloß dafür sorgen soll, dass alle aufeinander möglichst neidisch sein sollen. Neid und Hass sind aber die Grundpfeiler des Konkurrenzkapitalismus und des Krieges, der immer mit ihm einhergeht, wie wir gerade wieder sehen. Dafür steht die CDU.

Wenn ich angesichts der Tatsache, dasss man im sogenannten Vollkaskosystem für wirklich alles selbst zahlen muss, sogar für Gesundheitsausgaben Zuzahlungen, die sich bei einem etwas größeren Problem rasch summieren können, das man nicht einmal selbst verursacht hat, kann ich nur noch … ja, was? Den Kopf schütteln oder lachen? Vielleicht abwechselnd, damit der Schädel von so viel CDU-Blödsinn nicht zu sehr brummt. Diese antiquierte Begriffswahl alleine ist eine Frechheit. Sie stammt noch aus der Zeit, als Autos „vollkasko“ auf den Neuwert versichert werden konnten, es also einen kompletten materiellen Schadensersatz auch bei selbstverschuldeten Unfällen gab. Vorwärts, wir marschieren zurück in die frühen 1990er, als Helmut Kohl blühende Landschaften versprach, das ist, wenn man das Innvationsgestreusel per „Entbürokratisierung“ mal weglässt oder als das nimmt, was es ist, nämlich eine Entmachtung des Staates und damit von dessen Schutzfunktion, der Kern von allem. Das passt in seiner geistigen Armut zur materiellen Armut der meisten Menschen in Deutschland.

Nochmals: Wo sollen die Mehrheiten für ein solches Szenario herkommen? Dass etwa 35 Prozent in einer Umfrage sagen, das Bürgergeld sei genug oder sogar zu hoch, bedeutet noch nicht, dass wir wieder eine Politik à la Schröder-Merkel bekommen werden.

Es wird zu einer bundesweiten CDU/CSU-AfD-FDP-Koalition kommen, wenn wir nicht als Zivilgesellschaft höllisch aufpassen. Ich muss nur an Thüringen 2020 erinnern oder an dem, was sich auf Bezirksebene in Berlin abspielt, wo es möglich ist, also in den eher rechten Bezirken. Da sind genau diejenigen zusammen, die der Mehrheit in diesem Land nicht das Schwarze unter dem Nagel gönnen. Okay, das ist auch eine Hygienefrage, aber auch Hygiene als Sinngebung für Einzelpersonen ersetzt nicht ein menschenwürdiges Leben für die Mehrheit. Die Grünen unterstützen diesen üblen Spin auf ihre Weise, indem sie von oben herab Identitätspolitik betreiben, die den Klassenkampf hintertreibt. Das Sich-Einschießen mancher Rechter auf die Politik der formalen Partizipation für Minderheiten durch die Grünen ist reine Augenwischerei, denn so blöd sind sie nun wieder nicht, dass sie nicht merken, wie auch das dem Kapital hilft und nicht denen, die formal, aber nicht sachlich partizipieren können.

Was muss stattdessen?

Das Einzige, was gegen das Desaster hilft, das wir in der Statistik gespiegelt bekommen, ist starke sozialpolitische Gegenwehr. Von mindestens vier von sechs Parteien, die aktuell den Bundestag proppenvoll machen mit ihren zu vielen Abgeordneten, werden wir dazu nichts sehen, von den beiden übrigen viel zu wenig. Also kann es nicht angehen, dass jede Gruppe derzeit ihre eigenen Demos macht, es muss endlich mal zu Zusammenschlüssen kommen. Natürlich unter Ausschluss der Rechten, die vom Kapital nur als Stoßtrupp gegen die Interessen der Mehrheit verwendet werden.

Zurück zum Ausgang: Nur in osteuropäischen EU-Ländern ist in der Tat der Anteil derjenigen höher, die bei Sonderausgaben gefährdet sind.

Nicht, dass ich den Menschen dort nicht auch eine bessere Aufstellung gönne, aber ich schaue natürlich vor allem nach Westen, wo alle nach dem Krieg fast bei null gestartet sind, wo die meisten von uns sozialisiert wurden und wo es in den 1950ern, 1960ern ähnliche Entwicklungen gab, wenn auch mit unterschiedlichem Tempo und unterschiedlicher Wirtschaftspolitik. Das deutsche neoliberale Marktmodell, das einen Trickle-Up-Effekt bewirkt, keinen Trickle-Down-Effekt, ist mittlerweile, auch aufgrund seiner an amerikanischen Ultras der 1980er angelehnten Ausfassung, aber dem mehr interventionistischen französischen Modell klar unterlegen, wenn es darum geht, wie die Bevölkerung dasteht.

Das wird uns von interessierten Lobbys und neoliberalen Wirtschafts-„weisen“ zwar ganz anders verkauft, aber die Zahlen sind eindeutig. In allen westeuropäischen Ländern außer Griechenland, wenn man es denn zu Westeuropa rechnet, sind die Menschen gegen Krisen besser abgesichert als hierzulande. Selbst dort ist das Medianvermögen übrigens nach der obigen Tabelle höher. Verrückterweise hauen die Linkskeynsianer, die wirklich glauben (ich meine eher: vorgeben) sie seien links, in die gleiche Kerbe wie die neoliberalen Ultras und scheren sich nicht darum, wie sie soziale Kämpfe damit torpedieren. Aber nicht z. B. die Exportstärke Deutschlands, sondern die zu geringe Partizipation der Bevölkerung daran ist das Problem. Nicht der Grad oder die Stärke einzelner Branchen im Bereich der Technik, sondern die Verteilung der Produktionsmittel bestimmt darüber, wie die Bevölkerung sich steht.

Aber die Revolution ist nicht in Sicht.

In dieser Krise muss doch endlich klar sein: Die Menschen müssen aufhören, diese rechten, klassistischen Parteien zu wählen, die keine Stützen der Demokratie (mehr) sind. Das ist doch eindeutig der erste Schritt. Die übrigen politischen Kräfte müssen ebenfalls sofort durch Stimmentzug abgestraft werden, wenn in ihnen ähnliche Strömungen die Oberhand gewinnen, wie einst in der SPD, deren Niedergang parallel zum Niedergang der Chancen der Mehrheit in diesem Land verlief. Da ist noch so viel zu tun. Und es muss links von der SPD endlich eine kraftvolle politische Strömung entstehen, die glaubwürdig, kohärent und nachprüfbar am Fortschritt interessiert ist.

Wir selbst können jeden Tag etwas tun, indem wir zum Beispiel darüber informieren, wen wir mit der Merz-Linnemann-Union, der Lindner-Kubicki-FDP, der AfD wirklich vor uns haben: Das Grauen, das sich aufgrund des Rechtsrucks in einigen europäischen Ländern schon als Tagespolitik manifestiert hat. Das allerletzte, worum es diesen Kräften geht, ist Innovation, die uns allen etwas bringt, das kann man gar nicht oft genug betonen. Schauen Sie sich noch einmal die Grafik an: Sind alle die Menschen, die finanziell so schwach dastehen, zum Beispiel Alleinerziehenden-Haushalte, „Schuldige“? Die CDU mit ihrem „Eigeninitiative“-Spin suggeriert das aber. Entspricht ja auch ihrem retardierten Familienbild. In Wirklichkeit müssen diese Menschen schon ein enormes Maß an Eigeninitiative aufbringen, um nach 40 Jahren Neoliberalismus überhaupt das Leben bestehen zu können. Vor dieser Form der Selbsterhaltung, diesem täglichen Kampf, habe ich Respekt, nicht vor Großschwätzern, die uns hier erzählen, wie viel sie in der Welt herumgekommen sind und wie viel besser alles hierzulande ist. Klar, wenn man nur in den entsprechenden Kreisen unterwegs ist, von den entsprechenden Transatlantik-Clustern herumgereicht wird, aber das ist auch eine Form von Tourismus, die kulturelle Kontexte gar nicht verstehen will. Da wird nur darauf hingearbeitet, dem Kapital Gefolgsleute zu basteln. In der CDU ist das ja besonders ausgeprägt, wie wir anhand der vielen Lobbyverwicklungen von deren Politikern sehen können.

Dann verpasst man mit voller Absicht, wie viel solidarischer andere Gesellschaften institutionell und auch das persönliche Verhalten der Menschen betreffend aufgestellt sind. Nehmen wir unser beliebtes Beispiel Skandinavien: Das Medianvermögen ist auch in diesen Ländern nicht überragend hoch und speziell Norwegen hat aufgrund seiner Wirtschaft, die auf kapitalintensivem Rohstoffhandel basiert, einen hohen Gini-Index. Der große Unterschied aber: Die Menschen werden institutionell weitaus besser abgefdert, wenn sie in Schwierigkeiten kommen.  

In wieder anderen Ländern ist die Familiensolidarität weitaus größer als bei uns, wo doch die ach so familiensinnigen C-Parteien im Wesentlichen das politische Sagen haben. Das Menschenbild  hierzulande ist eh nicht das Positivste, aber genau darauf setzen diese Parteien, die Leute noch mehr gegeneinander aufzuhetzen. Bei Merz war das zuletzt ja so offensichtlich, so geradewegs plump (Sozialtourismus), dass er dafür in Niedersachsen für die Wahlniederlage seiner Partei in Teilen verantwortlich zu machen ist. Insofern, ja, mehrheitsfähig ist der Quatsch derzeit nicht. Aber es gibt ja nicht nur die Unionsparteien, um Rechts zu reinstallieren.

In vielen anderen Ländern wird grundsätzlich davon ausgegangen oder gibt es darauf ausgerichtet instituionelle oder tradtionelle Strukturen, dass Menschen es verdient haben, dass ihnen solidarisch geholfen wird, nicht, wie bei uns, dass sie sich jeden Schicksalsschlag, jede Krankheit, jeden sozialen Missstand, in den sie auch dank der rechten Politik hierzulande hineingeboren wurden, selbst zuzuschreiben haben. Das ist so arm, was hier hinter dem Deckmäntelchen „Eigenverantwortung“ verkauft wird, dass man sagen kann: Der materiellen Armut der Mehrheit entspricht die geistige Armut der Politik.

Wenn wir an etwas schuld sind, dann daran, dass wir uns von rechten Politiker:innen zu lange ein Arschloch-Verhalten als Ideal haben vorgaukeln lassen, mit dem wir, wenn wir so naiv sind, es dann wirklich zugunsten der Hochvermögenden zu adaptieren, diese Gesellschaft gegen die Wand fahren.

TH

Unser 40. Briefing wird sich ausschließlich mit Wirtschaftsthemen befassen. Wir fangen oben an, global, in Form des Welthandels:

Infografik: Welthandel verliert erneut deutlich an Dynamik | Statista Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Der Welthandel wird einer Prognose der World Trade Organization (WTO) zufolge in der zweiten Jahreshälfte 2022 deutlich an Dynamik verlieren und im kommenden Jahr unter Druck bleiben. Laut WTO-Ökonomen belasten gleich mehrere Schocks die Weltwirtschaft. Ihren Einschätzungen zufolge wird das weltweite Warenhandelsvolumen im Jahr 2022 um 3,5 Prozent wachsen – also etwas mehr als die noch im April prognostizierten 3,0 Prozent. Für 2023 prognostizieren die Experten dann nur noch einen Anstieg von 1,0 Prozent – ein deutlicher Rückgang gegenüber der April-Schätzung von 3,4 Prozent.

Der Prognose liegt die Annahme zugrunde, dass die Importnachfrage nachlässt, da sich das Wachstum in den großen Volkswirtschaften aus verschiedenen Gründen verlangsamt. In Europa würden die hohen Energiepreise infolge des Russland-Ukraine-Krieges die Haushaltsausgaben drücken und die Herstellungskosten erhöhen. In den Vereinigten Staaten würde die Straffung der Geldpolitik zinsempfindliche Ausgaben in Bereichen wie Wohnen, Kraftfahrzeuge und Anlageinvestitionen treffen. China kämpfe weiterhin mit COVID-19-Ausbrüchen und Produktionsunterbrechungen, gepaart mit einer schwachen Auslandsnachfrage. Schließlich könnten steigende Importrechnungen für Kraftstoffe, Lebensmittel und Düngemittel zu Ernährungsunsicherheit und Schuldenproblemen in Entwicklungsländern führen.

Was wir aus der Grafik herauslesen, ist vor allem, dass ungeachtet der Corona-Pandemie und aller anderen Unsicherheiten der Welthandel in den letzten Jahren per Saldo deutlich zugelegt hat. Nur 2020 gab es einen Einbruch, der wurde aber 2021 mehr als ausgeglichen. Wenn wir uns die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anschauen: Ob Krisen die Welt erschütterten, Hunger viele Menschenleben kostete, Kriege und Naturkatastrophen zu beklagen waren, der Welthandel wuchs immer weiter, es gab höchstens mal mehr, mal etwas weniger Wachstum. Letzteres wird für 2022 und 2023 erwartet.

Lange Zeit waren mit dem immer weiter wachsenden Welthandel zwei Narrative verbunden: Annäherung und Wandel, zum Beispiel von Diktaturen zu Demokratien, durch Handel, das war die eine Geschichte. Die andere: Mehr Wohlstand für alle durch Handel. Nach der Wende haben sich beide Erzählungen als unwahr herausgestellt. Vielmehr war es die Systemkonkurrenz, die dafür sorgte, dass es vielen Menschen, besonders im Westen, einigermaßen gutging. 

Mehr Welthandel bedeutet bei der gegenwärtigen Form der Konsumwirtschaft jedoch vor allem Mehr Umweltbelastung und Beschleunigung der Klimakrise, Steigerung der Ungleichheit, weil zu wenige zu massiv profitieren. Nun werden nicht nur Waren, sondern auch Dienstleistungen gehandelt, aber hier geht es um Produkte, mithin um Gegenstände, die Rohstoffe verschlingen.

Der Welthandel folgt bisher dem Mantra des ewigen Wirtschaftswachstums auf dem Fuß, bei dem nicht nach Qualität, sondern nur nach Quantität gefragt wird. Gerade der chinesische Aufstieg behindert im Grunde eine nachhaltige Wirtschaft, weil er billig wirkende Konsumwünsche zu einfach befriedigt. Die ökologischen Folgekosten finden ihren Eingang aber niemals in den Preisen der dabei entstehenden Waren. Es gibt zwar mittlerweile Firmen, die etwas wie einen CO2-Abdruck bei ihren Produkten abbilden, aber selbst wenn dieser realistisch ist, ist damit noch nichts über den Raubbau an Ressourcen weltweit ausgesagt. Darin liegt auch eines der Probleme des kapitalistischen Greenwashings begründet: Der Fokus auf einen Einzelaspekt wie die CO2-Bilanz ist viel zu verengt. Ein E-Fahrrad beispielsweise ist zwar auf den ersten Blick klimaneutral und es wird argumentiert, dass Menschen, die vom Auto auf ein solches unfallträchtiges Vehikel umsteigen, einen nützlichen Beitrag zur Klimawende leisten. Aber es verbraucht wegen seines Antriebs ein Mehrfaches an wertvollen Rohstoffen wie ein normales Fahrrad. Auch die E-Auto-Bilanz ist schon wegen des massiven Einsatzes von Rohstoffen alles andere als ein ökologischer Hauptgewinn.

Die Unruhen, die wir weltweit sehen, sind auch ein Kampf um Rohstoffe, das wird nicht nur beim Ukrainekrieg ganz deutlich. Diese Unruhen werden zunehmen, wenn nicht insgesamt der Verbrauch deutlich gebremst wird. Das würde aber auch einen Rückgang der Handelsaktivität bedeuten. Denn jedes nachhaltige Produkt, das zum Beispiel reparaturfreundlich ausgestaltet ist und länger hält als das, was derzeit allgemein angeboten wird, stellt sich beim Welthandel als Minus dar. Der Welthandel wiederum wächst weitaus langsamer als die Summer der Finanztransfers, mit denen immer höhere virtuelle Reichtümer in Sekundenbruchteilen um die Welt gejagt werden.

Unser nächster Blick gilt dem Tourismus, dieses Mal nur auf Deutschland bezogen:

Infografik: Fremde Betten wieder so attraktiv wie vor Corona | Statista Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Nach schwierigen Wintermonaten und zwei durch Kontaktbeschränkungen und Reiseeinschränkungen gekennzeichneten Pandemiejahren scheint sich die deutsche Beherbergungsindustrie wieder erholt zu haben. Laut Daten des Statistischen Bundesamts (Destatis) verzeichneten Campingplätze, Hotels, Pensionen und Ferienunterkünfte im August etwas mehr Übernachtungen als im entsprechenden Vergleichszeitraum von 2019.

Wie unsere Grafik zeigt, lag der August 2022 rund 400.000 Übernachtungen über dem August 2019. Wichtigster Treiber waren laut Destatis Hotels, Gasthöfe und Pensionen, rund 53 Prozent aller verbrachten Nächte entfielen auf diesen Zweig der Beherbergungsindustrie. Bei den Übernachtungen auf Campingplätzen schnitt der vergangene August deutlich besser ab als der Vergleichsmonat vor der Pandemie. 9,3 Millionen Nächte wurden in diesem Segment registriert, was einer Zunahme von 14,7 Prozent gegenüber 2019 entspricht.

Auch für ausländische Tourist:innen scheint Deutschland wieder attraktiver zu werden. Im Vergleich zum Vorjahresmonat stieg die Anzahl von Übernachtungen ausländischer Gäste um knapp 76 Prozent auf 8,9 Millionen. Trotz des deutlichen Anstiegs übernachteten 17,5 Prozent weniger Menschen aus dem Ausland in Deutschland als im August 2019.

Der Einbruch zwischen Ende 2020 und Juni 2021 lässt sich vor allem durch das weitreichende Beherbergungsverbot erklären. Auch der Wegfall von ausländischen Reisenden aufgrund von Einreisebeschränkungen und -auflagen beeinflusste die Übernachtungszahlen deutlich.

Die Übernachtungen ausländischer Gäste betreffend, müsste man Vergleichszahlen mit anderen Ländern anschauen, um zu ermitteln, ob Deutschland, relativ gesehen, attraktiver oder unattraktiver geworden ist. Der Trend zum Urlaub im eigenen Land dürfte nicht nur bei uns während der Corona-Hochphase zu beobachten gewesen sein. Wer den Massentourismus in Berlin kennt und nicht gerade einen Job hat, der davon abhängig ist, der wird einen Rückgang eher begrüßen, denn die Qualität dessen, was man hier unter Tourismus versteht, ist teilweise miserabel und demgemäß die Auswirkungen auf die Stadt und ihre Einwohner. Nun ist Deutschland insgesamt nicht so abhängig vom internationalen Tourismus wie manche anderen Länder, das finden wir auch gut so. Touristen tragen ohnehin kaum etwas zur kulturellen Verständigung bei, weil sie mit Einheimischen kaum in Kontakt treten. Annäherung durch Tourismus ist ohnehin eine der größten Lügen, eher steigt die Ungleichheit dadurch, dass bisher intakte Gesellschaften durch ein Ansteigen des Massentourismus in ein paar Gewinner und viele Verlierer gespalten werden, die an den Einnahmen nicht angemessen beteiligt werden, außerdem werden unzählige Menschen zu Dienstpersonal für satte Urlauber aus den üblichen Ex-Kolonialstaaten herabgewürdigt. Wer es sich nicht ganzjährig leisten kann, darf wenigstens für ein paar Wochen am heißen Strand den Herrscher spielen. Raubbau an der Natur ist zwar in Deutschland nicht ganz so relevant wie in den sogenannten „Naturparadiesen“, die touristisch erschlossen = ausgebeutet werden, aber es ist nicht falsch, auch hier den Blick über die Landesgrenzen zu richten. Und da sieht es so aus, dass die Deutschen zu den eifrigsten Touristen der Welt zählen, berüchtigt in vielen Ländern durch ihre besitzergreifende Art.

Über den Irrsinn von Sonderformen des Tourismus wie dem Kreuzfahrtwesen haben wir uns z. B. in diesem Artikel geäußert: Auf Kreuzfahrt in die Klimakrise (Statista + Kommentar) | Klima-Energie-Report 10 | Weitere explosionsartige Anstiege bei den Energeiepreisen – DER WAHLBERLINER

Es ist per se kein Verbrechen, sich fremde Länder anzuschauen, aber der kulturelle Horizont erweitert sich nur durch Besuchsformen längerfristiger Art, durch regen Austausch mit Menschen vor Ort. Andere ist der typische Massenkonsum, der unsere Zeit prägt und vielen so unverzichtbar geworden scheint, dass sie gar keinen Blick mehr für den Wert dessen haben, was sie da „bereisen“, anstatt es verstehen zu wollen. Auch die Natur ist kein Objekt der Bewunderung mehr, sondern dient vor allem als Kulisse für den Hype des eigenen Egos, besonders bei modischen Urlaubsformen, die quasi verlängerte Leistungssport-Events sind. Die Neugier dem Anderen gegenüber geht verloren, vielmehr nehmen die Leute ihre eigene Kapsel und die eigene kleine Welt darin mit an einen anderen Ort und bleiben darin gefangen.

Sie werden von uns nicht erwarten, dass wir Wirtschaftsdaten neutral beschreiben, sondern wir kommentieren sie so kritisch, wie es angesichts der globalen Verwerfungen auf allen Gebieten angebracht ist. Das sind wir Ihnen geradezu schuldig, auch wenn es anstrengend wirken mag und obwohl wir sehr wohl wissen, dass aktuell die Kapazitäten vieler Menschen für die Entwicklung eines globalen Bewusstseins nicht gerade üppig sind. Gerade das ist aber gefährlich: Jetzt nicht darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist und die Krise zur Neuausrichtung zu nutzen, ist eine verpasste Chance.

Damit dies aber klar ist: Wir stellen uns nicht in die Reihe mit den Spar-Rhetorikern der Regierung, die die Menschen zu ihren Marionetten zwecks Vertuschung einer verpeilten Energiewende machen wollen. Uns geht es um einen achtsameren Umgang mit den Schätzen der Welt, den Menschen, die sie hervorgebracht haben und mit der Natur, die keine Menschen brauchte, um so großartig zu werden, wie sie ist. Vielmehr leidet diese Natur seit vielen Jahren unter dem engstirnigen und zukunftsfeindlichen Treiben der Menschen.

TH

Unser Briefing Nr. 39 (hier zu Nr. 38) enthält zwei Bestandteile: Anmerkungen zum Wahlergebnis von Niedersachsen und das Problem der Ampelregierung im Bund, das da heißt: Die Menschen werden immer unzufriedener mit uns.

Die Vorschau zur Landtagswahl 2022 in Niedersachsen hatten wir in einem eigenständigen Artikel geliefert: Niedersachsen hat die Wahl, Teil 1: Der Wahl-O-Mat und wir | Frontpage | PPP, Wahlen, Bundesländer, Niedersachsen – DER WAHLBERLINER.

Nun ist die Wahl gelaufen und das amtliche Endergebnis sieht so aus:

SPD: 33,4 Prozent (-3,5)
CDU: 28,1 Prozent (-5,5)
Grüne: 14,5 Prozent (+5,8)
AfD: 10,9 Prozent (+4,7)
FDP: 4,7 Prozent (-2,8)
Linke: 2,7 Prozent (-1,9)
Sonstige: 5,7 Prozent (+3,2)

Gratulation an Stefan Weil, den bisherigen und künftigen Ministerpräsidenten von der SPD?

Eine solche ist angebracht. Ich habe mir gestern Abend die Berliner Runde zur Wahl und alle Spitzenkandidat:innen der Parteien in Niedersachsen angeschaut, deren Parteien nun im 19. Landtag vertreten sein wird. Als Person schneidet Stefan Weil diesbezüglich für mich eindeutig am besten ab. Das ist keine politische Bewertung. Es lässt sich aber gut vorstellen, dass er sich dem negativen Trend für die Bundesregierung, also die Ampel-Koalition, weitgehend entziehen konnte. Auch dadurch, dass die Wähler wussten, er ist kein Scholz-Fan. Dies wiederum ändert nichts daran, dass ich froh bin, dass Scholz die Bundesregierung mit Augenmaß führt.

SPD und CDU haben verloren, die FDP noch mehr, die Linke ebenso, nur die Grünen und die AfD haben in Niedersachsen hinzugewonnen.

Die Grünen hatten 2017 unter ihren Möglichkeiten performt und das jetzt ausgeglichen. Der Trend für sie ist allgemein besser, obwohl ein ähnlicher Trend wie im Verlauf der Zeit vor der Bundestagswahl 2021 zu beobachten war: Am Ende kam nicht ganz das heraus, was zwischenzeitlich möglich schien. Vielleicht können sie für das Niedersachsen-Ergebnis noch froh sein, angesichts des derzeit massiven Verlusts an Spaß seitens der Bevölkerung am grünen Regierungshandeln in Berlin.

Die AfD ist in Niedersachsen zweistellig geworden.

Das war zu erwarten, wir haben es im oben verlinkten Artikel so beschrieben. Im Verlauf der Hochrechnungen kam sie bis auf 11,7 Prozent, insofern ist das obige Ergebnis beinahe ein Grund zu Aufatmen.

Wirklich?

Warum sollte Niedersachsen ein absoluter Sonderfall sein? Das Land ist in Teilen auch sehr konservativ, das darf man nicht vergessen, es ist nicht mit Hamburg vergleichbar, das sich als die Anti-AfD-Hochburg Deutschlands sieht. Gestern schrieb die Berliner Zeitung im Rahmen der Vorwahl-Berichterstattung: Sollte die AfD zweistellig werden, ist klar, dass Rechts nicht nur ein ostdeutsches Problem sei. Was soll man davon wohl halten?

Ja, was?

Journalismus ist bei uns oft Glücksache. Das kann man daran zum Beispiel ablesen. Gehen wir ein paar Jahre zurück: Die „Krise der Geflüchteten“ gab der AfD schon einmal starken Auftrieb und führte dazu, dass Angela Merkel das zweitschlechteste CDU-Bundestagswahlergebnis bisher einfuhr, das war im Jahr 2017. Zuvor hatte die AfD in Baden-Württemberg, dem Land der Pietisten und Wutbürger:innen satte 14 Prozent erreicht. Aber eine unser Zeitungen hier schreibt, jetzt wäre wohl klar, dass nicht der Osten. Blödsinn! Die AfD war nie ein rein ostdeutsches Problem und profitiert immer dann, wenn die Menschen in Krisenstimmung sind. In anderen Westbundesländern würde sie jetzt ebenfalls wieder zulegen, mit ihren scheinbar einfachen Lösungen für gravierende Probleme.

Und trotzdem: Fast 11 Prozent sind etwas anderes als die Zustände in Sachsen, wo die AfD nach aktuellen Umfragen stärkste Partei würde, wäre dort jetzt Landtagswahl. So muss man auch die Putinfreundlchkeit des CDU-Ministerpräsidenten Kretschmer interpretieren: Der Druck der putinfreundlichen Rechten ist dort so stark, dass er sein Heil darin sucht, diesen Leuten nach dem Mund zu reden. Bis auf die linke Hochburg Leipzig ist dort die Demokratie in Gefahr, das sehe ich bezüglich Niedersachsen mit Abstand anders. Zum Glück gab es ein Einknicken vor den Rechten in dieser Ordnung, wie man es in Sachsen beobachten kann, im Westen bisher noch nicht und zum Glück hält auch Olaf Scholz einen Kurs, der weder der einen noch der anderen Seite zu viel Raum gibt.

Die FDP und die Linke sind raus aus dem niedersächsischen Landtag.

Die Linke war zuvor schon nicht drin. Mir fehlen immer wieder beinahe die Worte. Aber zunächst die FDP: Vollkommen verdient. Und deren Generalsekretär war sicher der interessanteste Typ in der Berliner Runde, aber er liegt falsch. Die Menschen möchten in der Bundesregierung nicht mehr, sondern weniger FDP. Seit Monaten trendet kein Ampel-Hashtag so häufig wie #FDPrausausderRegierung, auch #FDPunterfuenfProzent ist häufig zu sehen. Und nicht etwa, weil die Politik nicht liberal genug ist, sondern weil von diesen Kriegstreibern und arroganten den Kapitalisten-in-den-Arsch-Kriechern die Menschen in Zeiten wie diesen einfach die Schnauze voll haben. Krass gut aber, wie sich Generalsekretär Bijan Djir-Sarai einfach neben die Regierung gestellt und gesagt hat: Ich bin ja kein Teil davon, ich darf dieses Weichei Lindner kritisieren, denn Lindner war gemeint, das ist ganz offensichtlich gewesen. Da wächst dem Finanzminister in der Partei endlich mal echte Konkurrenz entgegen. Hat mich etwa an die alten Zeiten erinnert, als die Generalsekretäre qua Amt die schärfsten Hunde waren, Heiner Geißler (CDU) etwa, der später eine Art erleuchteter Guru wurde. Manche sind auch eben gute Rollenspieler.

Wenn wir schon dabei sind: Die übrigen?

Kevin Kühnert von der SPD ist ja hier ein guter Bekannter, alert wie erwartet und glatt wie erwartet, interessant für mich Sebastian Czaja (CDU), ein Berliner Gewächs und m. E. der sympathischere von den beiden politischen Czaja-Brüdern, der andere ist bei der FDP. Trotzdem hätte er noch mehr Widerstand für den dezent vorgetragenen Spin verdient, an was die Ampel nun alles schuld sei, wohingegen die CDU … ja, genau, 16 Jahre lang dieses Land regiert hat, wohingegen die Ampel erst ein paar Monate im Amt war, als sie mit dem Ukrainekrieg konfrontiert wurde. Dass da nicht alles perfekt gelaufen ist, liegt auf der Hand, dass auch unnötige Fehler gemacht wurden, muss thematisiert werden. Besonders witzig fand ich Czajas Einlassung, die Mehrheit der Bevölkerung sei ja für den Atomausstieg gewesen, deswegen könnten jetzt FDP und AfD nicht die CDU dafür schelten. Dabei hat er etwas Wichtiges vergessen: Es sollte auch eine forcierte Transformation hin zu den Erneuerbaren stattfinden, und die haben die opportunistische Angela Merkel und ihr schnarchiger Wirtschaftsminister Altmeier einfach in die Tonne getreten, zugunsten der Fossilien-Lobby.

Weitere Anmerkungen zur Berliner Runde?

Bei der AfD muss man wirklich aufpassen. Es wirkt so logisch, was von dort kommt: Wir haben eine Energiekrise, also muss das Angebot erweitert werden. Ähnlich die FDP übrigens, woran man wieder einmal sieht, wie nah sich diese beiden Parteien stehen. Niemand hätte Verständnis für den deutschen Sonderweg, jetzt auch noch die letzten Atommeiler abzuschalten. Damit kann man die Ampel natürlich super unter Druck setzen und einmal mehr zeigt sich: Die AfD mit ihren retardierten Inhalten ist eine Krisengewinnpartei. Nach vorne ist da nichts, sondern ein Zurück zu Lösungen, die langfristig nicht tragen werden. In der Hoffnung, dies dann auch nach der Krise zementieren und mit einem gesellschaftlichen Rollback vereinen zu können.

Trotzdem befürchte ich, dass die Regierung einen Schritt in diese Richtung machen wird, um nicht weiter an Zuspruch zu verlieren. Sie wird Reserven aktivieren müssen, falls wir einen kalten Winter bekommen. Vielleicht ist es zwischenzeitlich sogar ökonomisch zwingend, aber wenn, das kann man nicht genug betonen, dann ist das in den Versäumnissen der GroKo-Vergangenheit begründet, nicht darin, dass Atomenergie „sauber und günstig“ ist oder dass russisches Gas besser wäre als die Erneuerbaren. Dass sie als Juniorpartner der CDU keine eigenen energiepolitischen Akzente gesetzt hatte, fällt jetzt auch der SPD als führender Regierungspartei auf den Kopf. Gar nicht so ungerecht, finde ich, einerseits.

Andererseits?

Es macht Scholz das Leben noch schwerer, als es in dieser Krise ohnehin ist. Vielleicht sorgen die mögliche Notlage bei der Versorgung und die bereits bestehende Notlage bei den Preisen aber auch dafür, dass die Kriegstreiber hier im Land noch nicht vollkommen freidrehen. Ich stelle mir vor, es gäbe diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht. Dann wären gewisse Politiker:innen noch mehr damit befasst, die Menschen hier mit proaktiver Eskalationsrhetorik zuzutexten und die Menschen wären noch empfänglicher dafür.

Jetzt haben wir die Linke noch nicht. Ihre Aufgabe wäre es doch, dem etwas entgegenzusetzen.

Merken Sie sich mal den Namen Tobias Bank. Das ist der neue Generalsekretär der Linken. Er wird alles wenden.

Ironie off? Die Linke ist mit 2,7 Prozent noch schwächer geworden als 2017 (4,1 Prozent).

Irgendwo hatte ich den Namen schon einmal gehört, wusste nicht einmal, wie der Mann aussieht. Die Linke geht weiter nach Schema F vor, wo Köpfe und Charaktere gefordert wären. Und, nein, man muss auch im Westen nicht so schlecht abschneiden, der Moderator der Runde hatte recht: Wieso kriegt die Linke die Füße nicht hinter den politischen Ball, obwohl die Krise, linke Politik voraus! Wer sich mit dem Laden ein wenig auskennt, kennt auch die Unterschiede zwischen den Krisengewinnlern von der AfD und den Verlierern von der Linken. Immerhin: Querfront in dem Sinne, wie der Begriff heute verstanden wird, kann man daraus nicht ableiten. Vielleicht ist das der Linken auch wichtiger als gute Wahlergebnisse. Niedersachsen ist nicht, siehe oben, Hamburg oder auch Bremen, wo die Linke recht stark ist, es ist auch nicht das Saarland, wo es mal eine große Schar von Lafontaine-Anhängern gab, der die Linke pushen konnte.

Kurz nach Berlin: Was, wenn hier die AGH-Wahl 2021 (die Wahl zum Abgeordnetenhaus) wiederholt werden müsste?

Die sehr unbeliebte Regierende Bürgermeisterin von der SPD würde wohl ihr Amt an eine Grüne verlieren, aber das größte Desaster würde wieder einmal die Linke ereilen. Sie profitierte 2021 noch einigermaßen davon, dass die die Mietenbewegung „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ unterstützt hatte, aber die erwähnte Regierende namens F. Giffey versteht es mittlerweile, diese Bewegung so zu kanalisieren, dass die mitregierende Linke dagegen gar nichts machen kann, zumal sie sich das wichtige Bauressort hat abnehmen lassen. Die Berliner Linke aber ist wichtig für die Partei im Bund. Verlöre sie bei einer Wahlwiederholung eines ihrer Direktmandate, gäbe es keine Fraktion der Linken mehr im Bundestag, bestünde also die Situation die Herr Bank auch für Niedersachen angedeutet hatte: Ohne parlamentarische Anwesenheit ist es für eine Partei schwierig, sichtbar zu werden. Ich halte das für ausgesprochenen Quatsch und für eine Ausrede.

Wie leicht ist es der AfD gelungen, aus einer Außenseiterposition heraus in die Parlamente vorzustoßen? Je nach Situation kann ein APO-Gepräge sogar helfen, den Bewegungscharakter stärken, Forderungen und auch populistische Elemente mit Anti-Establishment-Romantik schicker machen. Aber die Linke und sich bewegen, gute Kampagnen liefern, wissen, wo der Bus steht, in den man einsteigen muss, wenn man in Richtung Wählermehrheiten fahren will – oh je. Nicht einmal die vergurkte Bundestagswahl wurde bisher aufgearbeitet, und das ist nun ein Jahr her. Lähmung in allen Gliedern ist das, was diesen Organismus am besten beschreibt. Das soll’s dazu aber gewesen sein.

In Niedersachsen wird es immerhin nun zu Rot-Grün kommen. Ist das nicht besser als die bisherige GroKo?

In Maßen ist es das vielleicht, zumal auf Landesebene grüne Kriegsrhetorik keine so große Rolle spielen wird. Außerdem hat das Land eine Mission, glaubt man seinem alten und neuen Ministerpräsidenten: Es wird dem Rest der Republik energiepolitisch den Arsch retten. Viel Platz für die Erneuerbaren und wunderschöne LNG-Terminals. Zehntausende neue Arbeitsplätze, die mal keine Bullshit-Jobs sind, sollen daraus entstehen. Im Sinne der Transformation in Richtung Renewables würde ich mich freuen und drücke die Daumen dafür, dass es so kommt. Das ist auch für Niedersachsens traditionelle Industrie wichtig, etwa den größten Steuerzahler des Landes, die Volkswagen AG. Wenn es VW gutgeht, geht es Niedersachsen gut, das hat sich immer wieder gezeigt. Wenn nicht, wird aus Niedersachsen schnell ein Nehmer im Länderfinanzausgleich.

Weil gilt als Macher, auch, weil er seinen eigenen Parteifreund, Kanzler Scholz, gerne mal fordert, wie jüngst in Sachen Doppelwumms. Der Doppelwumms ist somit in Niedersachsen sogar ein Dreifachwumms. Wir werden sehen, was Weil zustande bekommt, ohne den CDU-Klotz am Bein.

Und die Ampel im Bund, auch ohne CDU-Klotz?

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

In der Ampel-Koalition rumort es ohnehin schon. Nachdem am gestrigen Sonntag die FDP aus dem niedersächsischen Landtag geflogen ist, wird es voraussichtlich nicht ruhiger werden. Bereits am Wahlabend kündigte Liberalenchef Lindner an, die Rolle der FDP in der Regierung überdenken zu wollen. Das scheint so oder so geboten, wie Zahlen des Politbarometers der Forschungsgruppe Wahlen deutlich machen. Die Zufriedenheit mit der Partei ist im Juli in den Minusbereich gerutscht und dort seitdem verblieben. Andreas Busch, Professor für Vergleichende Politikwissenschaften und Politische Ökonomie an der Universität Göttingen, zufolge hat das auch etwas mit der Rolle der Partei als „eine Art Innerregierungs-Opposition“ zu tun. „Und das ist offenkundig etwas, das nicht besonders populär ist“, so Busch gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Indes wird nicht nur die FDP von den Wähler:innen kritisch gesehen. Der Blick auf die Statista-Grafik zeigt: Deutschland hadert mit der Ampel.

Es kam zu unötigen Fehlern, die Grünen wirken dilettantisch und überheblich, die FDP wirkt lobbygesteuert, die SPD muss es wuppen. Das ist mein Eindruck, period. Dass die Menschen mittlerweile gar nicht mehr anders können, als etwas genauer hinzuschauen oder hizuhören, zeigit sich am rasanten Abstieg der Grünen in den letzten Wochen, dass zunehmend aufgedeckt wird, wie inkompetent der grüne Wirtschaftsminister ist. Wir hatten diesen Verdacht hier schon geäußert, da wurde sein Stil noch als das Ding der Zukunft gehypt. Die Kompetenzprüfung war den Journalist:innen dabei ganz unwichtig.

Die Energiepolitik ist ein Desaster, das die Ampel nicht alleine zu verantworten hat, siehe oben. Aber in Sachen Krieg kommt es auf den Kanzler an und auf dessen Vernunft setze ich. Im Bund würde ich möglicherweise erstmals SPD wählen, wenn er es schafft, das Land in diesen Zeiten auf Kurs zu halten und obwohl ich weiß, dass er nicht das Links schaffen kann, das ich mir wünsche. Aber was wären die Alternativen, wenn ich meine Stimme(n) nicht an eine Kleinpartei verschenken will? Ich sehe im Moment keine. Hätte es in Niedersachsen Spitz auf Knopf gestanden, wie so oft in den östlichen Ländern und dürfte ich dort wählen, hätte ich vermutlich auch Stefan Weil unterstützt, obwohl die SPD bei meiner Wahl-O-Mat-Auswertung nur im Mittelfeld lag. „Keine Experimente“ ist im Moment leider ebenso wichtig wie die Absicherung der Ärmeren gegen die Energiepreisexplosion. Wenn Scholz sich in gesicherten Bahnen bewegt und Letzteres auch noch einigermaßen glaubwürdig hinkriegt, dann haben wir damit zwar den Kapitalismus nicht überwunden, im Gegenteil. Da aber auch niemand aufsteht, um Revolution zu machen, müssen wir uns erst einmal bescheiden und hoffen, dass die SPD einst in einer Konstellation regieren wird, in der man sie von links antreiben kann. Rot-Grün in Niedersachsen wird dafür wohl nicht das Vorbild sein können, daher bescheiden wir uns noch einmal: Rettet Deutschlands Energiesicherheit! Das ist auch erst einmal okay.

TH

Unser 38. Briefing (Briefing 37) wird wieder einmal ein Umfrage-Marathon sein. Wir arbeiten wichtige Themen dieser Tage anhand von Fragestellungen ab, auf die Sie teilweise antworten können, indem Sie ebenfalls ihre Stimme abgeben. Bei einigen Umfragen geht es nur noch um die Ergebnisse und um unsere Ansicht zur Sache.

Schauen wir zunächst auf die simplen Dinge des Lebens. Heute ist noch einmal ein wunderschöner, milder Oktobertag, wir haben das genutzt und waren schon auf dem Tempelhofer Feld. Doch die ersten kalten, regnerischen Momente gab es in der vergangenen Woche schon und sie werden zunehmen. Nie zuvor, seit wir denken können, gab es eine Diskussion wie die jetzige um den privaten Energieverbrauch, dazu die erste Abstimmung:

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie Wirtschaftsminister Robert Habecks Aufruf an Privathaushalte, ihren Energieverbrauch stärker zu begrenzen? – Civey

Der Erklärungstext dazu.

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) appellierte jüngst erneut an deutsche Haushalte, Energie zu sparen. Das Ziel sei eine Senkung des Gasverbrauchs um 20 Prozent. Andernfalls könnte eine Gasmangellage im Winter drohen. Privathaushalte und kleinere Gewerbekunden sind hierzulande laut Bundesnetzagentur für rund 40 Prozent des Gasverbrauchs verantwortlich.

Bis Ende des Winters 2023/2024 soll ein „Basisverbrauch“ an Gas staatlich subventioniert werden. Zugleich machte Habeck im Deutschlandfunk klar, dass Haushalte für die oberen 20 Prozent des normalen Verbrauchs vermutlich die „volle Rechnung bezahlen” müssen. In Deutschland gibt es seit September bereits Vorschriften zum Energiesparen, die v.a. öffentliche Gebäude betreffen. Privatpools dürfen nicht mit Gas oder Strom aus dem Netz beheizt werden.

Die Bundesnetzagentur warnte diese Woche, dass der derzeitige Gasverbrauch viel zu hoch sei. Im Sommer schlug sie bereits vor, die Mindesttemperatur in Wohnungen zu senken. Vermieter und Vermieterinnen sind bisher verpflichtet, eine Temperatur von 20 bis 22 Grad zu gewährleisten. Mietvereine und die Opposition bezeichneten den Vorschlag als ungerecht. Auch sprach sich CSU-Chef Markus Söder gegen „staatlich verordnetes Frieren” aus.

Es fängt schon gut an. Tatsächlich unterstützt eine relative Mehrheit von etwa 40 Prozent der Abstimmenden derzeit Habecks Spin für Privathaushalte, und zwar vollständig. Weitere 17 Prozent finden ihn eher richtig. Auch hat der Chef der Bundesnetzagentur bereits verkündet, dass die derzeit vollen Gasspeicher keine Gewähr für ein Gut-durch-den-Winter-Kommen sind. Auch auf der Straße haben wir schon Gespräche übers Energiesparen belauscht und sogar eines oder zwei selbst geführt, innerhalb unserer Hausgemeinschaft. Wir sind anderer Ansicht und haben uns zu den 25 Prozent gestellt, die diese Art von Manipulation der Menschen klar ablehnen.

Und wir bitten Sie inständig, nachzudenken, bevor Sie abstimmen und sich nicht, wenig schön, aber wahrheitsgemäß ausgedrückt, verarschen zu lassen. Was wir im Moment als Energiekrise bezeichnen, ist so unnötig und hausgemacht, wie politisch bedingtes, fehlerhaftes Handeln nur sein kann. Nicht einmal vorwiegend wegen der Sanktionen und der Gegensanktionen, sondern, weil die Politik 20 Jahre lang die Energiewende verpennt hat. Die SPD war an dieser schnarchigen Politik maßgeblich mitschuldig, denn sie war in drei der vier Regierungen Merkel vertreten.

Vollkommen in Ordnung ist dies: Sie sind ein sportlicher Mensch und wollen ihren eigenen Energieverbrauch jedes Jahr unterbieten. Sie sind ein ökologisch orientierter Mensch und sind aus prinzipiellen Gründen gegen Energieverschwendung oder Sie sind überhaupt gegen Verschwendung. Oder Sie frieren einfach nicht so leicht und 19 Grad reichen Ihnen aus, um sich behaglich zu fühlen.

Bei den meisten Menschen ist das aber nicht so. Wir könnten bei 19 Grad zum Beispiel nicht mehr einen Artikel wie diesen tippen, weil unsere Finger auskühlen würden, und es liegt bei uns nicht an Bewegungsarmut oder dergleichen, sondern es ist schlicht eine körperliche Disposition, wie insbesondere schlanke Menschen sie nun einmal häufig haben. Wir werden uns ganz sicher keine 19 Grad Raumtemperatur vorschreiben lassen. Es ist natürlich stark verkürzt, aber mit solchen Maßnahmen soll offensichtlich von den Politikfehlern abgelenkt und der Widerstand der Menschen gegen falsche Politik regelrecht bzw. regelwidrig eingefroren werden. Wer den ganzen Tag nur noch damit befasst ist, sich einigermaßen warmzuhalten, der hat keine Energie mehr für den dringend notwendigen Protest.

Wenn Sie sparen, dann bitte nicht, weil Herr Habeck mit seiner Mischung aus Märchenerzählung und Manipulation es Ihnen nahelegt, sondern aus einer Überzeugung heraus, die nichts mit der aktuellen Lage zu tun hat oder, weil es Ihnen leichtfällt. Wir adressieren mit der Bitte, sich nicht verarschen zu lassen, besonders die Ärmeren, die ohnehin keine sehr hohen Energieverbräuche verursachen. Lassen Sie sich von verantwortungslosen Politikern nicht noch mehr zur Selbstkasteiung anregen, als es ohnehin aufgrund einer seit Jahrzehnten immer klassistischer werdenden Politik notwendig ist.

Auch wenn es wieder typischer CSU-Populismus ist, in diesem Fall hat Markus Söder recht. Es ist ein Witz, für die Politik zu frieren und nicht etwa, weil tatsächlich ein weltweiter Energiemangel herrscht. Letzteres ist keineswegs der Fall und der enorme Preisauftrieb ist nicht durch eine enorme Nachfrage, sondern durch künstliche Verknappung und Spekulation bedingt. Auch die OPEC entdeckt gerade wieder ihr Potenzial zur Erpressung und will die Ölproduktion drosseln, damit sich das Preiskarussell noch schneller dreht.

Wir müssen verstehen: Wenn die Politik sich mit solchen Appellen wirklich durchsetzt und wir deren Fehler ausbügeln, dann wird das immer so weitergehen. Wir haben schon viel zu vieles mitgetragen, was uns geschadet hat. Es ist an der Zeit, dem Freidrehen der Politik Grenzen zu setzen. Im Grunde wäre es sogar so, dass wir genau das Gegenteil tun müssten, was Habeck vorschlägt, nämlich ihn als wirtschaftlichen Dilettanten enttarnen, der die Folgen seiner Politik nicht bedacht hat. Aber das kann sich ja kaum jemand leisten, extra zu heizen, um Missachtung gegenüber dieser Politik auszudrücken. Wir würden das sowieso nicht tun, es gibt bessere Protestmöglichkeiten. Aber wir sind mittlerweile jedes Mal sauer, wenn wir hören, dass jemand wegen des Ukrainekriegs Energie sparen will. Das ist der falsche Grund, ganz eindeutig und diese Naivität macht sich die Politik zunutze, um zu testen, wie weit sie mit uns gehen kann. Wir haben die Corona-Maßnahmen z. B. vollständig mitgetragen, aber das hier ist für uns etwas anderes. Hier ist nicht darüber zu diskutieren, was ist zu viel oder zu wenig, wie sollte man mit einer nicht verschuldeten Pandemie umgehen?

In Sachen Energiekrise ist alles verschuldet, nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Wir  dürfen es der Politik nicht durchgehen lassen, dass sie daraus auch noch einen Sparwettbewerb zulasten unserer Gesundheit macht. Falls Sie noch nicht abgestimmt haben: Bitte bedenken Sie, dass Sie nicht Befehlsempfänger der Politik und von deren Befehlsgeber, dem Kapital sind. Dieses Mal nicht. Warum wir wieder einmal das Kapital erwähnen? Ganz einfach. Wird so viel gespart, dass der Versorgungskipppunkt trotz enormer Preise nicht erreicht wird, dann wird der Staat weniger in den „Markt“ eingreifen müssen und die Gewinne des Kapitals werden am meisten sprudeln. Ein echter Gaspreisdeckel würde auch mal den Profiteuren klarmachen, dass es hier um eine Gemeinschaftsaufgabe geht, die wir lösen müssen.

Und jetzt ein Schmankerl, das auch viel über Menschen an sich aussagt: Es gab bereits am 29.08. eine Umfrage zum Thema, da können Sie nicht mehr antworten und wir haben uns auch nicht beteiligt:

Civey-Umfrage: Sollte die Raumtemperatur, auf die in Privathaushalten maximal geheizt werden darf, Ihrer Meinung nach als Energiesparmaßnahme begrenzt werden? – Civey

Merken Sie was? Es kommt darauf an, wie gefragt wird. Mit Zwang kann man die Menschen sofort auf die Palme bringen, aber mit Manipulation, hinter der eine moralische Nötigung steckt, geht fast alles. Letzteres ist viel listiger oder auch hinterlistiger als eine klare Ansage, und Letzteres ist genau der Kommunikationsstil von Robert Habeck. Er versucht, die Leute um den Finger zu wickeln, während z. B. Karl Lauterbach in Sachen Corona durch seinen ganz anderen Stil immer angeeckt ist. Jetzt hat er den Stil angepasst und unterscheidet sich kaum noch von denjenigen, denen sowieso egal ist, wie viele Tote die Pandemie verursacht. In diesem Fall war es Daniel Günther (CDU), der schleswig-holsteinische Ministerpräsident, der vorgeprescht war. Aber er und Habeck haben einmal zusammen Landespolitik gemacht und werden vom Typ als ähnlich „modern“ wahrgenommen. Einen  Habeck haben wir deshalb noch für Sie:

Civey-Umfrage: Bereiten Ihnen die steigenden Gaskosten, die u.a. durch die beschlossene Gasumlage verursacht werden (zusätzlich 2,4 Cent pro Kilowattstunde), große Sorgen? – Civey

Private Haushalte und Industrie müssen ab Oktober eine Gasumlage von 2,419 Cent pro Kilowattstunde bezahlen. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kündigte eine erhebliche Mehrbelastung zu den schon gestiegenen Energiepreisen an. Er rechnet laut SZ mit „einigen Hundert Euro pro Haushalt“. Unklar ist derzeit, ob auf die Umlage noch die Mehrwertsteuer von 19 Prozent fällig wird.

Aufgrund der gedrosselten Gaslieferungen aus Russland sind deutsche Energiekonzerne gezwungen, teure Alternativen einzukaufen. Bisher trugen sie die Mehrkosten selbst. Die Gasumlage soll die Gasunternehmen vor der Pleite bewahren, um letztendlich die Versorgungssicherheit im kommenden Herbst und Winter hierzulande zu gewährleisten. Für die Bevölkerung plant die Regierung weitere Entlastungen. Sozialverbände und Opposition halten das für ungenügend.

Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch nennt die Gasumlage ein „Verarmungsprogramm“ und fordert ihre Rücknahme. Der Deutsche Mieterbund schätzt, dass mindestens das untere Einkommensdrittel der Bevölkerung die Energiekosten nicht zahlen kann. Er fordert laut ZDF eine Wohngeld-Reform und ein Mietkündigungsschutz für Bedürftige. Ökonom Sebastian Dullien schlägt in der ARD einen Gas-Preisdeckel für private Haushalte vor, auch um die Inflationsrate zu bremsen.

Es war von Beginn an klar, dass die Gasmumlage technisch nicht durchdacht und nicht gerecht war, aber der Wirtschaftsminister hat sie gerade noch durchsetzen können. Und wie sieht es jetzt aus? Das wissen Sie sicherlich. Aber so hält man die Bevölkerung in Atem: Zwei Drittel der Abstimmmenden haben anhand dieser bereits abgeschlossenen Umfrage ihrer Sorge Ausdruck verliehen. Hier können Sie anhand eines Campact-Petitionsaufrufs noch einmal nachlesen, wie zu dem Zeitpunkt die Lage war. Wir haben damals übrigens nicht unterzeichnet, weil wir generell gegen eine Gasumlage sind, wie „gerecht“ auch immer sie ausgestaltet sein mag.[1]

Die nächste Frage schließt sich mit beinahe zwingender Logik an, denn Sie könnte Ihre Antworten zu diesem Umfrageblock mitbestimmen:

Civey-Umfrage: Sorgen Sie sich vor akuten Engpässen bei der deutschen Energieversorgung für den Winter? – Civey

Als Folge der ausbleibenden Energielieferungen aus Russland bemüht sich die Bundesregierung seit Monaten um alternative Energielieferanten. Deutschland importiert nun vermehrt Flüssiggas (LNG) und wird bis Ende 2022 ein LNG-Terminal in Wilhelmshaven in Betrieb nehmen. Zudem wurden Verträge zum Kauf von Gas und Diesel in der Golfregion geschlossen.

„Die Lage ist angespannt und eine Verschlechterung der Situation kann nicht ausgeschlossen werden“, schreibt die Bundesnetzagentur in ihrem Lagebericht von Donnerstag. Die Gasversorgung in Deutschland sei im Moment aber stabil, da die Speicher zu 91 Prozent gefüllt seien. Damit könnte Deutschland laut Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) über den Winter kommen.

Habeck nennt aber weitere Bedingungen: Deutschland müsse viel Energie sparen und Glück mit dem Wetter haben. Wenn das Gas in Deutschland knapp wird, sind private Haushalte aber per Gesetz besonders geschützt, sagte Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, im ZDF. Bei einer „Gasmangellage“ müssen industrielle Großverbraucher ihren Gasverbrauch als Erste herunterfahren.

Civey-Umfrage: Sorgen Sie sich vor akuten Engpässen bei der deutschen Energieversorgung für den Winter? – Civey

Was ist heute nur mit uns los? 40 Prozent der Menschen sorgen sich sehr, weitere 25 Prozent immer noch eher, als dass sie sich keine Sorgen machen. Wir aber sind bei den 21,5 Prozent, die „eher nein“ gesagt haben. Und wieder der Herr Habeck, der uns für seine Fehlleistungen sparen lassen will. Dass die Wirtschaft massiv dafür lobbyiert, dass Privathaushalte nicht mehr bevorzugt vor Energiemangel geschützt werden, haben Sie sicher ebenfalls mitbekommen. Sicher, wenn man die lächerlichen Versuche der Bundesregierung sieht, sich bei den übelsten Regimen dieser Welt Ersatz für russisches Gas zu beschaffen, kann man sich wirklich Sorgen machen.

Nicht nur über den ethischen Zustand dieser Regierung, die „Wertepolitik“ machen wollte, sondern tatsächlich über die Energieversorgung. In Wirklichkeit ist es so: Der deutsche Staat hat genug Geld, um auch bei steigenden Preisen auf dem Energiemarkt mithalten zu können. Besonders, wenn es um das vertrackte LNG aus den USA geht. Und bei allem, was es an ökologischen Folgen und Ärger mit anderen Ländern verursachen kann, wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie auf diesem Wege dafür sorgt, dass wir die Energiesicherheit behalten, egal wie kalt es im Winter werden wird. Sie hat die aktuellen Probleme verursacht, also muss sie den Schaden wenigstens insoweit begrenzen, dass wir hier nicht ohne Strom oder Gas sitzen. Wir zahlen ja schon massiv drauf für diesen Mist, der, nebenbei geschrieben, auch nicht das richtige Mittel ist, um den Ukrainekrieg so schnell wie möglich und zugunsten der angegriffenen Partei zu beenden. Die Zweckverfehlung, falls Hilfe für die Ukraine denn wirklich der Zweck der künstlich erschaffenen Energiekrise war, spielt also bei unserem Unmut ebenfalls eine Rolle.

Und damit vom Energiethema zum Ukrainekrieg, doch um Sorgen geht es auch dieses Mal:

Civey-Umfrage: Sorgen Sie sich, dass sich der Ukraine-Krieg auf andere Länder ausweiten könnte? – Civey

Die Europäische Union hält einen Sabotageakt für die wahrscheinliche Ursache für die in dieser Woche entdeckten Lecks an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell kündigte eine gründliche Untersuchung an und drohte mit einer „robusten Reaktion“ im Falle einer vorsätzlichen Störung der europäischen Energieinfrastruktur.

Dänemark ist angesichts der militärischen Präsenz Russlands über die Sicherheitslage im Ostsee-Raum besorgt. Das teilte der dänische Verteidigungsminister Morten Bodskov nach einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit. Und auch ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte der SZ, dass man die Beschädigungen sehr ernst nehme und im engen Kontakt mit deutschen Sicherheitsbehörden stünde.

Derweil verkündete Russland, dass eine klare Mehrheit bei den Referenden in den ukrainischen Gebieten für den Anschluss an Russland gestimmt hätte. Die EU und die USA sehen die Abstimmungen als illegal an. Sie wollen die Ergebnisse nicht anerkennen und sprechen von einem schwerwiegenden Bruch des Völkerrechts. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert die Weltgemeinschaft dazu auf, gegen die mögliche Annexion der besetzten Gebiete durch Russland vorzugehen.

Warum wir nicht so eindeutig wie manche Medien Russland als Verursacher der Lecks an den Nordstream-Leitungen sehen, haben wir in diesem Artikel dargelegt.

Die Spekulationsblase in der Ostsee +++ Nord Stream 1, 2: wer war’s? +++ cui bono richtig erklärt | Briefing 34 – DER WAHLBERLINER

Wesentliche neue Erkenntnisse haben sich seitdem nicht ergeben, auch wenn man den Artikel um ein paar Aspekte ergänzen könnte. Für die Energiesicherheit hat die Nordstream-Leckage keine Bedeutung, das sehen auch die Märkte so. Der Gaspreis sprang nach dem Bekanntwerden der Lecks nicht noch weiter an. Die strategischen Fehler der russischen Regierung allerdings haben schon dafür gesorgt, dass die NATO um zwei hochgradig demokratische und wirtschaftlich potente skandinavische Länder wachsen und die Ostsee auf diese Weise quasi NATO-Gebiet werden wird. Selbst schuld, und, nein, wir meinen nicht die NATO. Falls alles, was jetzt passiert, passiert, weil die NATO es angeblich provoziert hat und Russland in eine Falle tappen lassen wollte: Dann darf man eben nicht reintappen. Wenn schon alle möglichen putingeneigten Analyst:innen hierzulande diese Falle rauf- und runtererklären, natürlich mit dem Böse-NATO-Spin, dann hätte Putin sie selbst auch sehen und das Hineinfallen vermeiden müssen, wenn er so klug ist, wie seine Anhänger glauben. Zum Beispiel hätte er das vermeiden können, indem er keinen Angriffskrieg gegen die Ukraine lostritt.

Als die Umfrage gestartet wurde, waren die jüngsten Atomdrohungen Russlands noch nicht in Umlauf, von denen Angela Merkel sagt, man soll nicht alles für einen Bluff halten, was aus dem Kreml kommt. Tun wir nicht, siehe Ukrainekrieg an sich und das, was schon vorher lief. Man kann es natürlich gegen die vom Westen inszenierten Kriege aufrechnen, aber wenn man genauer hinschaut, ist Putin seit seinem ersten Amtsantritt Anfang der 2000er auf Expansionskurs. Dass er, um diesen fortsetzen zu können, den Atomwaffenauslöser drückt, halten wir nach wie vor für unwahrscheinlich. Es gibt allerdings einen Aspekt, den man nicht weglassen darf: Selbstverständlich hat US-Präsident Biden sofort mit harten Gegenmaßnahmen gedroht, als der Atomsäbel wieder rasselte.

Aber was könnte er wirklich tun? Auf dem Gebiet der Ukraine ebenfalls taktische Atomwaffen einsetzen, falls Putin so optiert? Wohl kaum. Und alles, was darüber hinausginge, wäre wirklich ein Weltinferno. Wir glauben nicht, dass es so weit kommen wird. Wir meinen auch, dass in Russland selbst die Fliehkräfte angesichts des Steckenbleibens der russischen Armee im ukrainischen Hinterland zu hoch werden, als dass Putin machen kann, was er will. Und die Scharfmacher sind nicht so einflussreich, wie mancher hierzulande glauben mag: Sie haben als Angehörige des Oligarchensystems häufig auch wirtschaftliche Interessen. Diese wären bei einem Atomkrieg ganz sicher nicht mehr weiterzuentwickeln. Sie leiden jetzt schon unter den zunehmenden Sanktionen durch Länder, mit denen man bisher kapitalistisch gut vernetzt war.

Wir haben mit „eher nein“ gestimmt. Wie an diesem Tag offenbar üblich, sind wir auch hier wieder bei einer Minderheit. Mehr als 60 Prozent machen sich Sorgen oder große Sorgen. Ach ja: Ohne Atomwaffeneinsatz wird sich der Krieg auch nicht auf andere Länder ausweiten, zumindest nicht auf NATO-Länder. Und mit ihnen und für sie wird die Freiheit verteidigt, nicht irgendwo im Kaukasus. Vorgänge dort meinten wir eben auch, unter anderem, als wir schrieben, Putin hat von Beginn an in anderen Ländern herumgepfuscht, um sie zu destabilisieren und Gebiete aus ihnen herauszulösen. Deswegen können wir sie jetzt aber nicht alle schnell in die NATO aufnehmen. Gerade dann nicht, wenn es ungeklärte Territorialfragen gibt. Womit wir zur nächsten Frage überleiten:

Civey-Umfrage: Glauben Sie, dass die Teilmobilmachung russischer Reservisten zu einer neuen Eskalationsstufe im Russland-Ukraine-Krieg führen wird? – Civey

Letzten Mittwoch verkündete Präsident Wladimir Putin eine Teilmobilmachung der russischen Armee. Russland will so rund 300.000 Reservisten für den Krieg einziehen. Zugleich erhob Putin Vorwürfe gegen die westlichen Staaten, deren Ziel es sei, Russland „zu schwächen, zu spalten und letztlich zu zerstören“. Zudem drohte er den NATO-Staaten mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte gestern die Russen in einer Videobotschaft auf, die „verbrecherische” Einberufung zum Dienst abzulehnen, russische Soldaten sollten sich ergeben. Der Militärexperte Franz-Stefan Gady sagte der Tagesschau, dass die Teilmobilisierung den Krieg zwar verlängern wird. Er bezweifelt aber, dass der unmittelbare Kriegsverlauf davon beeinflusst wird, da es Monate dauern wird, bis die neuen Einheiten einsatzbereit sind.

Am Freitag begannen zudem in vier besetzten Gebieten in der Ukraine Referenden über den Beitritt zu Russland. Der Westen verurteilte diese als „Scheinreferenden”. Bundeskanzler Olaf Scholz warf Putin bei der UN-Vollversammung „blanken Imperialismus” vor. Die EU reagierte mit der Ankündigung weiterer Sanktionen gegen die Wirtschaft und einflussreiche Personen Russlands. Die Ukraine will die EU mit weiteren Waffenlieferungen unterstützen.

Sie werden bemerkt haben, dass wir ein wenig rückwärtsgehen. Das tun wir, weil wir etwas demonstrieren wollen. Kurz nach der Teilmobilmachung und auch nach den Referenden haben Experten und sogar Politiker analysiert, dass diese Maßnahmen Zeichen der Schwäche der russischen Regierung sind. Nun sind zwei Wochen bzw. eine Woche vergangen und was sehen wir: Dass diese Maßnahmen Zeichen der Schwäche sind. Natürlich soll man nicht alles, was aus dem Kreml kommt, für einen Bluff halten, sie sich die Herrschaften dort selbst gerne ausdrücken, aber wenn jemand schon ständig diesen Begriff in den Mund nimmt und versichert, was man vorhabe, sein kein Bluff, dann herrscht bereits Notstand und Ratlosigkeit. Man befürchtet, dass man nicht ernstgenommen wird.

Nun haben jedoch 65 Prozent der Abstimmen sich dahingehend geäußert, dass sie große oder doch überwiegend Sorge vor einer Eskalation des Krieges durch die Teilmobilmachung haben, bei jenen, die in den letzten Tagen abgestimmt haben, dürften auch die Auswirkungen der Referenden eine Rolle gespielt haben. Wir können es nicht ändern, wir sind schon wieder nicht dabei. Wir haben mit lediglich 16 Prozent der Abstimmenden für uns festgelegt, dass wir uns überwiegend keine Sorgen machen werden, dass diese beiden Maßnahmen eine Eskalation des Krieges bedeuten. Zumindest nicht, was seine territorialen Grenzen angeht. Dabei kam uns zu Hilfe, dass wir die Entwicklung nun fast 14 Tage lang beobachten konnten, am 26.09., als die Abstimmung aufgesetzt wurde, war die Lage noch nicht so klar und gut analysiert, die sich aus den beiden genannten Maßnahmen ergeben würden.

Leichtfertigkeit ist im Ukrainekrieg nun wirklich nicht angesagt, und wir verurteilen klar die Kriegstreiberei einiger Politiker:innen in Deutschland. Man darf sich aber auch  nicht von jedem Move, den Putin macht, in Panik versetzen lassen, denn genau das ist der Nicht-Bluff: Den Westen damit zu verunsichern und dessen Gesellschaften zu spalten, das ist ganz ernst gemeint. Einige andere Politiker:innen bei uns fallen sprichwörtlich fast jeden Tag auf Putin herein oder tun zumindest so und wollen der Ukraine daher ansinnen, doch lieber aufzugeben, damit ein Pazifismus sich durchsetzen kann, der das Ergebnis einer Aggression salviert. Auch diese Haltung ist nicht die unsere. Unsere Skepsis gegenüber denen, die so unterwegs sind, verstärkt sich, wenn wir lesen, wie Putinisten sogar die Verluste in der Region Charkiw quasi als Teil des Putinschen Masterplans darstellen wollen. Wo sie aber Recht haben: Wenn sie sagen, Russland ist vor allem daran interssiert, bis nach Odessa vorzustoßen und die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Das wissen die Macher in Kiew aber und deswegen gibt es auch Vorstöße der Ukraine an der Südfront. Mit weniger Erfolg, das stimmt, aber alles ist in Bewegung, es gibt noch keinen reinen Stellung- oder gar Sitzkrieg. Wie das, was wir gerade sehen, im Detail strategisch und taktisch zu deuten ist, das ist nicht unser Beritt und würde ein eigenes Dossier erfordern. Wir sagen nach wie vor: Überwiegend gehen wir nicht davon aus, dass das, was sich in den letzten Wochen ereignet hat, den Krieg aus der deutschen Sicht heraus gefährlicher macht.

Andererseits: Muss man Öl ins Feuer gießen, zum Beispiel mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymy Selenskyj, der das Folgende forderte und außerdem kürzlich vom Westen sogar einen atomaren Präventivschlag gegen Russland forderte?

Civey-Umfrage: Würden Sie einen beschleunigten Beitritt der Ukraine zur NATO eher befürworten oder ablehnen? – Civey

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Freitag den beschleunigten Beitritt seines Landes zur NATO beantragt. Er reagierte damit auf die Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland, die der russische Präsident Wladimir Putin ebenfalls am Freitag unterzeichnete. Vorangegangen waren Referenden in den besetzten Gebieten, welche vom Westen als Völkerrechtsbruch bezeichnet wurden.

Neun europäische NATO-Staaten haben sich für einen Beitritt der Ukraine ausgesprochen. Zudem riefen sie die restlichen 21 Mitgliedsstaaten in einer Erklärung auf, ihre Militärhilfe für die Ukraine „erheblich“ zu erhöhen. Zu den Unterzeichnern gehören u.a. Polen, Tschechien und die Slowakei. Aussicht auf Erfolg hat der ukrainische NATO-Antrag derzeit laut ARD nicht. Eine der Bedingungen ist, dass ein Bewerberstaat keine aktiven Grenzkonflikte haben darf.

Andere NATO-Staaten wie Deutschland und die USA sehen einen ukrainischen Beitritt momentan skeptisch, da sie einen Konflikt mit Russland vermeiden wollen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sicherte der Ukraine am Freitag weitere Hilfe in Form von Waffenlieferungen zu. Zugleich werde sie alles dafür tun, dass andere Länder nicht in den Krieg hineingezogen werden.

Das mit den Grenzkonflikten weiß natürlich auch der ukrainische Präsident, aber etwas Druck auf den Westen kann nie schaden, wie wir seit Kriegsbeginn sehen. Zumal es eine moralische Rechtfertigung gibt: Der Westen, besonders die USA, haben die Ukraine über viele Jahre lang an sich herangezogen und prowestliche Strömungen im Land unterstützt. Man kann durchaus die Meinung vertreten, dass es ein Verrat ist, jetzt zu sagen: Nein, tut uns leid, hier gibt es einen ungelösten Grenzkonflikt. Hätte man die Ukraine früher in die NATO aufgenommen, wäre dieser nämlich nicht entstanden. Wir haben damit nichts darüber ausgesagt, ob wir ein solches Vorgehen z. B. vor zehn Jahren richtig gefunden hätten. Wohl eher nicht.

Und plötzlich sind wir auch mal auf der Seite der Mehrheit. Die meisten hierzulande wollen, dass der Ukraine geholfen wird, aber deswegen gleich ein Eilbeitritt zur NATO? Das lehnen 57 Prozent der Abstimmenden entschieden oder überwiegend ab. Wir haben uns zu denen gesellt, die klar: „nein“ sagen, ebenso übrigens wie zu einem beschleunigten EU-Beitritt der Ukraine. Dass osteuropäische Länder auch die Ostschiene der NATO und der EU stärken wollen, liegt sicher in deren Interesse, aber nicht in unserem, denn unseres ist vor allem an der Qualität der Demokratie und einer progressiven Zivilgesellschaft ausgerichtet. Aber kann man nicht auf anderer Ebene etwas für die Ukraine tun?

Civey-Umfrage: Sollte sich Deutschland Ihrer Meinung nach für diplomatische Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine einsetzen? – Civey

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) warb erneut für Verhandlungen mit Russland im Ukraine-Krieg. Im ZDF Morgenmagazin forderte er am Mittwoch „So schnell wie möglich eine diplomatische Lösung, das Sterben muss aufhören“. Bereits im Juli sprach er sich dafür aus, dass Deutschland wieder Rohstoffe aus Russland beziehen und dafür eintreten sollte, dass dieser Krieg über den Verhandlungsweg „eingefroren wird“.

Tesla-Geschäftsführer Elon Musk zog diese Woche viel Kritik mit einem Friedensplan auf sich. Auf Twitter schlug er u.a. vor, Russland die Krim zu überlassen, die Referenden in den besetzten Gebieten unter Uno-Aufsicht zu wiederholen und die Ukraine auf einen neutralen Status zu verpflichten. Er unterstütze die Ukraine, aber der Krieg stürze „die ganze Welt ins Chaos”.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski und viele seiner Landsleute reagierten empört auf derartige Vorschläge. In der Ukraine sind Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sogar per Dekret verboten worden. Auch Außenministerin Annalena Baerbock sieht laut Stern derzeit keine Chance auf Verhandlungen mit Russland. Politologin Magdalena Martullo-Blocher sprach sich in der nzz für Diplomatie mit Verweis auf die befürchtete Gasmangellage aus.

Sogar Sahra Wagenknecht hat sich positiv zu Elon Musk geäußert, nach dem Motto: Sonst wirklich nicht mein Cup of Tea, aber dieses Mal trinke ich einen mit! So etwas macht uns immer hellhörig, auch wenn man nichts dafür kann, dass die Falschen die eigenen richtigen Vorschläge gut finden, das liefe auf eine Kontaktschuld hinaus, die den demokratischen Diskurs verstopft und deren Annahme nichts zur Lösung von Sachfragen beiträgt. Ob diese Ansicht auch gegenüber die Unterstützung der eigenen Positionen durch Rechte gelten darf? Kommt darauf an, wie sie sich im Einzelfall zeigt.

Wir haben mit „unentschieden“ gestimmt, was an einer Abweichung zwischen dem liegt, was im Begleittext steht, und der Fragestellung. Es ist ein Unterschied, ob Deutschland für Verhandlungen sorgen oder sie befürworten und unterstützen soll. Ersteres ist derzeit nicht möglich, das sehen wir auch so. Wir haben mehrfach geschrieben, dass Deutschland dafür nicht in der Position ist. Per Druck können nur China und die USA jeweils einen der Kriegsbeteiligten zu Verhandlungen bewegen und warum sollte im Moment die Ukraine, da sie vorankommt, Verhandlungen wünschen? Wäre der Kriegsverlauf gerade umgekehrt, würde Putin Verhandlungen weit von sich weisen. Solange nicht beide Seiten total augepowert sind oder eine obsiegt hat, wird es keine Verhandlungen geben.

Wir sind auch nicht dafür, dass Verhandlungen am Ende einen Erfolg für Putins Eroberungspolitik darstellen. Ein weiterer Grund das „Unentschieden“: Kein Frieden, der die Welt unsicherer macht, weil Aggression belohnt wird. Pazifismus, der ethische Gesichtspunkte und fairen Ausgleich berücksichtigt, jederzeit. Aber kein dümmlicher Generalpazifismus, der politischer Erpressung Tür und Tor öffnet. Wir sollten aus der deutschen Geschichte wirklich gelernt haben, dass Appeasement am Ende um ein Vielfaches mehr Leid und Tod bringen kann als rechtzeitiges Grenzen setzen.

Mindestens ein umfangreicherer Artikel am Wochenende ist bei uns mittlerweile Tradition, aber man muss natürlich auch ein Ende finden. Die letzte Umfrage, die erst gestern aufgesetzt wurde, bildet einen guten Schlusspunkt. Am Ende wird es Verhandlungen geben müssen. Sogar dann, wenn die Ukraine von der Landkarte verschwindet, damit sich so etwas nicht wiederholen kann. Bis dahin müssen wir die Lage ernstnehmen, aber nicht so duckmäuserisch vor der Politik kuschen und jedem Versuch, uns hinter die Fichte zu führen, nachgeben, anstatt sie für die Probleme in die Pflicht zu nehmen, die sie uns bereitet. Indem wir dagegen protestieren verteidigen wir die Demokratie immer noch am allerbesten und auf jeden Fall besser, als wenn wir es durchgehen lassen, dass jeder Konflikt auf der Welt ersatzweise als überlebenswichtig für die hiesige Freiheit deklariert; somit als Placebo gegen hiesige Demokratiemängel benutzt und ideologisch so aufgeladen wird, dass eine pragmatische Lösung in weitere Ferne rückt, als es rein sachlich denkbar wäre.

TH
[1] Trittbrettfahrer

Die Gasumlage soll strauchelnde Energieversorger retten. Doch auch Konzerne, die in den letzten Monaten Milliardengewinne eingefahren haben, pochen auf die Umlage. So können sie doppelt Kasse machen – die Rechnung zahlen wir alle. Unterzeichnen Sie jetzt und fordern Sie die Bundesregierung auf, schnellstmöglich nachzubessern.
Unterzeichnen Sie jetzt für eine faire Gasumlage 
Hallo Thomas Hocke, an der Energiekrise verdienen und zusätzlich Milliardenhilfen vom Staat kassieren – die geplante Gasumlage macht’s möglich.[1] Eigentlich soll sie systemrelevante Energieversorger vor dem Konkurs retten. Nun zeigt sich: Es könnten auch Konzerne profitieren, denen es richtig gut geht.[2] Solange sie im Gasgeschäft Verluste haben, dürfen sie mit Milliarden aus der Umlage rechnen – auch wenn sie ansonsten Rekordgewinne verzeichnen.

Die Idee hinter der Umlage ist eigentlich richtig: strauchelnde Unternehmen stützen und verhindern, dass wir im Winter im Kalten sitzen. Aber sie darf nicht auf Kosten von uns Bürger*innen die ohnehin schon hohen Gewinne von Konzernen vermehren. Deshalb gibt es bereits viel Kritik für die Gasumlage – nicht nur von der Opposition, auch aus den Reihen der Regierungsparteien.[3][4] Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat jetzt signalisiert, die Umlage noch einmal zu prüfen.[5]
Damit die Ampel wirklich nachbessert, müssen wir klarmachen: Es dürfen nur Unternehmen profitieren, die wirklich Hilfe brauchen. Bereits am Dienstag trifft sich die Regierung zu einer zweitägigen Klausur.[6] Hier wird sich alles um das Thema Energiesicherheit drehen. Protestieren bis dahin Hunderttausende Bürger*innen, kommen Scholz, Habeck und Lindner an einer fairen Gasumlage kaum vorbei. Daher unsere Bitte, Thomas Hocke: Unterzeichnen Sie den Eil-Appell an die Ampel-Spitzen.
Unterzeichnen Sie jetzt für eine faire Gasumlage
Seit die richtigen und wichtigen Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland in Kraft sind, müssen Energieversorger ihr Gas viel teurer einkaufen als geplant. Viele verbuchen jeden Tag Millionenverluste, denn sie können die Preissteigerungen nicht vollständig an ihre Kund*innen weitergeben. So wie Uniper. Das Unternehmen beliefert knapp 1.000 Stadtwerke und Hunderte Unternehmen mit Gas. Geht Uniper insolvent, wäre der Schaden riesig. Millionen Wohnungen könnten kalt bleiben, Teile der Industrie stillstehen.[7] Deshalb greift der Staat ein: mit der Gasumlage.
Doch die Umlage kostet – und zwar kräftig. Sie belastet Verbraucher*innen, die schon jetzt unter den hohen Energiepreisen ächzen. Und sie kostet uns Milliarden, weil der Staat auf Einnahmen bei der Mehrwertsteuer auf Gas verzichtet.[8] Entscheidend ist deshalb, dass wirklich nur die Konzerne Unterstützung bekommen, die systemrelevant sind – und die sonst zusammenbrechen.
Die Bundesregierung muss jetzt dafür sorgen, dass sie nur Unternehmen hilft, die wirklich in Schwierigkeiten stecken. Zudem muss sie Extra-Profite aus der Krise mit einer Übergewinnsteuer belegen. Machen Sie mit: Setzen Sie sich für eine faire Gasumlage und die Übergewinnsteuer ein.
Unterzeichnen Sie jetzt für eine faire Gasumlage 

PS: Der Staat muss große Gasunternehmen retten – dafür sind auch 16 Jahre mit unionsgeführten Bundesregierungen verantwortlich. Sie haben unser Land von russischem Gas abhängig gemacht. Doch auch wenn der Staat deshalb jetzt einspringen muss: Dass sich Konzerne an der Umlage bereichern, darf nicht passieren. Bitte unterzeichnen auch Sie den Appell.
Unterzeichnen Sie jetzt für eine faire Gasumlage

[1]„Was Gaskunden jetzt wissen sollten“, Tagesschau Online, 15. August 2022
[2]„Diese Konzerne profitieren von der Gasumlage“, ZDF heute, 23. August 2022
[3]„Ampel im Clinch wegen Gasumlage“, taz Online, 23. August 2022
[4]„Hofreiter bezeichnet Gasumlage als Fehler”, Der Spiegel Online, 26. August 2022
[5]„Habeck und Lindner erwägen Änderungen“, Tagesschau Online, 17. August 2022
[6]„Kabinettsklausur mit Schwerpunkt Energiesicherheit“, Tagesspiegel Background Online, 26. August 2022
[7]„Rettung von Uniper“, Südwest Presse Online, 26. August 2022
[8]„Die Mehrwertsteuersenkung, ein Geschenk mit Haken”, Süddeutsche Zeitung Online, 19. August 2022

Briefing Nr. 37 (hier zu Nr. 36)

Was bewegt Menschen, die sich viele Jahre lang politisch engagiert haben in diesen schwierigen Zeiten, in denen jeder kluge Kopf gebraucht wird, Parteien zu verlassen, mit ihnen zu brechen, ihnen den Rücken zu kehren – und damit das linke Lager zu schwächen. Wir haben drei Beispiele aus der letzten Zeit herausgesucht. Zwei davon sind im linken Lager recht bekannt, das dritte weniger, es betrifft einen SPD-Kommunalpolitiker, der eher exemplarisch stehen könnte.

Gleich zwei prominente Männer haben kürzlich Die Linke verlassen. Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und Fabio de Masi, einer der wenigen Wirtschaftsexperten der Partei. Was ist bei der Linken los?

Diese beiden Austritte sind deshalb so signifikant, weil sie die Fliehkräfte in der Partei versinnbildlichen. Schneider ist wohl der beste Soziallobyist im Land, aber ist kein Putinversteher und zählt nicht zum Wagenknecht-Flügel. Genau umgekehrt bei Fabio de Masi, der zunächst Europaabgeordneter, dann Bundestagsabgeordneter war.

Verliert die Linke zu allen anderen Problemen, die sie hat, jetzt auch noch ihre besten Leute?

Die Probleme sind ja die Ursache, der Verlust die Folge. Mir tun beide Abgänge wirklich leid. Auch bei den Wohlfahrtsverbänden bzw. den ihnen angeschlossenen Trägern ist nicht alles perfekt, das erwähnt Schneider natürlich nicht so gerne, aber ich bin ein wenig im Bilde darüber, was dort läuft. Ich vermisse deshalb mehr Sichtbarkeit des Engagements für die Träger und ihre Mitarbeitenden selbst, zum Beispiel gegen die negatien Auswirkungen des BTHG (Betreuungs- und Teilhabegesetz), das, wenn es von jemandem wie Jens Spahn kommt, bestimmt keine Verbesserungen für Mitarbeitende der Träger und Patient:innen mit sich bringt, sondern versucht, auch den bisher noch einigermaßen ungeschorenen psychosozialen Bereich ähnlich durchzuökomomisieren wie den klinischen Bereich der Gesundheitsversorgung. Andererseits ist Schneider ein Einzelfall, unverzichtbar für das stete Anprangern des Klassismus in der Politik.

Was war der konkrete Anlass für Schneider, zu gehen, nachdem er seine Partei schon zuvor wegen ihrer Uneinigkeit kritisiert hat?

Dieser Tweet erklärt es recht knapp, aber stimmig:

Ulrich Schneider auf Twitter: „Da es ohnehin schon Kreise zieht: Dass die @Linksfraktion am letzten Donnerstag im BT @SWagenknecht ans Podium ließ, und was diese dann – man hätte es wissen müssen – vom Stapel ließ, war zu viel. Ich bin aus der Partei @dieLinke ausgetreten.“ / Twitter

Dazu muss man sagen, dass Schneider 2016 erst eingetreten war. Ich kann mich an die Zeit gut erinnern. Die Linke war im Aufwand und es bestand Hoffnung darauf, dass Links endlich zu wirken beginnt. Damals, das darf man heute nicht vergessen, war Sahra Wagenknecht mit für Erfolge der Linke verantwortlich. Aber mittlerweile arbeitet sie klar gegen die Partei. Ärger wegen Positionierungen, die nicht deren Beschlüssen entsprechen, gab es ja schon länger.

Warum tut sie das?

Persönliche Verletzungen, narzisstische Kränkungen, daraus folgende Regression und ein Hang zum Destruktiven, der durch ihren Mann, Oskar Lafontaine, leider verstärkt wird. Die Ausiwirkungen eines solchen Mindsets sind noch gravierender als die Richtungsprobleme, die es in der Linken immer schon gab, weil nun alles einen hochgradig persönlichen Touch angenommen hat.

Ich bin sehr für einen integrativen linken Ansatz, aber das ist mit vielen Ideologen dort nicht zu machen und das hat auch den Pragmatiker Schneider wohl letztlich davon überzeugt, dass es besser ist, nicht parteipolitisch gebunden zu sein, anstatt diesem Zirkus weiter ohnmächtig aus einer Insiderposition heraus  zuzuschauen, zur Untätigkeit verdammt, mehr oder weniger, weil viele in der Partei absolut beratungsresistent sind. Wenn zum Beispiel die Herausgeber der NDS (Nachdenkseiten) seit Jahren behaupten, die SPD sei unterwandert und habe sozusagen aus den USA den Selbstzerstörungsauftrag erhalten, dann müsste das für die Linke auch gelten.

Ich habe noch niemals im Leben eine solche destruktive Energie gesehen. Wie einige Leser:innen wissen: Ich war 2016 ebenfalls in die Partei eingetreten und habe sie bereits vor einem Jahr wieder verlassen. Ich war ziemlich dicht an Menschen dran, die sehr mit Sahra Wagenknecht verbunden sind und habe die Probleme daher im Blick gehabt, die es mit sich bringt, jemandem zu folgen, egal, was er tut und ob er uns, den Menschen in der Zivilgesellschaft, noch dient, oder ob jemand ein eigenes Ding macht und dabei der eigenen Partei auch bewusst schadet. Man sollte zwar vorsichtig sein mit zu einseitigen Schuldzuweisungen, in der Linken gibt es eine Menge Charaktere, die ich mir niemals als private Freund:innen vorstellen könnte, aber gerade dieses Gepräge ist für mich eben nicht links, sondern link. Ich kann mir gut vorstellen, was einen auf mich klar strukturierten und an Ergebnissen orientiert wirkenden Typ wie Schneider dazu bewegt hat, das nicht mehr mitzutragen.

Damit die Leser:innen verstehen, müsste man mehr über das Wesen der Linken preisgeben.

Wir hatten hier ein Dossier über die Scheinbewegung „Aufstehen“ verfasst, so muss man dieses Wagenknecht-Modul jetzt nennen. Ursprünglich war die Absicht, dessen Entwicklung nachzuzeichnen. Leider haben wir bald festgestellt, dass es mehr Kritikwürdiges als Gutes daran gab und kamen in ein Dilemma, zumal ich als Noch-Parteimitglied. Ich wusste einiges, aber bei Weitem nicht alles. Ich habe also mehr die Außenwirkung dieser Gruppierung als Prognose für deren mögliches Scheitern herangezogen, nicht, wie Super-Insider, organisatorische Probleme. Damals, im Jahr 2018, wurde der Zwist in der Linken aber für jedermann sichtbar, der Niedergang ganz offen eingeläutet. Zuvor, wegen der Bundestagswahl 2017, hatte man sich noch einmal mühsam zusammengerauft. Der gesamte Vorgang ist ein No-Go.

Was geschehen ist und was nicht geschehen ist, spottet beinahe jeder Beschreibung und was mich ärgert, ist, dass so viele gutwillige und engagierte Menschen sich für etwas eingesetzt haben und immer noch einsetzen, was aufgrund prinzipieller Fehler, die man bei der Einrichtung gemacht hat, aufgrund Missachtung der Außenwirkung und wegen mangelnden Mutes und destruktiver Ansätze niemals politische Wirkung erzielen kann. Man muss sogar aufpassen, dass man nicht zu oft mit Rechten auf denselben Demos gesehen wird, wenn man denn mal mobilisiert. Ein Kampagnendesaster, das mir auch zeigt, dass da, anders als zum Beispiel bei „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, einer echten Bewegung innerhalb des breiten Spektrums der Berliner Mietenaktivist:innen, keine gewieften Öffentlichkeitsarbeiter:innen, sondern Theoretiker:innen und auch viele Dilettant:innen unterwegs sind, verbiesterte Ideolog:innen, nicht Menschen, die mit uns die Zukunft gestalten wollen.

Dies alles verhindert linke Einigkeit, anstatt sie zu befördern. Was Die Linke alles nicht hinkriegt, ist bodenlos, zumal in Zeiten, die nach linker Politik schreien. Ein Mann, der weiß, wie man sich öffentlich so äußert, dass man gehört wird und damit für die Armen im Land mehr erreicht als die gesamte Linke, also jemand wie Ulrich Schneider, konnte das alles wohl nicht mehr ab und das Fass zum Überlaufen hat Wagenknechts Verdrehung von Ursache und Folgen in Sachen Ukraine-Krieg gebracht. Ich glaube, Schneider wird, wenn man die Wirkung seiner Social-Media-Posts als Grundlage nimmt, mehr als jeder Politiker, jede Politikerin der Linken, als klar auf der Seite der Diskriminierten wahrgenommen. Das war zu Wagenknechts Glanzzeiten einmal anders, aber sie hat sich selbst demontiert und wird in der Linken keine herauragende Rolle mehr spielen. Ohne eine solche Rolle aber kann sie die Ampelregierung nicht ernsthaft vor sich hertreiben. Die Gegner wissen auch, dass sie entmachtet ist und nur noch für eine Minderheit in der Fraktion im Bundestag spricht.

Und die Basis?

Schwer, die Anteile der Wagenknecht-Befürworter:innen und Gegner:innen zu bestimmen, denn was sich auf Parteitagen und bei Funktionsträger:innen zeigt, ist nicht „die Basis“ und, mit Verlaub, die Basis ist nicht gleichzusetzen mit den viele Menschen, die die Linke wählen sollen. Das sollte auch die Basis im Blick haben und den Blick mal etwas mehr darauf richten, wie das, was in der Linken abläuft, draußen ankommt. Nämlich so, dass laut Civey, Stand gestern, die Linke bei einer Bundestagswahl heute nur noch auf 4,3 Prozent käme. 2021 waren es 4,92 Prozent, sie ist nur noch im Bundestag vertrten, weil sie in Ostberlin zwei und in Leipzig ein Direktmandat errungen hat. Die Civey-Werte für die Linke sind zudem meist etwas höher als das, was am Wahlabend wirklich herauskommt.

Das heißt, wer geht, schaut einfach, was geht und was nicht und entscheidet ganz nach Opportunität?

Auch die Chancenlosigkeit, linke Politik durch die Linke zu organisieren, hat Schneider sicher auf dem Schirm: Dass es schlicht Energieverschwendung ist, gegenwärtig in der Linken Politik zu machen, und das kann er sich mit fast 70 Jahren nicht mehr leisten. Ich kann die Ungeduld von Menschen verstehen, die nicht mehr jahrzehntelang zusehen wollen, ob die Linke sich doch noch berappelt. Ich persönlich sehe sowieso nichts. Kein einziges politisches Großtalent, das die Wende bringen könnte. Wir werden das, was geschieht, weiter verfolgen, nicht emotionslos, aber so distanziert, dass unser Ärger nicht in Depressionen umschlagen sollte, die uns ob der Aussichtslosigkeit der Lage der Linken ereilen könnten, wenn wir da noch richtig drin wären.

Kommen wir zu Fabio de Masi. Ganz anderer Fall?

Sicherlich ja. De Masi ist Volkswirtschaftler und war einer der wenigen in der Linken, denen man zuhören konnte, ohne dass am Ende mehr wirtschaftspolitische Fragezeichen zurückblieben als zu Beginn. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung beispielsweise hat auch gute Leute, aber Die Linke macht keinen Gebrauch von ihnen, sondern verbleibt in bekannten Fahrwassern und führt weiter ideologische Grabenkämpfe.

Auf welcher Seite des Grabens stand De Masi?

Auf der von Wagenknecht. Das war aber nur möglich, weil er kein Marxist ist und sie keine Marxistin mehr ist, falls sie je eine war. De Masi ist im Grunde ein sozialdemokratischer Linkskeynesianer, der ähnliche Positionen vertritt wie der Volkswirtschaftsprofessor Heiner Flassbeck. Diese Richtung in der VWl ist in Deutschland eine Außenseiterposition, die man offensiv vertreten muss, um Aufmerksankeit zu erzielen. Das tun beide, nur, dass De Masi nicht so gallig und rechthaberisch rüberkommt. Sein persönliches Gepräge hat mir immer recht gut gefallen. Seine Positionen sind mir aber zu sehr an den aktuellen Gegensätzen in der EU orientiert. Flassbeck vertritt französische Politik, De Masi italienische, was ja oft miteinander übereinstimmt. Was die EZB in diesem Sinne an Fehlern produziert, dass in Deutschland die Menschen immer ärmer werden, interessiert dabei viel weniger, als es sollte und das ist ein ganz anderes Herangehen als z. B. bei Ulrich Schneider. Die einen schauen darauf, was man tun kann, damit bestimmte Länder weiter vom Euro profitieren, der andere darauf, wie in Deutschland die Menschen leiden.

Ist das jetzt nicht doch zu sehr die Konstruktion eines künstlichen Gegensatzes?

Mir sind die Ansätze der Volkswirtschaftler, die der Linken nahestehen oder in ihr verortet sind, zu wenig klassenorientiert und zu sehr am Wohl der Nationen und damit auch von deren Kapital orientiert. Es geht vor allem darum, welches Land macht welche Finanz-, Migrations- und Arbeitsmarktpolitik. Wer verlässt sich auf welche Wirtschaftsausrichtung. Das ist ein kompliziertes Thema, wenn man da mehr nachgräbt, wird man auch Divergenzen zwischen De Masi und Wagenknecht finden und von dort aus auf Widersprüche innerhalb von deren Positionen stoßen. Letztlich helfen sie mit vielen ihrer Argumente in der Tat dem Kapital und der kollektivistische Aspekt kommt zu kurz.

„Meine Entscheidung ist nicht Teil einer Flügelauseinandersetzung und ich habe nicht vor mich in absehbarer Zeit in einer anderen politischen Formation zu engagieren“, erklärte De Masi weiter. Er bleibe „vielen klugen Köpfen und heißen Herzen“ in seiner früheren Partei freundschaftlich verbunden. „Aber ich möchte nicht mehr in Verantwortung für das eklatante Versagen der maßgeblichen Akteure in dieser Partei in Verantwortung genommen werden, die eine große Mehrheit der Bevölkerung im Stich lassen, die eine Partei brauchen, die sich für soziale Gerechtigkeit und Diplomatie überzeugend engagiert“, schrieb De Masi. „Ich habe versucht meinen Teil zu leisten, aber ich bin damit gescheitert!“

Fabio De Masi verkündet Austritt aus Partei Die Linke | NDR.de – Nachrichten – Hamburg

Zusammenfassend liest es für mich so: Meine Entscheidung hat nichts mit der Führungskrise in der Linken zu tun, aber sie ist genau so bebründet, denn ich war in der Führung, hätte vielleicht gerne mehr geführt, aber das war aufgrund meiner Verortung im Minderheitsflügel um Wagenknecht und aufgrund deren Abstieg in der Linken nicht mehr möglich.

Für mich war es schon ein Warnzeichen, dass er 2021 nicht mehr Bundestagsabgeordneter sein wollte. Im Bundestag hätte er nämlich Wagenknecht mit seiner unbestreitbaren Kompetenz maßgeblich unterstützen können, sah diese Position aber wohl als aussichtslos an. Mit dem Austritt ist nur noch der formale letzte Schritt gefolgt. Niemand muss aus einer Partei austreten, um unzähligen Menschen in dieser Partei verbunden zu bleiben.

Sind Schneider und de Mais auch als Pole innerhalb der Linken Sinnbilder gewesen?

Nicht einmal das. Denn z. B. die kommunistische Plattform hat gar keinen prominenten Bundespolitiker (mehr). Nach meiner Ansicht sollte sie sich von der Linken lösen und sich der DKP anschließen. Ideologisch betrachtet. Sie tut es aber nicht, weil sie sich in der Linken immer noch mehr Einfluss erhofft als in einer Kleinpartei, die niemals eine Chance haben wird, in den Bundestag einzuziehen. Oder sagen wir: Nicht unter Voraussetzungen, die den heutigen wenigstens noch entfernt ähneln. Im Grunde ist auch diese Gruppierung Sand im Getriebe einer Partei, die sich immer mehr als gesellschaftslinke definiert. Was übrigens ein weiterer gigantischer Fehler ist, da gebe ich den Wagenknechtianer:innen sogar Recht. Sie hat nicht die Wählerschaft für eine solche Ausrichtung, anders als die Grünen, die ohnehin schon lange nicht mehr links sind. Man kann nicht das Gleiche wie andere anbieten, wenn man bei diesem Angebot nicht authentisch wirkt. Und das, obwohl man sogar über die Positionen der Grünen hinausgeht, vor allem eine inklusive Migrationspolitik betreffend. Erst muss der Klassenkampf erfolgreich geführt werden, dann kann man so optieren, sonst endet das Ganze in einem sozialen Desaster, das wiederum nur dem Kapital nützt. Aber bei der Linken steht wirklich fast alles Kopf und es ist ja viel bequemer, alle anderen gesellschaftspolitisch übrerholen zu wollen, verbal zumindest, weil man zu wenig Einfluss hat, um es umsetzen zu können, anstatt sich mit dem Kapital noch richtig anzulegen. Das gilt auch für Leute wie De Masi und Schneider, übrigens und leider auch mehr und mehr für Wagenknecht, die sich in geostrategischer Russlandverteidigung verliert und dabei wie Putins Sprachrohr wirkt, anstatt die negativen Auswirkungen des Krieges auf die gesamte Klasse der Arbeitenden in den beteiligten Ländern und in der EU zu betonen. Hingegen ist die Adressierung an die Bundesregierung Quatsch, sie solle doch endlich eine Friedensinitiative vorlegen. Die einzige Möglichkeit ist, einen Generalstreik zu organisieren, die der Kriegsmaschinerien lahmlegt. Das klingt heutzutage utopisch, war es in den guten Zeiten der Arbeiter:innenbewegung aber nicht. Sogar Militärangehörige haben gestreikt, als die Revolution in der Luft lag, z. B. am Abend des Ersten Weltkriegs. Alle diese radikalen und dem Frieden zugewandeten Traditionen sind heute in der Linken kaum präsent. Auch nicht bei den Angesprochenen. Die historische Dimension dessen, was wir gerade sehen, wir ausgeblendet, und sie ins Bewusstsein zu rücken, wäre unbedingt notwendig.

Machen wir doch ein wenig in Historie. Kommen wir zu dem weniger bekannten SPD-Regionalpolitiker, als Schmankerl für alle, die bis hierher durchgehalten haben. Hier zunächst zum Nachlesen.

Wieso ich nach 58 Jahren aus der SPD austrete: Faktische Kriegsteilnahme Deutschlands unter der Führung von SPD-Kanzler Scholz (nachdenkseiten.de)

Wir müssen das jetzt etwas verkürzen, aber es geht mir auch im Wesentlichen um wenige Gesichtspunkte, die sich gut verdichten lassen: Zum einen finde ich es honorig, wenn jemand, der ein klassischer „Parteisoldat“ war und dessen Vorfahren Soldaten in den alptraumhaften Kriegen des 20. Jahrhunderts waren, Pazifist bleiben will. Dagegen kann man persönlich gar nichts einwenden. Die Motivation für die Demission ist wiederum eine andere als bei den oben genannten Personen, sie läuft der von Ulrich Schneider sogar dezidiert zuwider, der wohl dazu tendiert, die Bundesregierung bei ihrem Ukraine-Kurs zu unterstützen.

Das ist für jemanden, der Forderungen für eine Lobby aufstellt, auch einfacher: Was immer die Regierung tut, es darf nicht wieder einmal überwiegend die Armen treffen. Wer sich aber in der Tradition von Willy Brandt sieht, denkt in globalen Dimensionen, wie Brandt es getan hat.

Lesen wir mal rein: „Zwei Seiten hat das Schreiben, in dem ich meinen Austritt „mit sofortiger Wirkung“ erkläre (…) Die Waffenlieferungen an die Ukraine, das „riesige Aufrüstungsprogramm“ für die Bundeswehr, auch die öffentliche Entschuldigung des jetzigen Bundespräsidenten und früheren Außenministers Frank-Walter Steinmeier dafür, dass die Bundesregierung viele Jahre Russland in eine neue Friedensordnung einbinden wollte – das (…) ist für mich nicht weniger als ein Verrat an den eigenen Grundwerten. An der alten SPD, geprägt von Willy Brandt, neuer Ostpolitik und Wandel durch Handel – eben Friedenspolitik.

(…)

Die USA wolle diesen Krieg, um in der seit Ende des Kalten Kriegs destabilisierten Welt ihre Vormachtstellung zu behaupten. Es sei ein Stellvertreterkrieg der Großmächte Russland und USA, ein Wirtschafts- und Kulturkrieg um die „Rohstoffe der Welt“. Und die EU hat zwar auch eigene Interessen, ist aber inzwischen lediglich ein „Vasall der USA“, die selbst für zahllose Kriegsverbrechen in der Welt verantwortlich ist.“

Ich werde das jetzt ohne Zwischenüberschriften durchkommentieren.

Einerseits berührt mich der Text, auch wegen der persönlichen Anmerkungen, wegen des Kampfes fürs Bessere, wegen der sichtbaren Traumata, die wir ja alle aus jenen Zeiten vererbt bekommen haben. Da kann man noch froh sein, wenn man keine ausgewiesenen Nazis in der Familie hatte. Aber vielleicht viele Tote, die heute noch Klage führen.

Eine Sache aber müssen wir klarstellen: Willy Brandt hat seine Ostpolitik zu Beginn der 1970er gemacht, mit Staaten, die aus Russland für die Politik der Annäherung Rückendeckung hatten, mit Polen, mit der DDR. In einer festgefügten Welt des Kalten Kriegs, nicht in einer chaotischen Zeit wie der heutigen, in der niemand mehr so recht weiß, wer Freund und Feind ist. Brandt war aber auch im Widerstand und hat gegen die Nazis gekämpft. Ich bin auch nicht dafür, dass sich heute Bundespolitiker für konstruktiv gemeinte Ansätze entschuldigen, Russland betreffend, auch wenn man nach der Krim-Annektion 2014 hätte vorsichtiger sein müssen. Auch ich habe in Sachen Nord Stream 2 diesen Aspekt zu wenig berücksichtigt und was dieses Vorgehen für die Zukunft bedeuten könnte.

Für mich stellt sich weniger die Frage, was Willy Brandt 1970, 1972 tun konnte, weil es eben gerade ein Zeitfenster dafür gab, sondern, wie er sich heute verhalten würde. Ich glaube, dass die Sachzwänge, die ungeheuer stark sind, ihm kaum eine andere Möglichkeit gelassen hätte als das, was wir jetzt bei Olaf Scholz sehen. Die beiden sind gewisse als Persönlichkeiten sehr unterschiedlich, aber die frühen 1970er waren eine ausgesprochen hoffnungsvolle Zeit, in Europa zumindest. Davon sind wir heute sehr weit entfernt und es geht eher darum, dass nicht alles immer schlimmer wird. Mehr Demokratie wagen? Nein, aufpassen, dass die Demokratie nicht den Angriffen auf sie zum Opfer fällt. Schon 1973, und das habe ich vom NDS-Herausgeber selbst so gelesen, wurde Brandt in den USA eingenordet die  wirtshaftspolitischen und geostrategischen Grenzen wurden im freundlich, aber bestimmt erläutert. Die besonders Fortschrittlichen hätte Brandt nach 1974 wohl enttäuscht, aber da er durch den viel konservativeren Helmut Schmidt ersetzt wurde, kam der dazu passende Kanzler in eine Zeit, die nicht mehr so optimistisch war. Heute sieht das alles noch einmal ganz anders aus.

Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Bundeskanzler, auch nicht Willy Brandt, einen quasi eigenständigen Weg gehen könnte. Vorsicht, wie Olaf Scholz sie walten lässt, wäre das, was auch Willy Brandt bestenfalls erreichen könnte. Man kann Europa nicht, wie es bei den NDS eh üblich ist, als Vasallenkolonie der USA bezeichnen, aber noch eine Politik wie von Willy Brandt fordern. Wäre er heute Bundeskanzler, hätte er dieses Amt von Angela Merkel übernommen, von einer Generalopportunistin, die 16 Jahre lang nichts dazu beigetragen hat, dass Europa eigenständiger handeln kann. Ganz unmöglich, daraus in kurzer Zeit eine geostrategische Ausrichtung zu entwickeln, die den „Vasallenstatus“ beendet. Außerdem halte ich es nicht für sicher, dass Brandt nicht ebenfalls eher auf der Seite der Ukraine gestanden hätte. Einfach aus der Überzeugung heraus, dass sie mit mörderischen Mitteln angegriffen wurde. Wer also, wie der SPD-Politiker Wenzel, sagt, er sei kein Putinversteher, der darf nicht den Wagenknecht-Song spielen, dass der Westen an allem schuld ist, denn das ist dessen propagandistische Haltung. Es ist sowieso hpyothetisch, deswegen gehe ich einen Schritt zurück: Wäre Brandt schon sehr lange in der heutigen Zeit Kanzler gewesen, hätte er dafür sorgen können, dass es gar nicht so weit kommt? Dass Russlands Interessen so berücksichtigt werden, dass der Ukrainekrieg ausgeblieben wäre?

In den frühen 1970ern war doch die Idee nicht, dass der Westen durch Annäherung wird wie der Ostblock, sondern umgekehrt, wenn wir ehrlich sind. Demokratisierung, mehr freie Wirtschaft. Mehr Demokratie wagen, auch im Osten und durch dessen stärkere Anbindung. Ganz sicher musste Brandt das in den USA auch so darstellen, um die Erlaubnis für seine Ostpolitik zu bekommen, denn eine generische Unabhängigkeit der deutschen Politik gab es aus guten Gründen niemals, nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Fenster nach Osten durfte genau zu einem Zeitpunkt geöffnete werden, als klar war, dass die BRD ganz fest im Westen verankert ist. Ein Kompromiss, eine Konsequenz: Der Radikalenerlass von Willy Brandt. Ich darf dies machen und muss dafür jenes geben, auch wenn es viele linke Menschen enttäuschen wird und obwohl die Gefahr für die Demokratie, die von den „Radikalen“ ausging, die nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten dürfte, gering war. Die wenigen Gefährlichen für andere waren terroristische Desparados, das sieht auch Wenzel so. Trotzdem kam es 1974 zu der höchst dubiosen Affäre Guillaume, dem Spion der DDR im Kanzleramt, die den Sturz Willy Brandts bedeutete. War er zu weit gegangen?

Den Fehler will Scholz, genannt der Vorsichtige, nicht machen, so viel ist klar. Aber auch Brandt hätte unter heutigen Umständen nicht aus der westlichen Phalanx ausscheren dürfen. Deswegen finde ich es besser, so viel man Scholz auch für andere Dinge kritisieren kann, ihn in diesem Fall zu unterstützen, auch, wenn er die Ukraine unterstützt. Von einer generell pazifistischen Position aus gesehen, ist das, was die Regierung tut, zu kritisieren. Im Sinne der noch halbwegs realistischeren Vermeidung von Schlimmeren, etwa durch einige Minister und sonstige Poltiiker:innen der Grünen und der FDP und deren Kriegshetze ist es besser, dass er Kanzler ist und die SPD-Parteisoldat:innen weiter für ihn kämpfen. Unter Schröder auszutreten, das wäre richtig gewesen, wenn man ein echter Sozialdemokrat ist, aber jetzt von der Stange zu gehen, sehe ich nicht als eine gute Idee an. Die SPD braucht ihre Menschen vor Ort, jetzt mehr denn je, und wir brauchen die SPD und Kanzler Scholz, damit hier nicht alles komplett aus dem Ruder läuft. Das schreibe ich als jemand, der niemals die SPD gewählt hat und einige ihrer Politiker, wie Gerhard Schröder, absolut gruselig findet. Nicht wegen seiner lächerlichen „Ich-mach-mit-Putin-den-Frieden“-Attitüde, sondern wegen seiner Verbrechen am Sozialstaat, die 20 Jahre zurückliegen. Wer das in der SPD alles mitgetragen hat, der kann nun auch Scholz dabei unterstützen, dass er im Windschatten der NATO und der USA bleibt, in einer Lage, in der keine unabhängige Politik möglich ist. Immerhin erwähnt Putin in seinen Reden „Berlin“ in der Regel nicht als einen der Hauptkriegstreiber, und das ist ein Erfolg der Vorsicht von Olaf Scholz. Ein Umstand, der hoffen oder es zumindest offenlässt, dass Deutschland irgendwann wieder eine konstruktive Rolle einnehmen kann. In der aktuellen, komplett verfahrenen Lage hätte auch Brandt das nicht gekonnt. Ob er sie hätte verhindern können? Ich wage auch dies zu bezweifeln. Die Wende von 1989 hat eine amerikanische Weltordnung zementiert, die, auch wenn es auf den ersten Blick paradox wirken mag, heute weniger Spielraum lässt als in jenen Jahren, als die Systemkonkurrenz dafür gesorgt hatte, dass die Westeuropäer von den USA mehr gepflegt und weniger offen eingehegt wurden. Damals war die Demokratie auf ihrem Höhepunkt angelangt, ebenso der allgemeine Wohlstand der hiesigen Bevölkerung. Das ist kein Zufall.

Sicherlich ist der Ukrainekrieg ein Symbol dafür, dass wir seit der Wende einen falschen Weg gegangen sind, aber auch ein Mann vom Format Willy Brandts hätte diesen nicht alleine ändern können, sondern hätte dafür ein günstigeres Umfeld gebraucht. Und nicht umgeben sein dürfen von westlichen Politikern, die immer weniger dem Idealbild von modernen Staatsmännern und -managern entsprachen, die man sich nach dem letzten Krieg von diesem Moment an und für alle Zeiten erhoffte. Ich halte es nicht einmal für sicher, dass Brandt mit einer Priorisierung der politischen Ethik und der Versöhnung, der Solidarität und eines achtsamen Umgangs mit anderen Völkern überhaupt eine Chance auf Kanzlerschaft gehabt hätte, in dem neoliberalen, geistig verarmenden, sich mehr und mehr brutalisierenden und offen wie nie zuvor von den USA dominierten Umfeld, das wir seit der Wende haben. Dieses Umfeld prägt uns alle, bringt Hass und „Alternativmedien“ hervor und wir kriegen es nicht hin, den Frieden zu wählen. Wir alle nicht, in Europa, in den USA und überall dort, wo es möglich wäre, ihn weltweit durchzusetzen. Mir würde Willy Brandt, geplagt von tausend Gewissensnöten, vermutlich permanent mit Rücktrittsgedanken unterwegs, im Korsett der geostrategischen Lage gefangen, als Kanzler eher leidtun. Bei Olaf Scholz ist dies nicht der Fall. Seine robuste Art des Maßhaltens werden wir in ein paar Jahren vielleicht als die Ära des richtigen Typus von Politiker für die Anforderungen dieser Zeit erkennen. Ich träume auch davon, wieder mehr Demokratie zu wagen und vom Frieden. Wir müssen dafür aber viel mehr selbst tun, als es zu Brandts Zeiten der Fall war, denn Menschen seines Formats gibt es in der Politik nicht mehr.  

Das Fazit?

Die Austritt aus der Linken, auch wenn vor sehr unterschiedlichem Hintergrund erfolgt sind, halte ich für nachvollziehbar. Emotional kann ich auch den SPD-Austritt verstehen, über den wir gesprochen haben. Sachlich halte ich ihn allerdings für schwierig. Bis auf ein paar kurzfristige, künstlich wirkende Gegentrendmaßnahmen verliert die SPD aber schon seit langer Zeit per Saldo Mitglieder, nach einem Zwischenhoch in den Jahren 2016, 2017 gilt das auch für die Linke. Von allen Parteien legten in den letzten Jahren nur die Grünen merklich zu, aber nicht in dem Maße, wie es nötig wäre, wenn sie das Verhältnis von Wähler:innen und Mitgliedern anstreben würden, das einst die SPD und auch die Unionsparteien hatten. Per Saldo steigt die politische Partizipation nicht, die sich in einer Parteimitgliedschaft ausdrückt. Und da muss sich  jeder selbst an die Nase fassen: Wählen reicht nicht, schon klar. Aber bei demokratischen Parteien mitmachen, ist doch immerhin die nächste Stufe, um mehr Einfluss nehmen zu können. Das gilt auch, wenn z. B. in der SPD über die aktuelle Politik im Krieg nicht abgestimmt wurde. Zuletzt war das aber bei der Wahl der Vorsitzenden Saskia Esken und Walter-Borjans der Fall. Vor allem die seinerzeit in der Spitzenpolitik unerfahrene Esken hat sich nach Startschwierigkeiten gut entwickelt und wurde immer wichtiger für die Partei. Die SPD war schon schlechter aufgestellt als aktuell mit dem Vorsitzenden-Duo Esken und Klingbeil und Olaf Scholz als Kanzler. Ausnahmsweise scheint es auch nicht so zu sein, dass die Trennung von Vorsitz und Kanzlerschaft der Partei Probleme bereitet, wie das früher der Fall war. Die SPD wirkt stabil und lässt sich auch nicht von den gegenwärtig schwachen Umfragewerten verrückt machen. Man kennt diese Abwärtstrends bis unter 20 Prozent zwischen den Wahlen ja mittlerweile und ich finde es anerkennenswert, dass Scholz angsichts seiner schlechten Zustimmungswerte nicht in populistische Panik verfällt, sondern Kurs hält.

Bei der Linken hingegen kapiert niemand den Ernst der Lage, scheint es. Das ist schlimm, denn es braucht unbedingt eine handlungsfähige Partei links von der SPD. Wer ein paar von den Akteur:innen mal live gesehen hat oder ihre Positionen kennt und die Art, wie sie diese Positionen anderen in der Partei um die Ohren knallen, weiß allerdings auch, warum so viel Sand im Getriebe ist. Das ist ein strukturelles Problem, das sich nicht ohne Weiteres beseitigen lässt. Die Linke zieht mit ihren Positionen sicher auch ein paar Idealist:innen an, aber die müssten sich ja erst einmal in diesem Minenfeld bewegen und es räumen können. Daran glaube ich im Moment nicht.

TH

Liebe Leser:innen, da wir gestern das Briefing 36 mit einem falschen Titel (dem von B 35) veröffentlicht haben, heute noch einmal dieser Artikel. Wir werden das künftig in solchen Fällen immer so handhaben, da eine Zurücksetzung auf Entwurf, Änderung und Wiederveröffentlichung dazu führt, dass Leser:innen den Originallink nicht mehr finden können.

Briefing 36 (hier zur 35 vom 30.09.2022)

Unser heutiges Briefing ist dem Thema „Lobbyismus / Demokratie in Gefahr“[1] gewidmet, einem Schwerpunkt unserer Berichterstattung. Wir haben ein wenig gesammelt. Anspruch auf Vollständigkeit besteht nicht, es gäbe noch viel mehr zu schreiben.

Die gegenwärtigen Krisen lassen den Eindruck entstehen, die Politik setzt sich in großem Umfang dafür ein, dass die Bürger:innen finanziell nicht zugrunde gehen. Sicherlich sollen die Maßnahmen, die schon getätigt wurden jene, die noch kommen werden, dafür sorgen, dass es im Land einigermaßen ruhig bleibt. Denn wer hätte die meisten Nachteile davon, dass die Menschen ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen, kein Geld mehr für die netten Dinge des Lebens mehr ausgeben können usw.? Die Wirtschaft natürlich. Zu ihr werden die Mittel nun auch fließen, die an die Menschen im Land ausgegeben werden. So viel, dass sich dadurch eine Verbesserung für die Menschen einstellen wird, in der Form etwa, dass sie ihre seit Jahren sinkenden Vermögen stabilisieren oder gar ausbauen können, wird es nicht sein. Selbstverständlich wird es auch welche geben, die in dieser Situation erheblich zulegen und profitieren können. Mit den neuesten Inflationswerten haben wir uns zuletzt vorgestern im Briefing Nr. 35 befasst:

Inflation springt im September auf 10 Prozent +++ Konjunktur gleichzeitig schwach +++ Atomkraftabschaltung | Briefing 35

Um sie handelt es sich, wenn es um Lobbyismus geht, denn für sie trommeln unzählige Verbände, Institutionen und neoliberale Thinktanks und setzen viel Geld ein, um, schlicht, aber wahr ausgedrückt, die Politik zu kaufen. Nicht selten gelingt das auch, wie die Verstrickungen vieler Politiker in Aktivitäten belegen, die gegen die Demokratie und die Zivilgesellschaft gerichtet sind. Wir haben deshalb einige neuere Vorgänge herausgegriffen, die zum Nachdenken anregen sollen. Dank an die unermüdlichen Kämpfer:innen für die Demokratie, die immer wieder solche Vorgänge recherchieren, aufgreifen, publik machen. Aber durch die zunehmenden Probleme der Menschen, ihren Alltag zu finanzieren, stehen auch diese Organisationen unter Druck, wie das folgende Beispiel zeigt. Wir haben bereits kürzlich erwähnt, dass sich Nachrichten wie diese in letzter Zeit häufen.

Im heutigen Briefing konzentrieren wir uns auf Vorgänge im Lebensmittelbereich, was sich angesichts der immer schneller ansteigenden Teuerung besonders anbietet, mithin auf Nachrichten von Foodwatch. Wir haben auch die Spekulation und das Tierwohl nicht vergessen.

Wir beginnen mit der enormen Inflation bei den Lebensmitteln, die im August bereits bei 14 Prozent lag, die im September sich im Zuge des allgemeinen noch stärkeren Anstiegs vermutlich ebenfalls weiter beschleunigt hat. Wir haben auch darauf hingewiesen, dass gerade ärmere Haushalte vermutlich eine noch höhere Teuerung zu verkraften haben, weil vor allem an der Basis kräftig an den Preisen geschraubt wird, weniger bei Luxus-Lebensmitteln.

 

Rising food cost and grocery prices surging costs of supermarket groceries as an inflation financial crisis concept coming out of a paper bag shaped hit by a a finance graph arrow with 3D render elements.

Auf diesen Newsletter haben wir außergewöhnlich viele unterstützende Zuschriften erhalten. Das zeigt: Die Menschen ärgern sich darüber, wenn unter dem Vorwand der Inflation Geschäfte gemacht werden. Und manche möchten foodwatch in einer schwierigen Phase helfen. Da viele Newsletter im Alltagsgeschehen untergehen, haben wir uns entschlossen, ihn noch einmal zu versenden. So haben alle Interessierten die Chance, ihn zu lesen. Wir bitten um Ihr Verständnis.     

Die Lebensmittelpreise steigen und steigen. Warum das auch für foodwatch ein Problem ist, schreibt Ihnen heute unser Geschäftsführer Chris Methmann – und erklärt, was Sie tun können.

„Ich habe Sie jahrelang unterstützt. Leider ist es mir aufgrund der enorm ansteigenden Lebenshaltungskosten nicht mehr möglich, weiterhin an foodwatch zu spenden.“ Zuschriften wie diese erreichen uns in den letzten Wochen vermehrt.

Es ist bedrückend zu lesen, wie viele Menschen die aktuelle Krise in Geldnot stürzt. Sie müssen abwägen: Was kann ich mir noch leisten? Wo kann ich sparen?

Diese Misere treibt mich nicht nur als Mensch, sondern auch als Geschäftsführer von foodwatch um. Momentan kündigen deutlich mehr Menschen ihre Mitgliedschaft bei foodwatch als üblich. Welche Aktivitäten wir uns noch leisten können – das wird eine zunehmend schwere Entscheidung für uns. Daher bitte ich Sie heute: Werden Sie jetzt foodwatch-Mitglied!     

Denn gerade weil so viele Menschen sparen müssen, braucht es eine starke, unabhängige Organisation wie foodwatch, die die Tricks der Lebensmittel-Konzerne entlarvt. Denn tricksen tun sie, gerade jetzt, auf dem gesamten Weg vom Bauernhof in unseren Einkaufskorb. Drei Beispiele:

Die mächtige Bauernlobby vergießt Krokodilstränen, weil das Brot so teuer geworden ist. Dabei verfüttert sie über 60 Prozent der hiesigen Ernte an ihre Tiere [1]. Doch statt weniger Tiere zu halten und das Gedränge im Stall zu reduzieren, fordert der Bauernverband: noch mehr Ackergifte einsetzen zu dürfen, um aus den Böden das letzte herauszupressen [2].

Auch viele Hersteller greifen zu einem alten Trick: Sie verstecken die Preiserhöhungen in kleineren Packungen. Für das gleiche Geld gibt es dann weniger Gummibären, Erdnüsse [3] oder Margarine [4].

Schließlich haben wir in den Supermärkten mal genau hingeschaut: In den letzten Monaten haben Rewe und Co. die Preise für konventionelle Milch massiv erhöht. Und tatsächlich profitieren davon auch die Landwirt:innen. Anders bei der Bio-Milch: Hier haben nach unseren Recherchen nur die Handelsketten und die Molkereien das Geld eingestrichen. Bei den Landwirt:innen ist nichts angekommen. Der Handel hat die höheren Preise einfach festgelegt, weil er es kann. Weil die Verbraucher:innen davon ausgehen, dass Bio-Milch halt teurer ist.        

Wenn Konzerne im Windschatten der Inflation so schamlos Kasse machen, macht mich das einfach nur wütend. Dagegen müssen wir Verbraucher:innen uns wehren. Als foodwatch gelingt es uns immer wieder, die Werbelügen und Tricks der Industrie aufzudecken – wir werden in Zeiten wie diesen dringend gebraucht. Aber gerade jetzt gehen wir geschwächt in diese Auseinandersetzungen.

Dass viele Menschen sich die Unterstützung für foodwatch nicht mehr leisten können, dafür habe ich großes Verständnis. Wenn Sie allerdings ein paar Euro im Monat übrig haben, dann frage ich Sie heute: Können Sie einspringen? Bitte setzen Sie ein Zeichen gegen die Maschen und Winkelzüge der Lebensmittel-Industrie. Helfen Sie uns dabei, die Lebensmittelindustrie daran zu hindern, aus der schwierigen Situation vieler Verbraucher:innen Profit zu schlagen. Werden Sie jetzt foodwatch-Mitglied!

 

Werden Sie Essensretter!: Foodwatch DE

                Vielen Dank und herzliche Grüße

Ihr Dr. Chris Methmann

Geschäftsführer              

P.S.: Nicht nur Lebensmittel, auch Strom, Papier, die Heizung für unsere Büros und unser Aktionsmaterial wird teurer. Diese Kosten belasten unser Budget zusätzlich. Helfen Sie mit, diese Preissteigerungen abzufedern, und werden Sie jetzt foodwatch-Mitglied!

Quellen:

[1] Rheinische Post, „Bauernverband warnt vor „Preissprüngen in ungekanntem Ausmaß“ bei Lebensmitteln“, 25.03.2022: h‍ttp‍s://‍rp-online.d‍e/wirtschaft/preiserhoehu‍ng-lebensmittel-brotpre‍is-koennte-sich-verdoppeln_aid-67‍495293

[2] ZDF, Bauernverband für Priorisierung:“Ohne Gas keine Milch, keine Butter“, 01.07.2022: htt‍ps‍://w‍ww.‍zdf.d‍e/nachrichten/wirtschaft/bauernverband-rukwied-gasversorgung-landwirtschaft-100.h‍tm‍l

[3] Spiegel Online, „Verbraucherschützer warnen vor versteckten Preiserhöhungen“, 19.08.2022: h‍ttps‍://w‍ww.‍spieg‍el.d‍e/wir‍tschaft/service/inflation-verbraucherschu‍etzer-monieren-pre‍iserhoehungen-ueber-verpackungstri‍ck-a-81e88bca-1ea0-4‍c3e-a171-cd1ce9bfc‍4b1

[4] Verbraucherzentrale Hanburg, „Shrinkflation: Wie Upfield mit Rama kräftig absahnt!“, 11.08.2022: htt‍ps:/‍/ww‍w.vzhh.d‍e/themen/mog‍elpackungen/mogelpackung-des-monats/shri‍nkflation-wie-upfield-rama-kraeftig-abs‍ahnt

Es gibt nur einen Weg, die Abzocke dauerhaft zu beenden: Vergesellschaftung. Ansonsten wird es bestenfalls so kommen, dass Staatsgelder über die Bürger:innen in die Taschen des Kapitals gelangen, und zwar in Form von Subventionen der Abzocke. Nicht, dass das neu wäre, aber die Dimensionen, die sich jetzt abzeichnen, waren noch nie da, und dem muss unbedingt ein Riegel vorgeschoben werden. Auch Foodwatch wird am kommenden Wochenende hier dabei sein:

Die Vergesellschaftungskonferenz in Berlin, 07.10. bis 09.10.2022, TU Berlin +++ teilnehmen, mitmachen, Informationen und Inspiration aufnehmen! #Vergesellschaftung – DER WAHLBERLINER

Die Wirtschaft, gerade eine so wichtige wie die Lebensmittelindustrie, muss für die Menschen da sein, nicht umgekehrt. Das Milchbeispiel hat uns besonders getriggert, denn selbstverständlich ist auch uns aufgefallen, dass hier besonders viel Reibach gemacht wird. Bisher wurde in unserem Haushalt relativ viel Biomilch verbraucht. Das haben wir jetzt komplett gestrichen und sind zu konventioneller Milch gewechselt. Ohne dadurch auch nur einen Cent einsparen zu können. Zuletzt gab es Biomilch bei einem Lebensmittelhändler im Angebot. Sie war immer noch 25 Prozent teurer als bisher, aber offensichtlich hat man gemerkt, dass der Verkauf doch zu stark zurückgeht, wenn die Leute plötzlich für einen Liter 1,69 anstatt 1,19 Euro bezahlen müssen. Das ist es, was wir meinen: An der Basis steigen die Preise noch viel schneller, als die offizielle Inflationsrate es ausweist, die durch einen auf mehreren Ebenen falsch zusammengesetzten Warenkorb künstlich kleingerechnet wird.

Das nächste Beispiel stammt aus der Wende zum Sommer 2022 und behandelt einen Umstand, den wir ebenfalls immer wieder anprangern, die Lebensmittelverteilung auf der Welt betreffend:

Investoren machen Gewinne, während Familien von Nigeria bis zum Libanon sich kein Brot mehr leisten können. Finanzjongleure spekulieren auf steigende Preise von Weizen, Mais und Reis – und machen das Essen damit teurer. Wir sagen: Niemand darf Profite machen, die den Hunger schüren! Fordern Sie jetzt – eine Woche vor dem G7-Gipfel in Elmau – ein Ende der exzessiven Spekulation!

Jetzt Pretition unterzeichnen: Brot statt Profit: Stoppt das Geschäft mit dem Hunger!: Foodwatch DE

Selbstverständlich haben wir unterzeichnet, wenn auch spät, nämlich gerade eben.

Hallo Thomas Hocke,

fette Gewinne, magere Mahlzeiten: Die einen machen mit Wetten auf Mais und Weizen an den Börsen das schnelle Geld, die anderen können sich kein Brot mehr leisten. Seit dem Angriff auf die Ukraine wächst die Spekulation mit Nahrungsmitteln dramatisch – allein in den ersten Kriegstagen flossen Milliarden Euro und Dollar in Fonds, die mit Nahrungsmitteln spekulieren [1]. Und das treibt die steigenden Lebensmittelpreise auf fatale Weise zusätzlich in die Höhe: Auf dem Weltmarkt kostete Weizen schon etwa 50 Prozent mehr als zu Beginn des Jahres [2].      

Die Spekulation ist zurück, hier wird auf steigende Preise gewettet, also quasi auf Hunger [3].

– Der ehemalige UN-Berichterstatter für das Recht auf Nahrung, Olivier de Schutter

Gleichzeitig überschlagen sich die Warnungen vor Hungerkrisen. In Äthiopien, Nigeria, dem Südsudan und Jemen gilt nun die höchste Hunger-Warnstufe [4]. Die UN warnen: 750.000 Menschen droht damit der Hungertod [5]. Die Ursachen sind vielfältig und teils schwer zu lösen: Klimawandel, Dürre, Krieg, Corona. Die Zockerei an den Börsen könnten wir aber sofort beenden.

In wenigen Tagen empfängt Kanzler Scholz die mächtigsten Regierungen der Welt zum G7-Gipfel im bayrischen Elmau. Mit am Tisch sitzt auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Doch die Hunger-Spekulation steht gar nicht auf der Agenda. Und das wollen wir jetzt ändern.

Je länger wir warten, der ungezügelten Spekulation mit Nahrungsmitteln eine wirksame Grenze zu setzen, desto mehr Menschen werden Hunger leiden. Diese Zockerei auf Kosten der Ärmsten muss endlich aufhören! Helfen Sie mit, das Thema auf die G7-Agenda zu bringen. Bitte klicken Sie hier und unterzeichnen Sie jetzt unsere Petition für strenge Regeln gegen exzessive Spekulation!

Jetzt Pretition unterzeichnen: Brot statt Profit: Stoppt das Geschäft mit dem Hunger!: Foodwatch DE

Die Finanzwetten haben sich längst von der ursprünglichen Funktion der Rohstoffbörsen abgekoppelt. Eigentlich sollen sie Landwirt:innen und Agrarfirmen gegen schwankende Preise absichern. Doch inzwischen bestimmen hauptsächlich Fonds und Investmentbanken das Geschehen – sie interessiert allein ihr Gewinn. Das Problem: Wenn viele von ihnen auf steigende Preise wetten, ziehen die tatsächlichen Preise nach – für alle!

Die EU könnte die bestehenden Regeln einfach verschärfen. Nachdem Anleger 2007 und 2008 die Preise schon einmal in die Höhe getrieben hatten, führte die Union Obergrenzen für die Spekulation ein, sogenannte „Positionslimits“. Sie legte also fest, wie viele solcher Finanzwetten Anleger überhaupt abschließen dürfen. Doch diese Obergrenzen sind viel zu lax, um die exzessive Spekulation wirksam zu begrenzen. Das zeigt die aktuelle Entwicklung.

Wenn am nächsten Wochenende Deutschland, Frankreich und die EU am G7-Tisch sitzen, müssen sie klarstellen: Die Obergrenzen müssen schärfer werden – und US-Präsident Biden überzeugen. Denn auch an der Börse in Chicago wird kräftig spekuliert.

Deswegen starten die foodwatch-Organisationen in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Österreich eine gemeinsame Petition. Wir wollen das Thema in die Medien und auf die Agenda der G7 bringen. Dafür brauchen wir Sie: Bitte helfen Sie mit, das zügellose Zocken der Finanzindustrie zu stoppen! Klicken Sie hier und lassen Sie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die G7-Staatschefs wissen: Sie müssen die schädliche Spekulation endlich wirksam eindämmen!

Zockerei mit Essen stoppen!      

Vielen Dank für Ihre Unterstützung und herzliche Grüße

Annemarie Botzki, Kampagnen & Recherche

P.S.: Zum ersten Mal deckte foodwatch das Geschäft mit der Nahrungsmittelspekulation schon 2011 auf. Einige Banken stiegen damals aus dem Geschäft aus. Wir wissen: Zerren wir die unethischen Finanzwetten ans Licht, können wir sie verhindern. Bitte sein sie dabei – lassen sie uns Zockerei auf die G7-Agenda setzen.

Jetzt Pretition unterzeichnen: Brot statt Profit: Stoppt das Geschäft mit dem Hunger!: Foodwatch DE

Quellen:

[1] Lighthouse Reports, „The Hunger Profiteers“: h‍ttp‍s://‍ww‍w.lighthousereports.‍nl/investigat‍ion/the-hunge‍r-profite‍ers/

[2] Deutschlandfunk, „Was hilft gegen die drohende Ernährungskrise?“: h‍tt‍ps://‍w‍w‍w.deutschlandfun‍k.d‍e/ukr‍aine-wei‍zen-get‍reide-ex‍port-blo‍ckade-we‍lternaehru‍ng-100.ht‍m‍l

[3] Spiegel Online, „Wie Spekulanten von der Krise profitieren“: ht‍tps:‍//www‍.spiegel.‍de‍/wirtschaft/nahrungsmittel-wie-spekulanten-von-der-krise-profitieren-a-566ff49f-81e6-4327-a235-b23fa4616dc0

[4] United Nations, „Overlapping crises push millions into ‘extreme levels of acute food insecurity‘“: h‍ttps:‍//ne‍ws.un.o‍rg‍/en/story‍/2022/06/1119752

[5] ZDF, „UN warnen vor Verschlimmerung der Hungerkrise“: ht‍tp‍s://‍w‍w‍w.zdf.‍de/nachric‍hten/politik/un-hungerkrise-verschlimmerung-ukraine-krieg-ru‍ssla‍nd-100.‍ht‍m‍l

Ein Geheimnis war die Spekulation mit Lebensmitteln im Grunde nie, jeder darf sich daran beteiligen; es gibt genug Finanzinstitute, die sich nicht scheuen, Produkte aufzulegen, mit denen auch der Normalbürger sich an der Förderung des Hungers beteiligen kann. Besonders unangenehm fiel eine entsprechende Werbung in einer deutschen Wirtschaftszeitschrift im Sommer auf, als der Ukrainekrieg die Lebensmittelkrise auf den Gipfel trieb und kein Korn Weizen mehr das Land verließ. Auch die gegenwärtigen Ausfuhrmengen liegen unter Normalniveau. Spekulation basiert ohnehin nicht, wie Neoliberale es behaupten, auf Angebot und Nachfrage, sondern auf Gewinnerwartung, nicht selten darauf, dass auf Crash gesetzt wird, mithin darauf, dass in diesem Fall Menschen zu Tode kommen. Leider haben wir die betr. Anzeige nicht mehr gefunden, um sie hier abzubilden, daher nennen wir den Namen der Publikation nicht, deren Anzeigenkunden mit dem Hunger der Welt Geschäfte machen. Auch die Energiekrise zeigt, dass „Märkte“ bzw. Deren Teilnehmer sich freuen, wenn es Menschen schlecht geht. Deswegen ist der Energiepreisdeckel die einzige mögliche Antwort auf diese Champagnerstimmung bei den Profiteuren. Dann muss die Vergesellschaftung folgen. Auch der Energiesektor ist zu wichtig, um ihn den Spekulanten zu überlassen. Nehmen Sie daher am kommenden Wochenende hier teil, bringen Sie sich ein, erfahren Sie mehr über echte Demokratie und solidarische Wirtschaft, helfen Sie, wirken Sie daran mit, das freidrehende Kapital endlich zu bändigen:

Die Vergesellschaftungskonferenz in Berlin, 07.10. bis 09.10.2022, TU Berlin +++ teilnehmen, mitmachen, Informationen und Inspiration aufnehmen! #Vergesellschaftung – DER WAHLBERLINER

Unser letztes Thema für heute ist eines, das sich zwar nicht an der aktuellen Sonderlage orientiert, aber beispielhaft für viele Jahre Lobbyarbeit der Industrie steht, die sich in diesem Fall gegen das Tierwohl richtet. Sicher, wenn wir alle vegan würden, wäre das Problem gelöst, aber das ist vorerst nicht abzusehen. Also muss man es sogenannten Nutzieren wenigstens so gut wie möglich gehen lassen. Interessanterweise sind viele Menschen auf diesem Auge vollkommen blind, obwohl sie ihre Haustiere lieben und verwöhnen.

Millionen Tiere leiden Schmerzen – in großen und kleinen Betrieben, bio und konventionell. Nun will die Regierung ein neues Haltungslabel einführen. Doch am millionenfachen Leid ändert es nichts. Denn die Gesundheit der Tiere spielt für das Label keine Rolle. Schreiben Sie jetzt an Bundesminister Cem Özdemir und fordern Sie echte Verbesserungen statt hübscher Labels!             

Jetzt Petition unterzeichnen!  Gesunde Tiere statt Tierqual-Label!: Foodwatch DE

Hallo Thomas Hocke,

Schweine mit entzündeten Lungen und schmerzhaften, geschwollenen Gelenken. Hühner, die so schnell gemästet werden, dass ihre Knochen nicht mithalten und brechen. Millionenfach leiden Tiere Qualen, Tag für Tag.

Die großen Fleischkonzerne setzen darauf, billig und immer billiger zu produzieren, damit Fleisch aus Deutschland ein Exportschlager bleibt. Das geht auf Kosten der Schwächsten – der Tiere. Aber auch auf die der Landwirte, die unter gewaltigem Druck stehen.

Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir verpasst jetzt eine wichtige Chance, gegen diese Missstände anzugehen: Er hat am Dienstag sein neues Haltungslabel vorgestellt. Das soll es zunächst für Schweinefleisch geben, später dann auch für andere Produkte und Tierarten. Je nachdem, wie die Tiere gehalten wurden, gibt es Kategorien von 1 bis 5. Das sagt uns beim Einkauf beispielsweise, wieviel Platz die Tiere hatten oder ob sie ins Freie konnten.

Das Problem: Es sagt nichts darüber aus, ob die Tiere Schmerzen hatten oder gesund waren. Dabei stammt jedes vierte Fleischprodukt aktuell von einem kranken Tier [1]! Schmerzhafte Geschwüre, entzündete Euter, klaffende Wunden: Völlig egal, Hauptsache der Stall war ausreichend groß.

Das dürfen wir dem grünen Bundesminister nicht durchgehen lassen. Wenn wir schon Tiere für die Lebensmittelerzeugung nutzen, müssen wir auch dafür sorgen, dass diese nicht krank gemacht werden. Doch darum kümmert sich bisher niemand. Bitte helfen Sie mit, das zu ändern: Setzen sie sich jetzt für umfassende Gesundheitskontrollen im Stall ein!

Mit dem neuen Label überlässt Cem Özdemir den Verbraucher:innen die Wahl der Qual. Dabei sind die Stufen eins bis drei eigentlich tierschutzwidrig und sollten gar nicht erlaubt sein. Wir finden: Verbraucher:innen müssen sich bei jedem Fleisch- oder Milchprodukt darauf verlassen können, dass es den Tieren gut ging. Es ist Aufgabe von Cem Özdemir, dafür zu sorgen und die Tierqual endlich zu beenden!

Der Weg hin zu gesunden Tieren ist eigentlich gar nicht so schwer: Schon jetzt wird beispielsweise bei der Schlachtung erfasst, ob ein Tier gesund war oder nicht. Bei 40 Prozent der Schweine fallen dabei Schäden an Lunge, Leber und anderen Organen auf [2]. Die nötigen Informationen liegen also auf dem Tisch. Doch bisher haben Tierhalter:innen, die immer wieder durch kranke Tiere auffallen, nichts zu befürchten. Wir fordern: Wer seine Tiere gesund hält und damit guten Tierschutz praktiziert, muss belohnt werden. Und wer Tiere leiden lässt, muss gezwungen werden, das zu ändern.

Es ist an Cem Özdemir, die Regeln entsprechend zu setzen. Eigentlich hat die neue Regierung schon im Koalitionsvertrag festgelegt:     

Wir erarbeiten eine Tiergesundheitsstrategie (…)

– Koalitionsvertrag, Seite 35 [3]

Lassen Sie uns Cem Özdemir gemeinsam an dieses Versprechen erinnern! Gerade jetzt, wo er sich mit seinem neuen Label in Sachen Tierschutz profilieren will. Das ist unsere Chance! Etliche Fachverbände wie zum Beispiel die „Tierärzte für verantwortbare Landwirtschaft“ unterstützen unsere Petition. Seien auch Sie dabei – je mehr sich zusammentun, umso wirksamer unser Protest!

An Cem Özdemir schreiben         

Vielen Dank für Ihre Unterstützung!

Herzliche Grüße

Ihre Annemarie Botzki

Campaignerin für Tierhaltung und Landwirtschaft

P.S.: Noch vor 20 Jahren führte Deutschland Schweinefleisch ein, um die Nachfrage decken zu können. Heute wird längst weit über Bedarf produziert.  Obwohl der Konsum für Schweinefleisch in Deutschland spürbar zurückging, wurden immer mehr Tiere geschlachtet. Ich selbst bin seit meiner Kindheit Vegetarierin und lebe heute vegan, und das mit Überzeugung. Aber diese Entwicklung zeigt: Wenn wir wirklich etwas im Interesse der Tiere ändern wollen, reicht es nicht, selbst auf tierische Produkte zu verzichten. Wir müssen uns gemeinsam dafür stark machen, dass Politik die Regeln verändert!

Unterzeichnen Sie jetzt unsere Petition! Gesunde Tiere statt Tierqual-Label!: Foodwatch DE    

Quellen:

[1] foodwatch, „Ausgewählte Studienergebnisse zur Tiergesundheit“: ht‍tps‍://‍ww‍w.foo‍dwatch.o‍rg‍/filea‍dmin/The‍men/

Tierhalt‍ung/Schwein‍esystem/2016-09-22_Ausgewaehlte-Studien-‍zur-Tiergesundheit.p‍df

[2] Vion food group, „Kontrollergebnisse Schweine“: h‍ttp‍s://‍ww‍w.vion-tran‍sparency‍.co‍m/d‍e/kontrollergebn‍isse/kontrollergebnisse-schweine/

[3] Koalitionsvertrag, „Mehr Fortschritt wagen“: ht‍tps‍://‍ww‍w.spd.d‍e/fi‍lead‍min/Dokumen‍te/Koalitionsvertra‍g/ Koalitionsvertrag_2021-2025.p‍df

Bei aller berechtigen Sorge um das Krisenhandling dürfen wir nicht vergessen, dass wir auch i ökologischen Raum und zulasten von Tieren handeln. Damit das Briefing einigermaßen handlich bleibt, haben wir darauf verzichtet, weitere Aspekte darzustellen und es auf Vorgänge in anderen Branchen auszweiten. Aber eines wollen wir noch festhalten: Es gibt keine „saubere Wirtschaft“ im Kapitalismus. Greenwashing anstatt wirklich nachhaltiger Lösungen wird bereits jetzt viel zu sehr akzeptiert. Was wir wirklich sehen, ist, dass Nachhaltigkeitsziele um Längen verfehlt werden, und davon ist kein einziger Sektor der Industrie ausgenommen. Zugunsten kurzfristiger Gewinninteressen einer kleinen Gruppe von Reichen wird gegen die Zukunft von uns allen gearbeitet.

Nirgendwo aber können wir durch unser Konsumverhalten mehr darüber bestimmen, dass das endlich aufhört. Bei anderen Gütern der Daseinsvorsorge geht das nicht so einfach. Einfach ist allerdings auch wieder relativ: Es ist Ihnen sicher schon aufgefallen, dass die Lebensmittelhändler und die Lebensmittelindustrie kartellartige Preisabsprachen treffen. Liegen nicht gerade Sonderangebote vor, bezahlen Sie für Markenartikel überall das Gleiche, manchmal ist sogar ein komplettes Produkt aufgestellt, als gebe es ein Monopol darauf, wie bei der oben erwähnten Milch. Was als Schutz für die Landwirte gedacht wird, kehrte sich von vor den aktuellen Krisen immer mehr gegen die Verbraucher:innen, auch dafür könnte man den Milchpreis als Beleg heranziehen. Aber genug ist genug. Es reicht auch nicht, Petitionen zu unterschreiben oder an einen Minister einen Brief zu senden. Deshalb auch von uns noch einmal eine Empfehlung:

Die Vergesellschaftungskonferenz in Berlin, 07.10. bis 09.10.2022, TU Berlin +++ teilnehmen, mitmachen, Informationen und Inspiration aufnehmen! #Vergesellschaftung – DER WAHLBERLINER

Sie werden vielleicht von Dingen hören, die Sie bisher nicht kannten, weil Sie sich nicht für Wirtschaftssystem interessiert haben. Doch wir alle müssten doch gemerkt haben, dass bei uns etwas nicht stimmt, wenn in der Krise alle zusammenrücken, solidarisch sein und natürlich auch sparen sollen, in Wirklichkeit aber die Ungleichheit noch schneller ansteigt als zuvor. Die Lage bietet aber auch genau diese Chance: Dass sich mehr Menschen Gedanken darüber machen, was sie eigentlich einkaufen. Wie es produziert wird und wer am meisten davon profitiert und daraus Schlüsse zu ziehen. Es ist auch nicht vermessen, den Bestand der Demokratie und die Sicherung einer qualitativ hochwertigen und günstigen Grundversorgung der Bevölkerung im Zusammenhang zu betrachten.

TH

[1] NGOen und Initiativen. Wessen Spuren wir folgen, wenn wir über Lobbyismus / Demokratie in Gefahr schreiben:

Nachrichten der folgenden Stellen leiten wir teilweise auch direkt weiter an unsere Leser:innen, jeweils mit einem Kommentar von uns.

  • Abgeordnetenwatch
  • Campact
  • Finanzwende
  • Foodwatch
  • Frag den Staat
  • Gemeinwohl in BürgerInnenhand (GiB)
  • Lobbycontrol

Briefing 35 (hier zu 34 vom 29.09.2022)

Unser Freitagsbriefing beinhaltet mehrere Gegenstände, aber der wichtigste ist nach unserer Ansicht die Meldung der Inflationsrate für September 2022. Eine Punktlandung von genau 10 Prozent. Viele Ökonomen hatten zweistellige Raten befürchtet und was wir sehen, ist die höchste Teuerungsrate seit mehr als 70 Jahren. Einige Maßnahmen wie der Tankrabatt und das 9-Euro-Ticketm, die in der Lage waren, den Preisanstieg kurzfristig zu dämpfen, sind nun beeindet.

Die gerade für ärmere Haushalte wichtige Lebensmitelinflation lag schon im August bei 14 Prozent.

Nur in der Anfangszeit der BRD gab es für sehr kurze Zeit einen höheren Wert, als sich sozusagen das neue Staats- und Wirtschaftswesen noch durchgeschüttelt hat und das Wirtschaftwunder begann. Aber es war eine quasi lehrbuchhafte, nachfragegetriebene Inflation, davon sind wir heute weit entfernt.

Danach hat die Bundesbank mit ihrer stabilitätsorientierten Politik dafür gesorgt, dass sich so etwas nicht wiederholt, denn die damals ganz neue D-Mark musste sich bewähren. Den Menschen im Land saß die Hyperinflation der 1920er und die Entwertung des Geldvermögens in Reichsmark aus dem Jahr 1948 noch in den Knochen. Schwierig wurde es noch einmal Mitte und Ende der 1970er, Anfang der 1980er. Auch damals war ein Energiepreisschock Auslöser für einen starken Auftrieb bei der Inflation.

Heute gibt es keine Bundesbank mehr, bzw. sie hat nichts mehr zu sagen, und die EZB macht vor allem Politik für Länder, deren Wirtschaftsausrichtung sich deutlich von der hiesigen unterscheidet. Aber es soll ja immer weitergehen mit der Vereinheitlichung, inklusive der Haftungsunion für Bankeinlagen EU-weit. „Viel Spaß!“ schreiben wir lieber nicht, denn wir werden daran alle keine Spaß haben, wie bisher schon nicht an der für Hochschuldenländer gemachten Null- und Minuszinsinflation und der beispiellosen Flutung des Kapitalmarkts durch die Ankäufe aller möglichen Anleihen von verschiedenen Emittenten in der EU , seien sie gut oder Ramsch. So etwas muss irgendwann die Inflation antreiben und nun kommen mehrere ungünstige Umstände zusammen, sodass sie durch normale Zinsschritte, die außerdem viel  zu spät erfolgen, nicht in den Griff zu bekommen ist.

Integration kann gut sein, muss aber nicht. Und sie ist es nicht, wenn man das Pferd von hinten aufzäumt, also eine gemeinsame Währungspolitik macht, ohne eine gemeinsame Sozial-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik oder, Königksklasse!, eine gemeinsame strategische Wirtschaftspolitik entwickelt zu haben.

Mehr dazu: Inflationsrate in Deutschland: aktuelle Höhe und Entwicklung Grafik – Business Insider

Im Vergleich dazu das mickerige Wirtschaftswachstu, das wir 2023 zu erwarten haben. Hohe Inflation, niedriges Wachstum, das ist das Gift, aus dem der Niedergang weiter Teile der Bevölkerung gebraut wird. Dass die Arbeitslosenquote bei uns so niedrig ist, liegt an statischen Tricks und daran, dass sich a.) immer mehr Menschen die vorhandenen Arbeitsstunden teilen und b.) immer mehr Menschen gebraucht werden, die die Schäden des Neolibealismus durch soziale Arbeit auffedern. Diese Folgekosten müssten alle, die ein „weiter so“ propagieren, mal selbst tragen müssen.

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre jüngste Gemeinschaftsdiagnose zur Entwicklung der Konjunktur in Deutschland veröffentlicht. Demnach wird die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr noch um 1,4 Prozent zulegen. Für das kommende Jahr erwarten die Institute für das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt allerdings einen Rückgang um 0,4%, für das Jahr 2024 einen Anstieg um 1,9%. Die Institute halbieren damit annähernd ihre im Frühjahr aufgestellte Prognose für dieses Jahr. Grund dafür sei vor allem die krisenhafte Zuspitzung auf den Gasmärkten, welche die deutsche Wirtschaft schwer belaste. Die stark gestiegenen Gaspreise würden die Energiekosten drastisch erhöhen und gingen mit einem massiven gesamtwirtschaftlichen Kaufkraftentzug einher.

Die Prognose sei mit Risiken behaftet: „Sollte der Verbrauch in diesem Winter nicht, wie in dieser Prognose unterstellt, ausreichend sinken, käme es zu einer staatlichen Rationierung. In dieser Situation müssten die Unternehmen ihre Produktion zusätzlich einschränken.“

Zudem ginge nach wie vor ein konjunkturelles Risiko von der Corona-Pandemie und möglichen Infektionsschutzmaßnahmen aus. Zwar seien die Krankheitsverläufe bei der derzeit dominierenden Variante vergleichsweise mild. Es bestünde aber weiterhin die Möglichkeit, dass eine neue Variante mit schwereren Verläufen auftritt. In diesem Fall könnte es wieder zu stärkeren Beeinträchtigungen der Wirtschaftsaktivität kommen.

Die Gemeinschaftsdiagnose ist ein gemeinsames Projekt mehrerer Wirtschaftsforschungsinstitute. Dazu zählen unter anderem das DIW Berlin und das Münchner ifo Institut. Im Forschungsprojekt „Gemeinschaftsdiagnose“ (GD) wird die wirtschaftliche Lage in Deutschland analysiert und prognostiziert. Die Diagnosen werden zweimal jährlich, jeweils im Frühjahr und im Herbst, erstellt. Die Prognosen der GD liefern eine Orientierung für die Projektionen der Bundesregierung.

Dazu passt die Nachricht, dass die EU die Sanktionen gegen Russland weiter verschärfen möchte. Sei es die Teilmobilmachung, die Annexion besetzter Gebiete in der Ukraine, die Lecks in den Nordstream-Pipelines, die Russland etwas leichtfertig zugerechnet werden, Gründe gibt es immer. Aber ergibt es auch Sinn? Auf jeden Fall wird es die Wirtschaftsleistung der EU-Länder weiter belasten.

Civey-Umfrage: Sorgen Sie sich, dass die neuen geplanten EU-Sanktionen gegen Russland auch Deutschlands Wirtschaft nachhaltig schaden werden? – Civey

Hier der Civey-Begleittext aus dem Newsletter:

Die Europäische Union will die Sanktionen gegen Russland verschärfen. Darauf einigten sich die EU-Außenminister und -Außenministerinnen am Mittwoch bei einem Treffen am Rande der UN-Konferenz in New York. Die endgültige Entscheidung soll auf einer formellen Sitzung verkündet werden. Anlass ist die Ankündigung Russlands wenige Stunden zuvor, mit der Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte zu beginnen.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte am Mittwoch, dass die Sanktionen auf wichtige Sektoren der russischen Wirtschaft und Personen abzielen, die für Krieg verantwortlich seien. Zudem werde die EU die Ukraine mit weiteren Waffen unterstützen. Die Expertin für Osteuropa, Gwendolyn Sasse, sagte im ZDF, dass sie von der Teilmobilmachung vorerst keine neue „Kriegsdynamik“ erwarte. Es wird „Wochen und Monate” dauern, bis die 300.000 Reservisten bereit sind.

Teile von Linke und AfD kritisieren die Sanktionen. Sahra Wagenknecht (Linke) brach einen parteiinternen Streit los, nachdem sie der Bundesregierung jüngst im Bundestag vorwarf, einen „Wirtschaftskrieg“ gegen Russland „vom Zaun zu brechen“. Am Dienstag sagte sie erneut bei Markus Lanz: „Wir helfen der Ukraine nicht, wenn wir unser industrielles Rückgrat brechen.” Sie fordert, die Sanktionen zu beenden und weiterhin Rohstoffe und Energie aus Russland zu importieren.

Sahra Wagenknecht wird dafür sorgen, dass die Linke sich spaltet, wenn es so weitergeht, das ist ein ganz eigenes Thema. Aber Ansichten sind nicht generell deshalb schlecht, weil sie von den Falschen geteilt werden. Wir wollen das heute nicht zu sehr auswalzen: Wir waren immer schon eher für Waffenlieferungen, solange die Menschen in der Ukraine kämpfen wollen als für Sanktionen. Anfangs weniger wegen der Folgen für uns selbst, sondern wegen der Unwirksamkeit, ja oft systemstabilisierenden Wirkung, die Sanktionen auslösen. Glauben Sie zum Beispiel ernsthaft, das kubanische Mangelwirtschaftssystem hätte noch Bestand, wenn nicht der gesellschaftliche Klebstoff der US-Sanktionen vorhanden wäre? Venezuela, Iran, wo man hinschaut, immer das Gleiche. Nichts als Schäden für die Bevölkerung, aber keine politische Wirkung. Sanktionen sitzen wie ein sehr fester Propfen auf Gesellschaften, die unter Druck stehen und zwingen die Opposition zu Bekenntnissen, die niemand abgeben möchte: Seid ihr für euer Land oder für die Sanktionen der Imperialisten?

Und wie sieht es mit der Energiesicherheit aus? Auch dazu eine Umfrage, bei der Sie mitmachen können:

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie, dass Bundesumweltministerin Steffi Lemke die letzten deutschen Atomkraftwerke wie geplant Ende des Jahres abschalten lassen möchte? – Civey

Der Erklärungstext von Civey:

„Die Entscheidung zum Atomausstieg steht“, sagte die Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) vorgestern im Bundestag. Die Atomkraft sei ihr zufolge „teuer und produziert hochgiftige Hinterlassenschaften”. Zudem birgt sie hohe Sicherheitsrisiken, die sich aufgrund der Kriegslage in Europa noch einmal verschärft haben. Man werde prüfen, ob man zwei AKWs im Falle einer kritischen Versorgungslage als Reserve in Bereitschaft hält, aber nicht laufen lässt.

­Die Bundestagsfraktion von CDU und CSU fordert dagegen eine Laufzeitverlängerung der letzten drei deutschen Atomkraftwerke bis 2024. Sie will darüber im Parlament abstimmen lassen und kündigte noch für diese Woche einen Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes an. Die vorherige Bundesregierung hatte den Atomausstieg für 2022 beschlossen. Demnach müssten die Atomkraftwerke bis zum Ende des Jahres abgeschaltet werden.

CDU und CSU begründen ihre Forderung mit der Energiekrise in Deutschland. „Ausufernde Strompreise” und eine unsichere Energieversorgung stellten ihnen zufolge eine „große Gefahr“ für die deutsche Wirtschaft dar. Eine Ausweitung des Stromangebots und der inländischen Stromproduktion sei daher „zwingend erforderlich“. Die Energieökonomin Claudia Kemfert sagte indes in der Rheinischen Post: „Die Energieversorgung in Deutschland ist gesichert, auch ohne Atomkraft.“

In diese Sache ist mittlerweile Bewegung gekommen. Das trifft auch auf unsere Meinung zu. Wir sind wieder zum Ausgang zurückgekehrt, der bei obiger Fragestellung auf „eher falsch“ hinausläuft. Es gibt gute Gründe dafür, auch wenn nicht alle, die hier genannt sind, den Stresstest für gute Argumentation bestehen. Aber was wäre los, wenn es wirklich zu Stromausfällen käme, weil man sich stur nicht der Situation anpassen wollte? Sogar FFF sieht die Verlängerung des Betriebs bis ins nächste Frühjahr hinein nicht mehr grundsätzlich negativ. Man muss eben aufpassen, dass daraus nicht im wörtlichen Sinne ein Dauerbrenner wird und wir sind uns sicher, das wird die Zivilgesellschaft auch tun.

TH

Briefing 34 vom 29.09.2022 (hier zu Nr. 33 vom 23.09.)

Seit ein paar Tagen blubbert es aus den Nord-Stream-Gaspipelines 1 und 2 heraus ins Meer und an die Oberfläche, weil sie leckgeschlagen sind. Kaum jemand glaubt, dass das eine technische Panne gewesen sein könnte. Die Leitungen sind äußerst robust, noch ziemlich oder sogar ganz neu und es gibt keinen vergleichbaren Vorfall irgendwo anders. Wir können also eine Panne ausschließen. Wenn es keine Panne war, muss es aber Absicht gewesen sein: ein Sabotageakt. Nur, wer war’s? So heiß wie diese Frage wird derzeit kein anderes Rätsel diskutiert.

Ich musste heute Morgen schmunzeln, als ich einen Artikel des RND zur Sache las und darin die Frage „cui bono“ auftaucht. Wer fragt immer so und endet meist bei den USA? Die Verschwörungstheoretiker:innen natürlich. Die Transatlantiker wollen natürlich Russland als Verursacher sehen. Und es schiebt sich mittlerweile der Gedanke nach vorne, dass es keiner von beiden war. Ich hatte an diese Möglichkeit bereits ziemlich früh gedacht. Vielleicht war es der James-Bond-Film „Man lebt nur zweimal“, der mich darauf gebracht hat.

Politik wie aus einem schlechten Drehbuch.

Worum geht es in dem Film?

Der Film entstand im Jahr 1966. Sowjets und Amerikaner beschuldigen sich gegenseitig, ein Raumschiff der jeweils anderen Seite gekapert zu haben, in Wirklichkeit war es ein Schurke, der die beiden Supermächte gegeneinander ausspielen und auf diese Weise die Weltherrschaft an sich reißen wollte. So weit wird jetzt wohl niemand denken, nicht wegen Lecks in zwei Gasleitungen, aber in den Bond-Filmen geht es häufig um Größenwahn.

Fangen wir vorne an: „Cui bono“ trifft auf Russland nicht zu?

Russland war am Bau der beiden Nordstream-Leitungen beteiligt und Gazprom ist Mitbetreiberin, vereinfacht geschrieben. Die Russen haben uns ohnehin das Gas abgedreht. Was also haben sie für einen Vorteil davon, Leitungen, die vielleicht doch irgendwann wieder in Betrieb gehen werden, selbst zu sprengen? Dem oben verlinkten Artikel merkt man deutlich an, dass die Schreiber ihre Vorgaben aus den USA oder von transatlantischen Clustern bekommen, denn sie fragen gar nicht wirklich nach „cui bono“, sondern begnügen sich damit, Putin als KGB-Mann darzustellen, dem man alles zutrauen muss. Das ist eine äußerst biedere Art und Weise, mit einem solchen Vorfall umzugehen. Kein Wunder, dass man bei den „Alternativmedien“ über diese Art von Journalismus den  Kopf schüttelt.

Was könnte der Vorfall den USA nützen?

Das ist ganz offensichtlich. Die USA wollen sicherstellen, dass weiterhin ihr teures LNG-Gas nach Europa geliefert wird, für das jetzt eine im Grunde irrsinnige Infrastruktur aufgebaut wird, im Grunde sogar werden muss, obwohl dieser Energieträger sowas von nicht nachhaltig ist. Ich glaube nicht, dass es eine 1:1-Rückkehr zum Status quo ante geben wird, dass also dieser Switch endet, wenn Russland wieder liefert. Die Richtungsentscheidung, sich von Russland unabhängiger zu machen, steht bei der Bundesregierung fest. Ist der Nutzen also wirklich so groß, dass man z. B. riskieren kann, dass rauskommt wer es war und es waren die eigenen Verbündeten? Langfristig sieht man schon an dieser Stelle: Wir müssen dringendst von beiden Seiten unabhängiger werden. Natürlich profitieren die USA massiv von der gegenwärtigen Lage und dass sie das alles im Blick hatten, als sie die Ukraine begannen aufzurüsten, darf man getrost als gegeben ansehen. Es sind  US-Konzerne, die jetzt die ganz fetten Gewinne mit der Spekulation einfahren.

Deswegen wird heute in einem Artikel das, was an Gas zutage tritt, witzigerweise als Spekulationsblase bezeichnet.

Deshalb vielleicht auch, ja. Natürlich heizt diese Lage die Spekulation mit Gaspreisen noch einmal an, denn jetzt wäre keine Gaslieferung mehr möglich, selbst, wenn Russland wieder wollte. Aber vor allem hat der Titel wohl den Hintergrund, dass nun alle wie wild spekulieren, wer die Leitungen sabotiert hat. Ein nettes Spiel mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs Spekulation. Aber spekulieren wir weiter mit.

Was ist die „dritte Lösung“, die des noch unbekannten Schurken?

Ich frage mich, ob sie es technisch draufhaben, einen solchen Akt zu begehen, aber wer hat gerade eine Gasleitung nach Skandinavien fertiggestellt? Polen. Also haben sie es technisch drauf, falls sie am Bau beteiligt waren. Polen war in der EU der größte Gegner von Nord Stream 2 und ist ständig zugange mit den Reparationszahlungen. Deutschland und Russland gleichermaßen eins auszuwischen, liegt absolut innerhalb der polnischen Staatsräson. Das hat nun einmal historische Gründe. Die Rechtsregierung der PIS ist außerdem ziemlich ruchlos, daran besteht kein Zweifel. Eine False-Flag-Aktion würde ich ihr jederzeit zutrauen. Die Frage ist, ob der Nutzen so groß ist, dass man das Risiko einer Aufdeckung nicht doch zu erheblich wäre. Andererseits, ich glaube, es wird nicht so einfach sein, die Verursacher dieser Lecks festzustellen. Auf den Minen oder Bomben, die gelegt wurden, steht sicher kein Gruß drauf. Prinzipiell haben alle Geheimdienste solche Aktionen in Portfolio.

Ist das nicht etwas krass, einen EU-Partner so im Verdacht zu haben?

Nicht krasser, als Russland selbst in den Blick zu nehmen oder die USA. Da sehe ich keine großen Unterschiede: Was geht, wird gemacht, und in der EU ist Polen vor allem, weil es davon profitieren will, nicht wegen der sogenannten Wertegemeinschaft. Nicht mehr heute, das ist klar zu erkennen. Aber wir sind ja mit den Überlegungen noch nicht fertig. Kehren wir mal zum Anfang zurück …

Russland

Wenn man sich anschaut, wie Russland gerade in der Ukraine vorgeht, sollte man generell nichts ausschließen. Die bisherige Kriegsführung. Die Annektion, die gerade vorbereitet wird. Die Scheinreferenden. Der Spin, dass die russische Atomdoktrin dann plötzlich auf die Ukraine anzuwenden wäre: Gebiete des Landes werden einfach zu Russland geschlagen, damit ist die Hilfe für die Ukraine, diese Gebiete zurückzuerobern, ein Angriff auf Russland selbst und ein solcher Fall sieht den Einsatz von Atomwaffen vor. Bei der Analyse der Putinrede vom 21.09. habe ich angedeutet, dass es in diese Richtung gehen kann. Und Medwedew, Putins Wadenbeißer, lässt immer mal wieder arrogante Statements über die Überflüssigkeit der Ukraine im Ganzen ab. Was in Russland läuft, auch, weil man konventionell nicht mehr vorwärts kommt, ist äußerst gefährlich.

Aber was hat Nord Stream 2 damit zu tun?

Auf den ersten Blick nichts. Auf den zweiten auch noch nicht. Der Nutzen könnte aber in der Tat darin liegen, es anderen unterzuschieben. Da in den letzten Tagen NATO-Verbände in der Ostsee und in der Nähe der Pipelines unterwegs waren, hätte man zum richtigen Zeitpunkt ein U-Boot hinschicken können und dem Anschlag einen amerikanischen Anstrich verpassen können. Ein weiterer Aspekt ist, dass nicht nur die USA, sondern auch Russland ein großes Interesse an den hohen Gaspreisen in Europa haben. Sogar ein strategisch wichtigeres. Nämlich den Westen zu destablisieren und auseinanderzutreiben. Misstrauen gegen die USA besteht ja nun sowieso, diese Sache betreffend. Die  US-Politik provoziert das allerdings auch.

Wieso bzw. womit? Mit ihren vielen Infiltrationen und Aktionen über Jahrzehnte?

Das ohnehin. Aber Joe Biden hat sich nicht entblödet, zu Kanzler Scholz im Februar, kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine zu sagen, man werde dafür sorgen, dass Nord Stream 2 nicht liefern wird. Biden hat natürlich keine Erklärung geliefert. Diese Arroganz der Macht kommt nicht nur bei Putinfreunden schlecht an. Biden hat damit nicht mehr und nicht weniger gesagt, als dass er möglicherweise auch illegal vorgehen wird, wenn die Deutschen nicht im Sinne der USA kooperieren. Aber dann hat Putin den US-Strategen den Gefallen getan, den Krieg zu beginnen und damit war klar, dass Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen wird. Sehr praktisch.

Aber es bleibt doch so, dass die USA auch ohne einen Sabotageakt im Vorteil sind.

In der Tat. Ich habe auch nicht gesagt, dass ich hauptsächlich die USA verdächtige oder ein anderes NATO-Land. Aber sie sind selbst schuld, wenn sie wieder einmal am Pranger stehen. Zu oft lag man damit schon richtig, in Washington nach den Urhebern internationaler Probleme zu suchen und dabei auf unfassbar dreiste Lügen zu stoßen. Ein komisches Gefühl bleibt auf jeden Fall. Ich glaube z. B. nicht, dass Trump eine solche Aktion gebracht hätte, aber den außenpolitischen Falken unter den Demokraten traue ich kaum etwas nicht zu und Biden ist, wenn er keinen perfekten Tag mit perfektem Briefing hat, plain genug, Gedanken in diese Richtung mit seinen Überdrüber-Äußerungen zu provozieren. Falls die USA wirklich dahinterstecken: Genau umgekehrt natürlich wie bei Russland, dort wird man es Putin in die Schuhe schieben wollen und außerdem sicherstellen, dass es tatsächlich aber auch garantiert keine Rückkehr zum russischen Gas geben wird.

Aber die Lecks lassen sich doch reparieren.

Nicht von heute auf morgen und teuer wird es auch. Aber das ist natürlich ein wichtiger Aspekt, die begrenzte Wirkung dieser Aktion bei Leitungen, die im Moment sowieso stillliegen. Dann könnte es eine Warnung sein an Deutschland: Wir machen das gerne wieder, wenn ihr auf die Idee kommen solltet, doch wieder russisches Gas zu beziehen. Das wäre vor allem ein Ding der USA, daran führt kein Weg vorbei. Es wäre typisch amerikanisches Vorgehen. Man kann den Imperialisten dort nur auf die Spur kommen, wenn man versucht, ihre Denke zu verstehen. Und die basiert nicht auf Recht und Gleichberechtigung in Bezug auf kleinere Partner, sonst wären es ja keine Imperialisten.

Die CIA hat die Bundesregierung aber schon im Sommer vor möglichen Anschlägen gewarnt.

Die wussten mal wieder gut Bescheid. Erstaunlich, wie dicht dort der Ball geführt wird. Beneidenswert natürlich auch. Die Möglichkeiten haben die deutschen Geheimdienste nicht, und das ist gut so.

Okay, das ist also auch kein Gegenbeweis?

Nein. Nicht unter Berücksichtigung einer möglichen, gut durchgeführten False-Flag-Aktion.

Und der im Moment noch „unsichtbare Dritte“ würde davon profitieren, dass die eigene Pipeline mit aus Sepkulationsgründen besonders teurem Gas gefüllt würde? Aber doch zu eigenen Lasten, nicht zulasten der Lieferanten.

Auch hier wieder. Auf den ersten Blick ist das so, und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ein skandinavisches Land, dessen Gas durch die Baltic-Pipeline fließt, einen solchen Coup führen würde. Dagegen sträubt sich doch einiges in mir. Aber Empfänger sind ja auch Lieferanten im Sinne von Zwischenhändlern. Das Gas, das in Polen eintrifft, wird teilweise von dort aus weitergegeben und natürlich, wie auch bei der Ukraine bezüglich des russischen Gases, das deren Territorium passiert, verdient man mit. In Polen sieht die Regierung manchen Grund, der EU und besonders Deutschland eins auszuwischen. Es herrscht Krieg und im Windschatten der Ereignisse in der Ukraine lässt sich manches fiese Ding drehen.

Das ist alles ziemlich unübersichtlich.

Worauf ich hinauswill ist nur: Keine der Varianten kann man ausschließen. Und staatliche Beteiligung dürfte sicher sein. Ein verrückter Spekulant, der die Preise hochtreiben will als Privatmann, das halte ich, anders als in Bond-Filmen wie „Goldfinger“ gezeigt, wo der Titeltcharakter Fort Knox atomar verstrahlen und damit den Goldpreis hochtreiben will, für ziemlich unwahrscheinlich. Für diese Sabotage musste m. E. ein U-Boot eingesetzt werden, das entsprechend personell und technisch bestückt ist.

Gibt es Präferenzen? Wer ist am wahrscheinlichsten der Urheber der Sabotage?

Russland ist in einer Lage, in der es kaum noch Bedenken zu geben scheint. Man weiß dort auch oder glaubt zu wissen, dass der Westen nicht für die Ukraine den Dritten Weltkrieg riskieren wird, falls in der Ukraine taktische Atomwaffen eingesetzt werden. Die USA könnten genau diese Bredouille ausnutzen. Wenn Russland schon moralisch und technisch ziemlich bankrott ist, könnte man so den nächsten Schlag führen und es weiter isolieren und diskreditieren. Ähnliches Denken, wenn auch nicht so geostrategisch, sondern eher am Kleininteresse orientiert, die Trittbrettfahrer, wenn wir sie mal so bezeichnen wollen.

Aber wer war es denn nun vermutlich?

Ich werde mich nicht auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit festlegen. Doch eines ist sicher: Dass man einem jeden Mitspieler im geostrategischen Gerangel jede Gaunerei zutraut, sagt viel aus über die internationalen Beziehungen, darüber, wie verkommen sie wieder sind, nicht viel besser als zu den Zeiten des europäischen Hochimperialismus oder in den Nazi-Jahren, und über die Menschen an sich. Ich kann es nicht ändern, aber es hat sich lange abgezeichnet: Die Globalisten, die Kapitalvertrete, die eine maximale Abhängigkeit aller von allen befürworten, um die Profite ohne Kontrolle gegen unendlich treiben zu können, liegen auch geostrategisch falsch. Wir haben das hier bisher vor allem am Beispiel China festgemacht, aber, wie man sieht, es kommt immer wieder zu neuen Vorgängen, deren Bewertung zum selben Ergebnis führt.

Das heißt konkret?

Wir müssen bei den für diese Gesellschaft lebenswichtigen Dingen, den Elementen der Daseinsvorsorge so weit wie möglich autark werden. Dazu ist es auch notwendig, dass sie der kapitalistischen Verwertung an den Wertpapiermärkten entzogen werden. Früher habe ich das vor allem ökologisch als geboten angesehen, die Autonomie als eine Art Side-Effekt; aber schon in der Trump-Ära und wegen des Aufstiegs Chinas ist für mich auch der geostrategische Aspekt mehr in den Fokus gerückt. Zumindest auf dem Energiesektor dürfte dieser letzte, gültige Move langfristig nicht teurer sein als die übliche Lösung „wir lassen alles zu miserablen Bedingungen dort produzieren, wo es weltweit am billigsten hergestellt werden kann“.  

TH

Briefing 33 vom 23.09.2022 (hier Nr. 32 vom 22.09.)

Ursprünglich war für heute eine Putinrede-Analyse geplant, aber dazu fehlte uns dann doch die Zeit, deswegen haben wir Umweltpolitisches vorgezogen, aber weil es nicht nur mit Klima / Energie zu tun hat (dann wäre es ein Gegenstand für den Klima-Energie-Report) als Briefing.

Was tut sich bei deutschen Unternehmen in Sachen Umweltschutz? Wir als Verbraucher:innen sparen und müssen das teilweise auch, achten immer mehr auf Nachhaltigkeit, bei dem was wir ge- und verbrauchen, da dürfen wir doch auch von der Industrie ein ähnliches Verhalten erwarten, oder?

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Im Jahr 2020 hat die deutsche Industrie laut einer Auswertung des Statistischen Bundesamts (Destatis) rund 12,1 Milliarden Euro oder etwa 14 Prozent ihrer Gesamtinvestitionen für Umweltschutzmaßnahmen aufgewendet. Dazu zählen Anlagen, die Emissionen verringern, vermeiden oder beseitigen sowie solche, die ressourcenschonender arbeiten. Obwohl die Ausgaben für Klima- und Umweltschutz im produzierenden Gewerbe Jahr für Jahr steigen, machen sie dennoch einen verschwindend geringen Teil des Gesamtumsatzes aus.

Wie unsere Grafik auf Basis von Destatis-Daten und eigenen Berechnungen zeigt, brachten die Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes 2020 in Deutschland nur etwa 2,9 Milliarden Euro für den Umweltschutz auf. Zum Vergleich: Der Umsatz in diesem Sektor betrug im selben Jahr 1,8 Billionen Euro, folglich flossen nur 0,2 Prozent in Maßnahmen zur Emissionsreduktion, -vermeidung oder ressourcenschonenderen Nutzung bestehender Anlagen. Auch im Bergbau- und Energieversorgungsbereich sind die für Umweltschutz genutzten Umsatzanteile verschwindend gering und liegen seit 2010 zwischen 0,4 und 1,2 Prozent. Im Bereich der Wasserversorgung und Entsorgung wurden 2020 rund 11 Prozent des Umsatzes in entsprechende Maßnahmen investiert.

Trotz dieser niedrigen Prozentzahlen lässt sich in den vergangenen Jahren ein deutlicher Aufwärtstrend ausmachen. Gaben 2010 beispielsweise nur 16 Prozent aller Unternehmen im produzierenden Gewerbe ohne den Bausektor Geld für Umweltschutzmaßnahmen aus, waren es 2020 schon ein Viertel. Mit Blick auf die Reduktion von Treibhausgasemissionen und Klimaschutz ist derzeit nicht klar, ob die vergleichsweise geringen Investitionen in entsprechende Projekte ausreichen, um die Bemühungen, die anvisierten Klimaziele zu erreichen, ausreichend zu unterstützen. Bis 2030 sollen die Emissionen im Vergleich zu 1990 um 65 Prozent reduziert, bis 2045 die komplette Treibhausgasneutralität erreicht werden. 2021 stieß Deutschland laut des Umweltbundesamts mit 750 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent rund 40 Prozent weniger aus als im Indexjahr 1990.

In diesem Fall müssen wir zunächst die Lesart der zugrundeliegenden Destatis-Veröffentlichung klären. In der Grafik wirkt es, als ob die Branche Wasserversorgung / -entsorgung 11 Prozent ihrer Umsätze in Umweltbelange investiert hätte. Nach unserer Ansicht ist etwas anderes gemeint: dass 11 Prozent der Investitionen deutscher Unternehmen in den gesamten Umweltschutzbereich gingen. Der Anteil stieg auch deshalb relativ stark, weil die Gesamtsummer aller Unternehmensinvestitionen im produzierenden Bereich zurückgingen.

Mit 7,4 Milliarden Euro setzte die Industrie im Jahr 2020 einen Großteil (61,0 %) ihrer Umweltschutzinvestitionen in den Umweltbereichen Abwasser- und Abfallwirtschaft ein, das war eine Steigerung um 13,9 % zum Vorjahr. In der Abwasserwirtschaft investierten die Unternehmen 4,6 Milliarden Euro (38,1 % der Umweltschutzinvestitionen) unter anderem in Anlagen zur Verminderung der Abwassermenge. Die Investitionssumme stieg hier im Vorjahresvergleich um 6,7 %. Investitionen in die Abfallwirtschaft, zu denen Maßnahmen zur Verwertung, Beseitigung und Vermeidung von Abfällen zählen, wurden in Höhe von 2,8 Milliarden Euro (22,9 % der Umweltschutzinvestitionen) getätigt. 

Der Text ist in der Tat missverständlich formuliert und legt die in der Grafik enthaltene Interpretation nah. Die Umweltinvestitionen stiegen demnach um 3,6 Prozent, während die Gesamtinvestitionen im Jahr 2020, sicherlich vor allem corona-bedingt, um 7,5 Prozent zurück. Wir fanden die gesamte Investitionssumme von knapp 90 Milliarden Euro allerdings erstaunlich gering. Nur zur Erinnerung: Die Bundesregierung will allein für die Verteidigung demnächst ein 100-Milliarden-Euro-„Sondervermögen“ auf den Weg bringen. Aber vielleicht wird dadurch ja auch wieder mehr investiert. In den falschen Branchen leider. 

Wir geben die wichtigsten Daten hier so wieder, wie sie von Destatis veröffentlicht wurden und gliedern sie so, dass dadurch hoffentlich etwas mehr Übersichtlichkeit entsteht als durch den Fließtext der Publikation und die teilweise irritierenden und gliederungstechnisch eher kontraproduktiven Zwischenüberschriften, die wir entfernt haben.

  • Anteil der Umweltschutzmaßnahmen an den Gesamtinvestitionen im Produzierenden Gewerbe (außer Bauwirtschaft): 13,5 Prozent (12,1 Milliarden Euro).
    • Davon für Schutzmaßnahmen im Bereich Abwasser, Abfall: Mit 7,4 Milliarden Euro (61,0 % ihrer Umweltschutzinvestitionen). Das war eine Steigerung um 13,9 % zum Vorjahr. 
      • In der Abwasserwirtschaft investierten die Unternehmen 4,6 Milliarden Euro (38,1 % der Umweltschutzinvestitionen).
      •  Investitionen in die Abfallwirtschaft, zu denen Maßnahmen zur Verwertung, Beseitigung und Vermeidung von Abfällen zählen, wurden in Höhe von 2,8 Milliarden Euro (22,9 % der Umweltschutzinvestitionen) getätigt. 
    • Ein Teilbereich der Umweltschutzinvestitionen sind Investitionen in den Klimaschutz. Zu diesem Bereich zählen Anlagen, Einrichtungen und Maßnahmen zur Vermeidung und Verminderung der Emissionen von sogenannten Kyoto-Treibhausgasen, der Nutzung erneuerbarer Energien sowie der Energieeffizienzsteigerung und Energieeinsparung. Seit dem Jahr 2009 haben sich die Investitionen der Industrieunternehmen in den Klimaschutz mehr als verdoppelt, allerdings sanken sie im Jahr 2020 um 2,6 % gegenüber dem Vorjahr auf 3,4 Milliarden Euro. Das entsprach gut einem Viertel (27,9 %) der gesamten Umweltschutzinvestitionen. 
      • Entgegen diesem Gesamttrend stiegen die Investitionen in Maßnahmen zur Energieeffizienzsteigerung und Energieeinsparung im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr um 17,1 % auf 1,3 Milliarden Euro und machten damit 39,7 % des gesamten Investitionsvolumens für den Klimaschutz aus. Demgegenüber sanken die Maßnahmen zur Nutzung erneuerbarer Energien um 13,4 % auf 1,6 Milliarden Euro (46,7 % der Klimaschutzinvestitionen) und die Maßnahmen zur Vermeidung und Verminderung von Treibhausgasen um 8,6 % auf 457 Millionen Euro (13,6 % der Klimaschutzinvestitionen).
    • Von den übrigen Investitionen für den Umweltschutz im Jahr 2020 entfielen 808 Millionen Euro (6,7 % der Umweltschutzinvestitionen) auf den Bereich der Luftreinhaltung.
      • Zu diesem Bereich zählen auch Investitionen in die Elektromobilität, also etwa in Elektro- oder Hybridfahrzeuge und die entsprechende Ladeinfrastruktur. Für solche Maßnahmen investierten die Unternehmen 152 Millionen Euro, das waren 18,8 % aller Investitionen in die Luftreinhaltung.
      • Die restlichen 82,2 % (656 Millionen Euro) wurden in andere Maßnahmen zur Beseitigung, Verringerung oder Vermeidung von luftfremden Stoffen in Abgas und Abluft investiert. 
    • Investitionen in Arten- und Landschaftsschutz machten auch im Jahr 2020 mit 86 Millionen Euro lediglich 0,7 % der gesamten Umweltschutzinvestitionen aus, stiegen im Vergleich zu 2019 jedoch um 74,0 %.
    • Mit 370 Millionen Euro machten Maßnahmen zum Schutz und Sanierung von Boden, Grund- und Oberflächenwasser 3,1 % der Gesamtinvestitionen für den Umweltschutz aus.
    • Die restlichen 81 Millionen Euro (0,7 % der Umweltschutzinvestitionen) wurden in Lärm- und Erschütterungsschutz investiert. 

Bei der Verteilung der Umweltschutzinvestitionen auf einzelne Branchen lag der Großteil der Umweltschutzinvestitionen im Jahr 2020 bei Unternehmen der Ver- und Entsorgungswirtschaft, die mit einem Gesamtvolumen von 9,1 Milliarden Euro mehr als drei Viertel (75,1 %) der Umweltschutzinvestitionen getätigt haben. 

Die Essenz: Es wird zu wenig in den Umweltschutz, insbesondere in den Klimaschutz, investiert und von dem, was investiert wird, entfallen auch noch 75 Prozent aller Ausgaben auf die überwiegend öffentliche Ver- und Entsorgungswirtschaft, nicht auf das private produzierende Gewerbe.

Angesichts der Summen, an die man sich mittlerweile gewöhnt hat, insbesondere bei den Gewinnen von Großunternehmen, wirken schon die Gesamtinvestitionen ausgesprochen mickerig, umso beschämender das, was für den Umwelt- und Klimaschutz getan wird.

Offenbar verlassen sich die Unternehmen weitgehend auf Vorleistungen wie die Anlieferung sauberer Energie und auf das, was die Privathaushalte von Heizung und Strom bis zum Wandel hin zur E-Mobilität tun. Außerdem basieren die oben erwähnten Maßnahmen zur Effizienzsteigerung im Energiebereich in erster Linie auf dem Eigeninteresse der Unternehmen.

Wie weit sind wir inzwischen mit dem Wandel, der auf vielen Unternehmensdarstellungen vollmundig als Teil, ja als Kern des Mission Statements verkündet wird? Doch alles Greenwashing? Eines ist jedenfalls sicher: Freiwilligkeit ist das falsche Prinzip, es wird auf Regulierung inklusive massiver neuer Subventionen hinauslaufen, wenn sich vor 2030 noch Entscheidendes tun soll, denn die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie muss ja auch erhalten bleiben, darauf wird die Wirtschaft schon ein Auge haben.

TH

Briefing 32 vom 22.09.2022 (hier zu Nr. 31)

Liebe Leser:innen, gibt es Grund zur Sorge wegen des Ukraine-Kriegs, dass er hierzulande nicht nur wirtschaftliche Schäden anrichtet, sondern überspringt, sogar in Form eines Atomangriffs? Und bedeuten die gegenwärtigen Geländegewinne der ukrainischen Kämpfer die Wende im Krieg? Beide Themen gehören zusammen und wir haben zwei Umfragen für Sie, die sich damit befassen. Sie können mitmachen, wir werden unsere Meinung anhand der Begleittexte nachzeichnen. In einem Update lesen Sie außerdem, dass in den USA darüber nachgedacht wird, nun doch Kampfpanzer zu liefern.

Sorgen Sie sich, dass Russland im Ukraine-Krieg Atomwaffen einsetzen könnte?

Civey-Erklärungstext:

US-Präsident Joe Biden appellierte letzten Freitag an Russland, keine Chemiewaffen oder taktischen Nuklearwaffen im Russland-Ukraine-Krieg einzusetzen. In einem Fernsehinterview warnte er vor Folgen, die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wecken könnten. Zugleich warnte er vor einer harten Gegenreaktion der USA. Seit Kriegsbeginn hatte Russland wiederholt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht.

Die ukrainische Armee hat bei einer Gegenoffensive gegen die russischen Truppen gerade mehrere Gebiete im Osten des Landes zurückerobert. Der Berliner Zeitung zufolge hätten US-amerikanische Beamte davor gewarnt, dass Russland sich dadurch in eine Ecke gedrängt fühlen und drastische Gegenmaßnahmen ergreifen könnte. Aus dem Grund soll Biden auch die Bitte nach leistungsfähigeren Waffen an die Ukraine abgelehnt haben, so die New York Times.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte in der Vergangenheit seine Zögerlichkeit bei Waffenlieferungen auch damit begründet, dass Deutschland so eine Eskalation provozieren könnte. Im Spiegel teilte er daher im Frühjahr seine Sorge vor einem „Atomkrieg”. Derweil halten Militärexperten wie Carlo Masala laut Merkur einen Atomwaffeneinsatz nach wie vor für „sehr unwahrscheinlich” und auch „aus strategischen Gründen unvorstellbar”.

In seiner gestrigen Rede an die Nation hat Wladimir Putin nicht nur die Teilmobilmachung verkündet, sondern am Schluss auch behauptet, der Westen wolle Rusland atomar erpressen und man könne den Spieß auch umdrehen, sinngemäß wiedergegeben. Die Rede fanden wir so interessant, dass wir sie morgen für Sie detaillierter analysieren wollen, aber so viel ist klar: Der Westen hat Russland niemals mit dem Einsatz von Atomwaffen wegen des Ukrainekriegs gedroht. Die Erpressung könnte aus Putins Sicht in der Tat nur darin liegen, dass er anders nicht mehr weiterkommt, weil der Westen die Ukraine konventionell zu stark aufrüstet und glaubt, er sei unangreifbar, wegen seiner Atomwaffen.

UPDATE: Spekuliert wird in den USA über die Lieferung von Abrams-Panzern. Lieferfähig wären diese aber offenbar erst im kommenden Jahr. Und auch die Ausbildung daran sei durchaus kompliziert, sagte Gustav Gressel, Militärexperte des European Council on Foreign Relations, kürzlich dem Tagesspiegel. Allerdings haben die ukrainischen Truppen schon gezeigt, dass sie schnell an westlichem Gerät lernen.

Wir haben das mittenrein geschoben, weil es gerade vom Tagesspiegel gemeldet wurde und kommentiern diese mögliche neue Entwicklung noch nicht, obwohl sie einiges, was wir geschrieben haben, als überholt erscheinen ließe, wenn sie einträte.

In der Umfrage geht es auch nicht direkt darum, ob Atombomben auf Berlin fallen könnten, sondern darum, ob Putin zunächst in der Ukraine zu „taktischen Atomwaffen“ greifen könnte, also zu kleineren Sprengköpfen, die möglicherweise nur regionalen Schaden anrichten, der trotzdem erheblich wäre. Die Grausamkeit der russischen Kriegsführung ist nicht zu übersehen und zu zerstören, was man nicht haben kann, scheint angesichts dieses Vorgehens im Mindset der Kreml-Oberen inbegriffen zu sein. In der Tat wären taktische Atomwaffen eine denkbare nächste Stufe, um die Ukraine in die Knie zu zwingen. Es ist nämlich relativ unwahrscheinlich, dass der Westen darauf mit einem Atomschlag gegen Russland reagieren würde. Dazu müsste tatsächlich ein NATO-Land angegriffen werden und wir glauben nach wie vor nicht, dass Putin das wagen würde. 

Hinzu kommt etwas, was man auf den ersten Blick damit nicht in Verbindung bringt, was aber u. E. große Relevanz besitzt: China wendet sich derzeit vorsichtig von Russland ab und nimmt eine neutralere Haltung ein. Ohne Rückendeckung aus Peking kann Rusland aber aus wirtschaftlichen Gründen diesen Krieg nicht ewig durchhalten. Wir vermuten, dass Herr Xi dem Kremlchef klargemacht hat, dass die ständigen Drohungen mit Atomwaffen seitens Russlands, die auch in der Putin-Rede wieder gefallen sind, Drohungen bleiben müssen. 

Gleichwohl ist die Vorsicht von Kanzler Scholz richtig. Man muss sich nicht provokativ in die erste Reihe stellen, wenn es um die Eskalation geht. Schon gar nicht, wenn die US-Führung erkennen lässt, dass sie ebenfalls nicht jede Form von modernen Waffensystemen liefern will. Worin soll der Grund dafür liegen, dass Deutschland sich da mehr exponiert? Dass gewisse Scharfmacher:innen in Deutschland am liebsten dafür sorgen wollen, dass Putin sich ganz speziell die hiesige Politik herauspickt, um seine Propagandisten so richtig die russische Bevölkerung bekneten zu lassen – nun gut, das tut er sowieso schon, aber man kann die Lage  noch verschlimmern, indem man aus dem westlichen Gleichschritt ausschert. Wir tun das übrigens schon bei den Sanktionen. Kaum ein Land ist diesbezüglich konsequenter als Deutschland und die Folgen kennen wir bereits sehr gut.

Wir haben uns gestern mit der FDP befasst, bei der einige dieser Scharfmacher:innen angesiedelt sind.

Kaum zu glauben, im Moment, dass in Wirklichkeit die AfD und die FDP sehr viele Gemeinsamkeiten haben, wenn man sich wüste Talkshows mit MASZ (Marie-Agnes Strack-Zimmermann) und Alice Weidel anschaut. Aber bei diesem Einheizen in Sachen Krieg beachten Sie bitte die kleine blaue Grafik, die wir abgebildet haben. Diese Politiker:innen der FDP wären in der Lage, das Land tatsächlich in den Dritten Weltkrieg zu führen, wenn es ihren Lobbyinteressen dienlich wäre. Wie geschrieben, nicht sie wäre es, die dann keinen Platz im Atombunker finden würden, sondern wir, wie Mehrheit.

Wenn es schon so weit ist, dass wir uns eher auf die Seite einer Co-Vorsitzenden der AfD stellen, inhaltlich in diesem Fall natürlich, nicht allgemein, dann merkt man erst, wie verheerend das Treiben der FDP für diese Demokratie ist. Das kleine Schaubild erschien gestern auf Twitter, im Zusammenhang mit dem Hashtag #Kriegstreiberin.

MASZ ist eine der profiliersten Rüstungslobbyistinnen in Deutschland und genau durch diese Aufstellung werden ihre Position mitbestimmt. Dass sie gleichzeitig dem Verteidigungsausschuss des Bundestags vorsitzt, der eben nicht Vorwärtsstrategie-in-anderen-Ländern-Ausschuss heißt, ist im Grunde ein No-Go. Vor allem die Punkte 1 und 3 auf der Liste sagen sehr viel aus, wohingegen nicht alle Transatlantiker:innen sich so weit aus dem Fenster lehnen, in der gegenwärtigen Situation. Das tut, siehe oben, die US-Administration nämlich auch nicht. Sie handelt, summarisch gesehen, bisher konsequenter, bringt waffentechnisch mehr mögliche Gamechanger zum Einsatz, aber sie hat auch mehr Möglichkeiten. In Deutschland selbst heißt es, entweder die Bundeswehr über Gebühr schwächen oder neue Waffen bauen lassen. Letzteres würde dazu führen, dass die Auslieferung erst erfolgen könnte, wenn der Ukraine-Krieg hoffentlich lange vorbei sein wird. Wir zweifeln ein wenig daran, dass die Herstellung eines einzelnen Systems wirklich ca. zweieinhalb Jahre dauern würde aber so wird derzeit seitens der Bundesregierung argumentiert und man darf nicht vergessen, dass die deutsche Wirtschaft sich im Friedensmodus befindet. In der Tat dauert es zwischen Auftragserteilung bei Rüstungexporten bis zur Auslieferung länger, als wenn etwa ein neues Auto bestellt wird. Das gilt übrigens bisher auch für die russische Industrie.

Da offiziell gar kein Krieg herrscht, mobilisiert Wladimir Putin die wehrfähige Bevölkerung noch immer nicht vollständig und lässt auch noch keine Waffen in Betrieben herstellen, die bisher keine Rüstungsprodukte gefertigt haben. Auch hier gilt: Bis diese Maschinerie voll einsatzfähig wäre, inklusive Ersatz westlicher Technik, die gegenwärtig in russischen Waffen verbaut wird, würde es viel zu lange dauern, um den Ukrainekrieg damit rasch wieder wenden zu können. Das einzige Land, das die Kapazität hat, um jederzeit nachzuschieben, wenn in der Ukraine Waffen benötigt werden, sind und bleiben die USA mit ihren unzähligen Militärstützpunkten überall auf der Welt, von denen jeder etwas abgeben könnte, ohne dass die Sicherheit der NATO gefährdet wäre und die eine so große Rüstungsindustrie haben, dass man zerstörte Systeme aus der Ukraine mit Nachschub aus laufender Produktion ausgleichen könnte.

Beides zusammen könnte den Krieg jederzeit wenden, solange genug Soldaten da sind, die kämpfen und mit dem Material umgehen können. Aber Joe Biden ist, auch aus innenpolitischen Gründen vorsichtig. Daher, zum dritten Mal: Es ist lächerlich, dass ein derzeit so schwach aufgestelltes Land wie Deutschland den USA vormachen will oder soll, wie man in der Ukraine den maximalen Einsatz zeigt. Die Idee der Kriegstreiber:nnen dürfte wohl sein, dass man damit die hiesige Waffenindustrie auf einen Schlag zu zweitgrößten der Welt machen könnte, mindestens zur drittgrösten. China wäre nach Kapazität weiterhin die Nr. 2, exportiert aber anteilig weniger. So einfach ist es nicht, darf es nicht sein, wird es nicht sein. Oder wollen wir ernsthaft eine Umstellung auf Kriegswirtschaft, weil es ansonsten nicht sofort einsatzfähige neue Waffen geben kann? Das gab es zuletzt bei den Nazis, aber auch die USA setzten im Zweiten Weltkrieg fast ihre gesamte produzierende Industrie für die Herstellung von Rüstungsgütern ein. Falls man es doch schafft, sie zu erweitern, müssen die Kapazitäten natürlich auch genutzt werden, denn es sind ja wertvolle Arbeitsplätze entstanden, so das Kalkül der Neoliberalen. Wir weisen darau hin: Vor allem ist wieder prächtig Kapital mit dem Tod aus Deutschland akkumuliert worden, im Sinne der FDP-Klientel. Das ist eine ganz fiese Nummer, vor der wir nur warnen können.

Wir sind keine dezidierten Gegner deutscher Technikexporte und von sinnvollen Friedensprodukten, aber so nicht! Desweiteren wirft diese Haltung ein Schlaglicht auf das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr, das erstaunlich leicht an der Schuldenbremse von Herrn Finanzminister Lindner (FDP) vorbeigekommen ist. Nämlich, inden einfach eines dieser berüchtigten „Sondervermögen“, also ein Sonderschuldenberg gebildet wird, der die offizielle Staatsverschuldung nicht anhebt. Ein Taschenspielertrick, den sogar die Berliner Stadtregierung beherrscht. Der Kanzler muss vorsichtig sein, nicht nur in Sachen Ukraine-Exporte, sondern auch, vor wessen Karren er sich bezüglich der heimischen Rüstungsanstrengungen spannen lässt. Lobbyistenpflege von seiner Seite à la CumEx auch auf diesem Gebiet darf es nicht geben, sonst sind sicher nicht nur wir ganz schnell wieder bei der Scholz-Kritik, wohingegen wir ihn jetzt für seine besonnene Haltung loben.

Ach so: Wir haben oben mit „eher nein“ gestimmt. Etwas sagt uns, dass dieser Schritt nicht kommen wird. Putin ist noch nicht ganz durchgeknallt, glauben wir, vor allem aber nicht unabhängig. Wenn ihn zu Hause niemand bremst, wird es China tun, das sich gerne damit abfindet, dass Russland immer mehr von ihm abhängig wird, siehe neue Gaspipeline, die gerade beschlosen worden ist, aber aus wirtschaftlichen und geostrategischen Gründen keinen Atomkrieg sehen will, der nicht mehr kontrollierbar wäre. Wenn die chinesische Führung nämlich eines ganz sicher ist, dann eine Ansammlung von mächtigen Controlfreaks, die nichts dem Zufall überlassen möchte, auch nicht die Eskalation von Kriegen.

Außerdem hat China mittlerweile selbst ein anderes Land im Nacken, auf dessen wachsende geopolitische Ambitionen es achten muss: Den an Bevölkerung gleich großen Konkurrenten Indien. Russland alles durchgehen zu lassen, könnte bedeuten, dass Indien in der Position des „echten Neutralen“ wahrgenommen wird, dem sich viele Staaten annähern werden, denen die chinesische Unterstützung für einen Atomkriegstreiber zu weit gehen würde. Indien wird hierzulande häufig als furchtbar chaotisch wahrgenommen. Das ist es in Teilen auch und außerdem in hohem Maße eine Klassengesellschaft. Dennoch entwickelt sich seine Wirtschaft derzeit nach der chinesischen am schnellsten, möglicherweise bald schneller, und wird z. B. die deutsche Volkswirtschaft demnächst überholen. Von Russland hingegen wird das wohl niemals zu erwarten sein, auch wenn wir jetzt in eine Rezession steuern – und das sagt doch einiges über die tatsächlichen Schwächen des Systems Putin aus. Man hatte bisher nicht auf dem Schirm, dass diese Schwächen bei Innovation und Produktion auch die Armee betreffen, sondern ging davon aus, dass sie eine Sonderstellung einimmt, auch qualitativ. Da hat Putins Propaganda gut gewirkt, die immer mal wieder von neuen Wunderwaffen kündet. Kennen wir ja in Deutschland auch alles noch aus den schlechten alten Zeiten.

Und damit zur zweiten Umfrage:

Der Begleittext dazu

Die Ukraine hat weitere große Angriffe auf die von russischen Truppen besetzte Territorien des Landes angekündigt. Am Sonntag verkündete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, man habe sich intensiv auf die Offensive vorbereitet. Deren Ziel sei die Rückeroberung von Mariupol, Melitopol und Cherson sowie Gebiete im Osten des Landes und auf der seit 2014 von Russland annektierten Krim.

Die ukrainische Armee hat nach eigenen Angaben seit Anfang September rund 3.000 Quadratmeter zurückerobert. Darunter seien die Städte Isjum, Balaklija und Kupjansk. Zugleich mehren sich Berichte, dass Russland Schwierigkeiten habe, Soldaten zu rekrutieren. Dem ZDF nach soll die Söldnerfirma Wagner Häftlinge für sechs Monate an der Front mit der Freiheit belohnen. Wladimir Putin hat indes eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet, die laut rbb heute beginnen soll.

Der Ukraine-Experte Wilfried Jilge warnt indes vor übermäßigen Optimismus. Die Rückeroberung der östlichen Gebiete sei bedeutsam, von einem „Wendepunkt” würde er noch nicht sprechen, sagte er im Deutschlandfunk. Angesichts des bevorstehenden Winters und der möglichen Umgruppierung russischer Truppen sei die Versorgung der Ukraine mit Waffen aus dem Westen aber umso bedeutsamer für eine erfolgreiche Gegenoffensive.

In ihren Angaben, die Größe des Rückeroberungsgebiets betreffend, ist die Ukraine aber sehr vorsichtig, hierzulande machen Zahlen zwischen 6.000 und 9.000 Quadratkilometer die Runde, was trotzdem nicht einmal ein Zwanzigstel bzw. ein Fünfzehntel des von Russland eingenommenen Gebietes wäre. Wir haben „unentschieden“ gesagt, wie weitere 20 Prozent der Abstimmenden. Die Kohorten halten sich bei den einzelnen Antworten sehr die Waage, und das entpricht u. E. der Situation. Man kann es nicht wissen. Es ist ein Unterschied, ob man sich geostrategische Gedanken macht, und dies seit Jahren, oder ob man beurteilen will, wie die aktuelle Lage in der Ukraine sich tatsächlich darstellt. Die Propaganda von beiden Seiten und die einseitige Darstellung auch in westlichen Medien lassen jedenfalls Vorsicht angeraten sein, wenn es darum geht, zu behaupten, die Ukraine können mit ein paar westlichen Panzern nun ganz schnell den Sieg davontragen und dadurch würden Menschenleben geschont, wie die Bundesaußenministerium zuletzt behauptet hat. Wir sehen selbst anhand der neuen Entwicklung in den USA, die wir nachgeschoben haben, dass mit „schnell“ sowieso erst einmal nichts zu machen scheint. Vielleicht bei dem Potenzial dieses Landes ein Scheinargument, das die außenpolitischen Falken der USA etwas im Zaum halten soll, denn man könnte von den riesigen Beständen erst einmal etwas mehr abgeben, siehe oben. Auch wenn das Argument mblw. eingesetzt wird, um die Eskalation nicht zu rasch in die Wege zu leiten, sollte man es ernstnehmen. 

Wir haben in den letzten Tagen einiges zu diesem Thema gelesen, aber es reicht bei weitem nicht aus, um ein umfassendes Bild davon zu haben, wie die Lage in der Ukraine sich wikrlich darstellt. Das können übrigens auch Politiker:innen nicht beurteilen, die „vor Ort“ waren und dort nur das gesehen haben, was sie sehen sollten und nur das zu hören bekamen, was die ukrainische Seite ihnen erzählt hat. Am meisten Einblick trauen wir den Geheimdiensten zu, die ständige Beobachter der Lage sind und gute Quellen und technische Spähmöglichkeiten haben.

Was diese dann mit ihren Informationen anfangen und wie sie uns damit manipulieren möchten, ist wieder eine andere Sache. Dass zum Beispiel der fixe britische Auslandsgeheimdienst MI6 so viele Statements abgibt, muss nicht heißen, dass genau das gepostet wird, was man weiß, sondern ebenfalls das, was wir wissen sollen und was dazu dienen soll, die Ukraine bestmöglich zu unterstützen. Ein Grund, warum Russlands Propaganda wiederum die der Briten so stark im Visier hat: Sie sind eben auch gut, auf diesem Gebiet, und die Zielrichtung der Nachrichten wirkt auf maßvoll kritische Menschen im Westen vielleicht nicht ganz so envervierend, als wenn sie direkt von der „US-Elite“ angeboten würden. Wir bleiben vorsichtig, was die Einschätzung des Kriegsverlaufs in der Ukraine angeht, das haben wir mit unserem Abstimmungsverhalten ausgedrückt.

TH

 

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