„Wir lassen uns Weihnachten nicht vermiesen“: Inflation, Konsum, Kaufverhalten, Geschenke-Traditionen – Weihnachten kommerziell, Teil 2 | Briefing 68

Frontpage | Briefing | Die Konsequenzen der Wahlwiederholung in Berlin

Briefing 68 (hier zu 67)

Liebe Leser:innen, über den Weihnachtskonsum haben wir in diesem Jahr bereits berichtet, und zwar hier:

Was reinkommt und was ausgegeben wird: Weihnachten nähert sich, Teil 1 | Briefing 64 – DER WAHLBERLINER, über den gerade gelaufenen  Black Friday als Konsumevent hier: Black Friday trotz Klimakrise? (Umfrage) + Kommentar | Briefing 65 – DER WAHLBERLINER

Freilich konnten wir in einem Artikel nicht alle Aspekte betrachten und haben ihn daher von Beginn an als Teil 1 markiert, nun folgt also der zweite Teil. Wir befassen uns heute mit der grundsätzlichen Frage, wer konsumiert nun wie und wieviel an Weihnachten?

Infografik: So beeinflusst die Inflation das Weihnachtsfest | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Inflationsbedingte Preissteigerungen belasten die deutschen Haushalte schon seit Monaten spürbar, zum Weihnachtsfest wollen sich allerdings die wenigsten Bundesbürger:innen einschränken. Das zeigt eine Umfrage im Rahmen des Statista Global Consumer Surveys.

Demnach will rund die Hälfte der Befragten trotz der Teuerungen bei beispielsweise Energie und Lebensmitteln nicht darauf verzichten den Liebsten Geschenke zu kaufen. Knapp ein Viertel der Umfrageteilnehmer:innen bestätigte jedoch in diesem Jahr weniger Geld für die Festlichkeiten ausgeben zu wollen als in den Vorjahren. 23 Prozent wollen vor allem energiesparend agieren und verzichten deshalb auf Lichtdekorationen oder werden diese zumindest verringern.

Schon im Vorfeld der Weihnachtszeit haben 15 Prozent der Befragten ihre privaten Reisen limitiert, damit sie Weihnachten bei ihrer Familie verbringen können. Sich generell aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Ereignisse in Deutschland und weltweit einschränken, wollen der Umfrage zufolge allerdings nur 14 beziehungsweise 12 Prozent.

Wenn Sie genau wissen wollen, wie die Fragetechnik zustande kam, müssen Sie sich den Consumer Survey von Statista anschauen. Die Grafik und der ihr beigestellte Text lassen jedenfalls mehrere Interpretationen zu. Vor allem fehlt eine Angabe darüber, ob alle diejenigen, die als Menge „wir lassen uns das Fest nicht vermiesen“ interpretiert werden, nicht nur für ihre Liebsten etwas kaufen, sondern auch so viel ausgeben wollen wie in den Vorjahren. Es würde dazu passen, dass die Hälfte der Menschen gar nicht mehr sparen kann, dann wäre dies die andere, die freiwillig nicht spart. Aber wir glauben, so einfach ist es nicht. Aufschluss wird vermutlich schon die Auswertung der Black Week und des gerade laufenden Cyber Monday geben: Wenn an diesen Tagen die Ausgaben zurückgehen, ist zu erwarten, dass auch an Weihnachten auf die Bremse getreten wird. Zumal vielen Menschen gar nichts anderes übrig bleibt.  

„Ich muss mich darauf einrichten, dass bis zum 30.11. noch ein Stromhammer kommt. Ich habe gestern gesehen, dass mein Anbieter mir gerne knapp 150  Prozent Preiserhöhung als Sicherheit, also als freiwillige Vertragsanpassung bis Ende 2023 reindrücken will. Eine Mail dazu wurde mir nicht geschickt, dieser Vorschlag steht nur im Kundenportal, Datum 08.11.2022.  Aufgrund der Strompreisbremse wird es wohl nicht ganz so dicke kommen, aber es geht gar nicht anders: Vorsicht ist angesagt, auch beim Weihnachtskonsum.“ (Der Herausgeber des Wahlberliners)

Was wir sehr oft hören, dass Menschen schon jetzt Nachzahlungen anstatt Guthaben bei den Betriebskostenabrechnungen beklagen und der eigentliche Effekt kommt wohl erst 2023, wenn die schon 2021 eingegangenen  Preisbindungen abgelaufen sind, die einigen Kund:innen jetzt noch zugutekommen. Vor allem einkommensschwächere Haushalte sollten tatsächlich aufpassen mit dem Konsum, einen anderen Rat kann man gar nicht geben. Womit wir wieder bei der hochgradig unsozialen Politik wären, mit der diese Krise bewältigt werden soll. Die Mehrkosten werden von den kommenden Preisbremsen nicht annährend gecovert, während diejenigen, die viel verbrauchen und ein hohes Einkommen haben, davon summarisch am meisten profitieren. Gegen die enorm gestiegenen Lebensmittelpreise und ähnliche Entwicklungen bei anderen lebensnotwendigen Produkten gibt es gar keine Bremse. Deswegen müssen wir betonen: Was die Consumer-Survey-Grafiken zeigen, sind persönliche Angaben, die nicht auf gemessenen Werten basieren, im Fall der geplanten Weihnachtsausgaben Absichtserklärungen. Da wird auch etwas Trotz dabei sein, wenn es heißt, wir lassen uns Weihnachten nicht vermiesen. Die Realität wird manchen Menschen dann die Grenzen dieser Haltung aufzeigen, wenn sie nicht endlich durch einen politischen Widerstand begleitet werden, den man als nennenswert bezeichnen kann.

Damit das Ganze nicht so extrem trist wirkt, eine Grafik aus dem vergangenen Jahr, die wir hier noch nicht gezeigt haben. Für 50 Prozent der Beschenkten wird sich ja an dem, was Menschen damals angegeben haben, nichts zum Negativen ändern, wenn wir die obigen Angaben richtig interpretiert haben.

Infografik: So viele Präsente verschenken die Deutschen | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Auch beim diesjährigen Weihnachtsfest [gemeint ist 2021, Anm. TH] können sich die Deutschen auf reichlich Geschenke freuen. Etwa 31 Prozent der im Rahmen des Statista Global Consumer Surveys befragten Menschen werden 2021 ganze sechs bis zehn Präsente unter den Weihnachtsbaum legen. Bei rund 27 Prozent sind es immerhin vier bis fünf, 22 Prozent planen mit bis zu drei Geschenken. Die Liebsten von etwa einem Achtel der Umfrageteilnehmer:innen dürfen sich über mehr als zehn Geschenke freuen – ein Prozent der Befragten hat sogar angegeben über 30 Gaben zu verteilen.

Stellt sich nur noch eine Frage: Wann dürfen die mit Liebe verpackten Geschenke endlich geöffnet werden? In dieser Hinsicht gibt es weltweit verschiedene Traditionen. Während die Bescherung in Großbritannien am Morgen nach Heiligabend stattfindet, wird Weihnachten in Russland beispielsweise erst im Januar zelebriert – Grund ist der julianische Kalender.

In Deutschland hat sich die Mehrheit der Bevölkerung auf den 24. Dezember geeinigt, wie die Statista-Grafik zeigt. Die Frage, die die Deutschen spaltet, ist allerdings ob vor oder nach dem Abendessen. Für über die Hälfte der von Statista befragten Personen wird sich eindeutig erst nach dem Essen beschenkt, demgegenüber stehen 22 Prozent, die nicht so lange abwarten können. Etwa drei Prozent öffnen die Präsente erst um Mitternacht, für weitere drei Prozent gibt es keinen festen Zeitpunkt für die Bescherung.

„Für mich hab diese Grafik eine nostalgische Komponente. Als es noch das große Familienweihnachten gab, durften an Heiligabend natürlich auch die Geschenke ausgepackt werden. Und zwar vor dem Abendessen, insofern haben wir zu einer Minderheit gehört. Geschenke gab es gegen 18 Uhr, das festliche Essen gegen 19 bis 19:30 Uhr.“ (Der Herausgeber des Wahlberliners)

Sicher spricht etwas für und gegen beide Varianten, Ausnahmen sind alle anderen Zeitpunkte, wie man oben sehen kann. Was wir noch nicht sehen können: Wie viel dieses Jahr wirklich an Weihnachten ausgegeben werden wird. Vielleicht schlägt sogar der Effekt zu Buche, das man es noch einmal richtig krachen lässt, bevor endgültig das Portemonnaie leer ist. Über einen Fakt sollten wir uns dabei aber nicht täuschen. Die besonders konsumstarken Schichten, die nicht nur viel, sondern auch teuer kaufen und trotzdem weiter Reserven bilden können, sind von der gegenwärtigen Krise   noch relativ wenig betroffen und werden nach unseren Prognosen sich umso mehr herausheben wollen und dafür sorgen, dass die Umsätze nicht zu sehr einbrechen.

Infografik: Weihnachtsgeschenke: Online wird am meisten ausgegeben | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Einen Hinweis auf das, was kommt, gaben aber schon die Corona-Jahre 2020 und 2021: Die Umsätze im Weihnachtsgeschäft stiegen nicht mehr, sanken 2021 sogar leicht ab. Was uns die dritte Grafik des heutigen Beitrags ebenfalls zeigt: Worauf das Sterben der Kaufhäuser zurückzuführen ist. Auch hier hat Corona als Motor gewirkt: Nie nahm der Anteil des Online-Handels anteilig und summarisch so stark zu wie in den vergangenen beiden Weihnachtskaufsaisons. Wir denken an dieser Stelle an die Menschen, die um die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze im Kaufhof-Konzern kämpfen. Es ist nicht nur Missmanagement, es ist auch dieser Trend, der in den Innenstädten für immer heftigere Einschläge sorgt. Auch im Fachhandel schließen schon erste Ketten, die wir vor wenigen Jahren noch für unverzichtbar gehalten hatten, wie etwa der Elektronikanteile-Anbieter Conrad, der in unserer Ecke von Berlin zwei Filialen betrieben hatte. Selbstverständlich hatte der Corona-Delta-Winter 2021 eine erhebliche Rolle gespielt, vielleicht kommt es 2022 zu einer gewissen Erholung im Präsenzhandel. Doch vieles, was es einmal gab, wird nicht zurückkehren.

Vermutlich werden vor allem diejenigen überleben, die mit großem Eifer ihr Online-Geschäft ausbauen. Sicher ist aber auch das nicht, denn wir beobachten immer wieder, wie schwer diese Konversion zu sein scheint: Amazon ist fast immer günstiger und andere, reine Online-Händler schaffen es manchmal auch, Amazon zu toppen. Einer der Gründe: Sie haben nicht die Fixkosten an der Backe wie die früheren Ausschließlich-Präsenz-Händler und sind sehr flexibel im Einkauf.

Nachhaltig ist diese Entwicklung nicht und es ist erstaunlich, dass sie sich nicht sehr deutlich auf den Arbeitsmarkt auszuwirken scheint. Kommt das noch oder fahren alle nun Autos und Zweiräder für die Plattformökonomie und liefern Essen und Pakete aus, die vorher in Geschäften gearbeitet haben? Wenn die Zinsen weiter steigen und viele durch günstige Kredite derzeit noch über Wasser gehaltenen Unternehmen pleitegehen, werden wir sehen, wie sich die Innenstädte weiter verändern. In manchen Vierteln Berlins steht jetzt schon eine Geldwäscherei neben der anderen, das genaue Gegenteil einer lebendigen und fantasievollen Kleinhändler:innen-Struktur. Richtige Umsätze brauchen solche Läden bekanntlich nicht, um zu funktionieren. Alle blinkenden Weihnachtsdekorationen an Privatbalkonen können diese Verödung nicht ausgleichen. Im Gegenteil, bei einigen dieser Elemente wird man das Gefühl nicht los, diese Teile und ihre Verwender sind von häufigen Kurzschlüssen geplagt. Was waren das Zeiten, als das Einkaufen in prächtig dekorierten und mächtig gut gefüllten Konsumhallen selbst schon ein Teil des Festes war. Ein Konsumteil natürlich, aber es war auch ein Ritual, hatte manchmal sogar Stil und kann durch Online-Käufe nicht nachgebildet werden.

Jetzt ist nach einem Zwischenhoch auch dieser Artikel wieder ins Negative gedreht. Aber so ist das gegenwärtig, nach fast drei Jahren Corona und einem Jahr Ukraine-Krieg. Und es ist keine Besserung in Sicht. Da wir Weihnachten hier nur journalistisch betrachten und Kritik unser Panier ist, wenn es wirklich etwas zu kritisieren gibt, sind wir nicht verpflichtet, in Friede, Freude, Eierkuchen zu machen, wenn es keinen Frieden, kaum Freude und für viele Menschen viel zu wenig Eierkuchen gibt. Das Krasseste aber an alldem: Dass es sich dadurch beinahe verbietet, noch über den eigentlichen Sinn des Weihnachtsfestes nachzudenken. Der Konsum ist ja kein Gradmesser für das innere Wohlergeben oder für die richtige Einstellung zum Sinn des Lebens. Aber wenn nichts mehr geht, dann wird er zum Gradmesser für das ökonomische Desaster, in das immer mehr Menschen getrieben werden.

TH

Dies ist eine Fortsetzung der WM-2002-in-Katar-Berichterstattung Briefing 61  (hier zum letzten Briefing 66).

Liebe Leser:innen, die erste Woche der WM in Katar ist fast vorbei. Haben Sie zugeschaut und ist Ihr Leben nun zusammengebrochen? Hoffentlich nicht. Außerdem mussten Sie nicht miterleben, wie Deutschland sich gleich im ersten Spiel blamiert hat. Warum wir das für uns einen bitteren Beigeschmack, obwohl wir am Ergebnis nicht maximal interessiert sind, darüber unten mehr.

Im Übrigen werden die Favoriten ihrer Rolle weitgehend gerecht und Deutschland wird heute gegen einen dieser Favoriten ausscheiden – oder jedenfalls schon fast. Gemeint ist Spanien, das bei den Wettbüros auf Platz 3 gehandelt wurde, bevor die WM begann. Hinter den beiden südamerikanischen Giganten Brasilien und Argentinien. Deutschland hingegen kam nur auf Platz 6 und das spiegelt die Skepsis allgemein wieder, die auf rein sportlicher Ebene herrscht. Warum wir uns über das Mittwoch-Ergebnis (1:2 gegen Japan) trotzdem geärgert haben? Weil die Mund-zuhalten-Geste vor dem Anpfiff ja doch besser war als überhaupt nichts und wir einmal mehr den Eindruck hatten, dass deutsche Mannschaften gegen diese Art von Druck, der von außen kommt, nicht besonders gut gewappnet sind.

Man kann auch sagen, den Spielern und dem DFB mangelt es nicht a priori an gutem Willen, aber an Nerven. Der Verband ist bezüglich der „One-Love-Armbinde“ sogleich eingeknickt, als die FIFA nur ganz allgemein  mit Sanktionen gedroht hatte. Es gibt tatsächlich in den Statuten einen Passus, der vorschreibt, dass alle Ausrüstungsgegenstände von der FIFA gestellt oder abgesegnet werden müssen. Was der Verbsand und sein unmöglicher Präsident Gianni Infantino hätten tun wollen, ohne sich unsterblich zum Obst zu machen, darauf hätte man es ja mal ankommen lassen können. Aber es war mal wieder alles zu viel des Schlechten. Mit dieser inneren Auf- und Einstellung heute gegen Spanien zu bestehen, gegen das man schon ewig kein Pflichtspiel mehr gewonnen hat – wir werden sehen, ob das was werden kann. Wir erinnern uns noch zu gut an die bösen Erfahrungen aus den Jahren 2008 und 2010. Damals haben wir nämlich Fußball noch live verfolgt, sogar in Restaurants und Biergärten, draußen und in netter Begleitung. Schon diese Winter-WM ist ein Unding und symbolisiert, wie gefühlskalt das Fußballbusiness geworden ist. Wenn da jemand mal ein richtiges Zeichen setzt, dann ist es sicher das Richtige im Falschen.

Hier noch einmal der Ausgangspunkt des Desasters zum Nachlesen als Kommentar:

WM 2022: Der DFB hat sein Gesicht verloren | WEB.DE

Geradezu eklektisch empfinden wir deshalb eine aktuelle Civey-Umfrage, die sich damit befasst hat, dass Innenministerin Nancy Faeser auf der Tribüne doch die One-Love-Armbinde getragen hat. Ob sie in Gefahr war, festgenommen und eingekerkert zu werden? Genießen Politiker:innen auf Reisen eigentlich diplomatische Immunität?

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie das Tragen der „One Love“-Armbinde von Bundesinnenministerin Nancy Faeser beim Spiel der Deutschen Nationalmannschaft gegen Japan bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar? – Civey

Der Begleittext dazu:

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) trug bei der Fußball-WM in Katar die „One Love“-Armbinde, um ein Zeichen zu setzen. Ursprünglich wollten die sieben Kapitäne der WM-Teilnehmermannschaften, die “One Love”-Binde als Zeichen für Vielfalt, Toleranz und Offenheit tragen. Der Weltfußballverband FIFA hatte das den Spielern jedoch verboten und drohte mit Strafen. DFB-Kapitän Manuel Neuer trug stattdessen eine von der FIFA gestellte Armbinde mit dem Schriftzug „No Discrimination“. Als Zeichen des Protestes gegen die restriktive Politik des Weltfußballverbands hielten sich die deutschen Spieler beim Mannschaftsfoto den Mund zu.

Faeser reiste nach Katar, um die deutsche Mannschaft zu unterstützen und um Menschenrechte weiter zu thematisieren. Sie hält es für einen „großen Fehler“, dass die Fifa nicht möchte, dass sich Spieler offen für Toleranz und gegen Diskriminierung einsetzen. „Jedes Kind lernt in der F-Jugend, dass Fußball nur mit Fair Play und Vielfalt funktioniert. Wenn internationale Sportfunktionäre und die FIFA das wegzensieren – auf dem Rücken der Spieler – dann machen sie den Fußball kaputt“, mahnte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne).

Katar stand zuvor bereits wegen Missachtung der Menschenrechte in der Kritik. Offenbar befürchtete die FIFA, dass die Binde im Gastgeberland als unfreundlicher Akt empfunden werden könnte. Sie führt Artikel 13.8.1 der Ausrüstungsregeln an, nach welchem der Kapitän jeder Mannschaft für Final-Wettbewerbe eine von der FIFA gestellte Armbinde tragen müsse. Zudem verweisen sie auf den Regelparagrafen für „verbotene“ politische Botschaften. DFB-Chef Fritz Keller entgegnet, dass „One Love keine politische, sondern eine Menschenrechts-Aussage“ sei.

Wir dachten, Fritz Keller sei längst durch den Herrn Neuendorf ersetzt worden, aber wir wollen uns nicht an Kleinigkeiten aufhalten. Im Grunde ist auch das, was oben beschrieben wird, eine Petitesse, im Vergleich zu einigen Tatbeständen, über die wir bereits berichtet haben:

Unweigerlich kam hingegen die Frage auf, wie es wirkt, wenn diejenigen, die überhaupt noch so etwas wie ein Zeichen setzen, sportlich nichts reißen. Fußball ist überwiegend eine Sportart, die bis zum Exzess in den Ländern gelebt wird, die noch eine klassische Macho-Kultur haben und so kam es, dass zum Beispiel jene Fifa, die die One-Love-Binde verboten hat, gegen Fans aus einem jener Länder ermittelt, die während eines Spiels homophobe Gesänge von sich gegeben haben. Wie schräg das wirkt, müssen wir nur knapp erläutern. Mit ihrer Ablehnung eines Zeichens für Diversität fordert die Fifa das Freidrehen solcher Menschen geradezu heraus. Nicht so einfach ist es mit einem anderen Spin: Die Welt ist zu Gast in Katar, die Fußballwelt jedenfalls. Hat man da nicht die Gebräuche des Gastgeberlandes zu respektieren? Vielleicht. Aber genau deshalb hätte die WM nicht in Katar stattfinden dürfen, denn nicht jeder Gebrauch ist menschenrechtlich tolerabel. Wie jemand im eigenen Land mit Menschen verfährt, daran können wir von außen nicht viel ändern, aber diesem Land eine solche Schaubühne zu bieten? Andere Staaten werden für Menschenrechtsverletzungen sanktioniert, Katar mit einer Winter-WM belohnt. Mit anderen Staaten meinen wir solche, die nicht so wichtig sind. China zum Beispiel gehört nicht zu den Sanktionierbaren, weil wichtig fürs Business. Wie die kürzliche Reise von Kanzler Scholz bewies. Er war der erste westliche Staatschef, der zu Herrn Xi reiste, nach dem jüngsten Parteitag der KPCh der weitere Weichen in Richtung weg von jeder Demokratie gestellt hat.

Und wie mit Katar?

Civey-Umfrage: Wie würden Sie es bewerten, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz zur Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar reisen würde? – Civey

Am heutigen Sonntag startet die Fußball-Weltmeisterschaft mit dem Spiel der katarischen Gastgeber gegen Ecuador. Am Mittwoch wird die deutsche Mannschaft ihr erstes Spiel gegen Japan absolvieren. Unklar ist bisher, ob deutsche Politikerinnen oder Politiker das Team anfeuern werden. Die Mehrzahl der Mitglieder der Bundesregierung hat einen Besuch vor Ort laut Spiegel bereits ausgeschlossen. Bundeskanzler Olaf Scholz und Nancy Faeser, die als Innenministerin auch für Sport zuständig ist, haben sich dagegen noch nicht festgelegt.

Die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) will aufgrund der Menschenrechtslage nicht nach Katar reisen. Arbeitsmigranten im Emirat leben häufig unter menschenrechtswidrigen Bedingungen, beim Bau von Fußballstadien sind mehrere Tausend von ihnen gestorben. Unter massiven Menschenrechtsverletzungen leiden zudem Homosexuelle, die strafrechtlich verfolgt werden können, wenn sie ihre Sexualität öffentlich zeigen. Die Frauenrechte werden laut Human Rights Watch durch das diskriminierende System der männlichen Vormundschaft stark eingeschränkt.

Der sportpolitische Sprecher der CDU, Stephan Mayer, sprach sich für einen Besuch von Faeser in Katar aus. „Wir sollten dem Turnier und auch dem Veranstalter jetzt eine faire Chance geben”, sagte er in der t-online. Der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) hat zwar Verständnis für die Debatten, hält die Kritik aus Deutschland aber für maßlos und daher „inakzeptabel“. Im Spiegel sagte er: „Unsere Teilnahme dort hat etwas mit Respekt vor diesem Teil der Welt zu tun.”

Die Zeit schreitet unaufhörlich voran. Wie wir wissen, war Nancy Faeser nun in Katar und trug die bewusste Binde. 65 Prozent der Abstimmenden sind dagegen, dass Scholz nach Katar reist, darunter auch wir. Man kann sehr wohl dadurch, dass man nur die „zweite Reihe“ schickt, ausdrücken, dass der Respekt Grenzen hat, ohne jeden formalen Anstand vermissen zu lassen. Gabriel kann ja auch gerne einen Abstecher dorthin machen, aber bitte privat, nicht von den Steuerzahler:innen finanziert. Er steht ohnehin für jenen Teil und für jene geschichtliche Phase der SPD, in der die ethischen Maßstäbe in der dicken Pragmatismus-Suppe ertränkt und Millionen von Menschen in diesem Land absichtlich in die Armut geschickt wurden. Von ebenjener SPD.  Nein, wir fangen auch nicht mit Nord Stream 2 an, zu dessen Connection auch Gabriel gehört, das ist eine andere Suppe und man soll nicht alles zu einem Eintopf machen, der noch ungenießbarer ist als seine einzelnen Bestandteile.

Wird die WM in Katar hingegen ein kommerzieller Erfolg werden? Wenn wir die europäische Brille mal abnehmen: so abwegig ist das gar nicht. Sportliche und auch quoten- und zuschauermäßige Trends sind hier auf aktuellem Stand zusammengefasst. Nun ja, nicht mehr ganz aktuell, Costa Rica hat ja seinerseits Japan geschlagen. Überraschung schlägt Überraschung und so haben die Deutschen tatsächlich noch etwas eine Chance, wenn sie gegen Spanien mindestens ein Unentschieden rausholen. Oh je, das wird schwer.

WM-Bilanz nach einer Woche: Das sind die fünf Trends nach 24 Spielen – FOCUS online

Die Diversitätsdebatte hingegen ist in der Tat sehr europäisch und wird allerhöchstens noch in Nordamerika auf ähnliche Weise geführt, während man in ganz vielen anderen Ländern einfach nur Spaß haben will am Spiel. Deshalb sind auch Aktionen vor Ort problematisch. Siehe oben, wenn es sportlich nicht läuft, macht man sich gleich doppelt lächerlich und das Weltbild hat die Protestaktion der Deutschen vor dem Spiel nicht einmal gezeigt, es war nur im hiesigen Fernsehen zu beobachten. Deswegen kann man tatsächlich nicht alles den Spielern überlassen und sie als Feiglinge beschimpfen, wenn sie nicht vor lauter Protest und Angst und Druck nicht mehr hinter den Ball kommen oder  zu einem guten Abschluss. Die Verbände müssen die Spieler schützen. Am besten dadurch, dass sie es gar nicht erst zu einer WM in einem Land wie Katar kommen lassen. Lassen wir diesen Satz noch einmal wirken.

Ebenso viel Einfluss wie die UEFA hat der südamerikanische Verband CONMEBOL, der ganz andere Prioritäten setzt und die anderen schließen sich dann einem dieser beiden Hauptakteure an. Sollte also die UEFA eine WM in einem Land wie Katar in toto fernbleiben, damit die nationalen Verbände entlasten und auch gleich aus der FIFA austreten? Demokratisch wäre das nicht. Aber eine WM ohne die europäischen Spitzenmannschaften, die seit 2006 alle Weltmeisterschaften gewonnen haben, will wohl auch niemand. Man sollte es versuchen. Man sollte dort, wo immer es möglich ist, versuchen, ethische Standards zu liften und die Sensibilität der Menschen dafür zu steigern. Weltweit.

Ohne eine breitere und nach vorne gerichtete Diskussion darüber werden auch andere Aufgaben, wie die Bewältigung  des Klimawandels, kaum gelingen. Der gesamte Kommerz wird sich die Haare raufen. Das wird er in den nächsten Jahren aber sowieso tun, denn protektionistische Strömungen nehmen in vielen Ländern zu. Warum also nicht auch mal Verzicht für eine gute Sache? Ja, es ist derzeit schon so viel von Verzicht die Rede, aber mit Fußball gute Politik machen, wo er doch eh schon so politisch geworden ist, das ist doch leicht, im Vergleich zum frieren müssen und nicht mehr duschen dürfen, oder?

TH

Briefing 66 (hier zu 65)

Sie haben sicher schon gehört, dass in Berlin eine Wahl wiederholt werden muss. Es wird Ihnen zu Ohren gekommen sein, auch wenn Sie nicht in dieser Stadt leben. Wir leben aber hier und können Ihnen deshalb vorab schreiben: Es musste mal so etwas kommen. Es musste einmal zu einem bisher einmaligen Vorgang dieser Art in der Geschichte der Bundesrepublik kommen und es ist vollkommen logisch, dass das gerade hier passiert.

Wer über Jahre miterlebt, wie hier Politik und Verwaltung nicht funktionieren, es sei denn, es handelt sich um Eingriffsverwaltung, mit der Bürger:innen schikaniert werden, wer das BER-Drama verfolgt hat und sich an Listen wie „die größten 10 Berliner Fails“ erinnert, erstellt von der hiesigen Morgenpost, der weiß Bescheid. Man muss nicht mit der MoPo politisch übereinstimmen, um bei dieser Fail-Liste zu nicken. Als sie herauskam, war wohl gerade Winter, jedenfalls hat die S-Bahn nicht funktioniert. Jetzt soll sie zerschlagen und auf unzählige kleine private Anbieter zerstückelt werden, damit sie noch schlechter funktioniert. Bisher konnte man wenigstens die DB verantwortlich machen, und die ist, genau genommen, kein Berliner Betrieb, auch wenn die Verantwortung für den hiesigen Fahrbetrieb natürlich vor Ort liegt.

Was wir sehen, geht aber über Berlin hinaus: Überall zeigen sich Mängel an der Infrastruktur, und damit sind nicht nur Straßen, Brücken, das Internet usw. gemeint. Man kann dazu stehen, wie man will, aber ein Land, das berühmt oder berüchtigt war für seine ausgefuchste Verwaltung und seine monströse, aber dazu damals bis zu einem gewissen Grad notwendige Bürokratie, hat abgeschenkt. Die Bürokratie gibt es noch, aber die Effizienz ist futsch. Das ist das Ergebnis einer speziellen Berliner Schludrigkeit, ganz sicher. Aber sie paart sich längst auf ungute Weise mit der allgemeinen Kaputtspareritis, die auch woanders in diesem Land für immer mehr Funktionsmängel sorgt.

Aber Berlin ist dabei besonders weit vorangeschritten und weil sich diese beiden Aspekte zu einem Big Fail vereinen, ist es hier passiert, dass eine Wahl komplett wiederholt werden muss. Ein drittes Problem darf man nicht außer Acht lassen, denn es trägt einen Namen. Den des Innensenators, dessen Behörde für die Durchführung der Wahlen verantwortlich ist. Offenbar war er zu sehr damit beschäftigt, das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ so lange wie möglich zu blockieren, als dass er auch noch eine Wahldurchführung nach den üblichen Maßstäben  hinbekommen hätte. Diese Kombination aus Chuzpe, Unfähigkeit und Unwillen stößt uns besonders auf. Politische Haltungen verbinden sich mit Inkompetenz und man hat das Gefühl, man geht in dieser Stadt auf schwankendem Grund. Man weiß nie, was als Nächstes wieder Gruseliges passiert. Verlässlichkeit ist ein Fremdwort geworden. Man kann politisch anderer Meinung sein, man kann sich  heftig streiten, aber der Politikbetrieb in Berlin zerstört das Vertrauen in die Demokratie. Deswegen kann es auch  nur hier passieren, so das Gefühl, dass eine Doktorschummlerin wie Franziska Giffey, wie der Innensenator von der SPD, uns als Bürgermeisterin reingedrückt wird. Klar, man hätte sie nicht wählen müssen, wir haben das nicht getan. Ganz viele haben das nicht getan, aber ein paar populistische Ansagen zugunsten des konservativen Teils des SPD-Klientels haben ausgereicht, dass sie es noch geschafft hat, mit dem schlechtesten Ergebnis ever für die SPD in Berlin noch knapp vor den Grünen und der CDU einzulaufen. In jener berüchtigen Wahl vom 26. September.

Die nun wiederholt werden muss. Es handelt sich nicht um die Bundestagswahl, die am selben Tag stattfand, sondern bisher nur um die zum Abgeordnetenhaus. Die Bundestagswahl muss möglicherweise in Teilen wiederholt werden, aber im Moment sieht es aus, als ob nur die AGH-Wahl erneut auf alle von uns Wahlberechtigten in Berlin zukommt.

Das Wort Wiederholungswahl trügt dabei leider. Denn eine Wahl lässt sich nicht wiederholen in der Form, dass nur Mängel abgestellt werden und dadurch ein solides und demokratiegerechtes Ergebnis herauskommt. Denn der Zeitpunkt ist nun einmal ein anderer, inzwischen ist viel passiert. Was alles passiert ist, kann die derzeitige rot-grün-rote Stadtregierung den Kopf bzw. das Regieren kosten. Während der Wahlperiode von 2017 bis 2021, die erste, damals Rot-Rot-Grün, hatte diese Koalition in Umfragen immer eine Mehrheit, meist sogar eine sehr solide. Das war nach der Wahl von 2021 bereits mehrmals anders und je nach Stimmungslage kann das zu einem Regierungswechsel nach der Eben-nicht-Wiederholungswahl im Februar führen. Selbst schuld, SPD, könnte man sagen.

Aber was, wenn die SPD gar nicht so unfroh darüber wäre? Franziska Giffey gilt nicht gerade als Fan einer Mitte-Links-Regierung, sie könnte genauso mit der CDU und der FDP regieren, dann hätten wir den sogenannten Deutschland-Salat, den hier in der Innenstadt kaum jemand will. Eines allerdings müsste dafür gewährleistet sein. Dass die SPD wieder stärkste Partei wird. Vor allem vor der CDU. Das ist aktuell alles andere als sicher. Und von der anderen Seite sind es die Grünen, die durchaus an der SPD vorbeiziehen könnten. Wir hatten schon bei der letzten Wahl Innenstadtgebiete, in denen die Grünen bei über 50 Prozent lagen und sie stehen wegen der typischen Berlin-Fails derzeit nicht so im Kreuzfeuer wie die SPD.

Aber was, wenn die Linke weiterhin in der Gunst der Wähler:innen absackt und es zu einer Ampelkoalition in Berlin kommt oder gar zur Schwarz-Rot-Grün, mit Rot ist die SPD gemeint? Die Berliner Grünen-Wählerinnen sind eine Spur mehr links als im Bundesdurchschnitt und würden mehrheitlich eine solche Koalition nicht bevorzugen, wie die starken Werte auch der Linken in der Innenstadt zeigen. Im Gegenteil, viele träumen hier von einer Zweierkoalition aus Linken und Grünen oder umgekehrt. Auch wir würden dies unter allen halbwegs realistischen Möglichkeiten bevorzugen, aber es wird anders kommen, das scheint uns sicher. Was die Grünen vielleicht gewinnen, wird die Linke wohl verlieren.

„Die Berliner Linke-Vorsitzende Katina Schubert hat die Entscheidung des Verfassungsgerichtes zur Wahlwiederholung als «krasses Urteil» bezeichnet. (…) Schubert machte deutlich, dass ihre Partei nach der erneuten Abgeordnetenhauswahl die Koalition mit SPD und Grünen gerne fortsetzen wolle. Soziale Politik werde es nur mit der Linken geben. «Wir machen den Unterschied zur Ampel.»“

Abgeordnetenhauswahl: Berliner Linke-Vorsitzende Schubert: „Krasses Urteil“ | ZEIT ONLINE

Die Sozialverwaltung gehört derzeit in der Tat zu den besseren in Berlin und arbeitet unter der Linken Katja Kipping, der früheren Parteivorsitzenden, geradezu verdächtig geräuschlos, trotz der großen Herausforderungen durch die erneute Geflüchteten-Krise; dieses Mal ausgelöst durch den Ukrainekrieg. Kipping gilt als durchsetzungsfähig und als Macherin und innerhalb der Partei als Gegenpol von Sahra Wagenknecht. Aber die Linke hatte sich als einzige Partei voll hinter das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ gestellt und die SPD versucht, diese mit großer Mehrheit von den Berliner:innen gewünschte Veränderung am Wohnungsmarkt in einer Kommission totzureden. Die Enttäuschung darüber wird die Linke möglicherweise mehr treffen als die SPD.

Jene SPD wird mit Glück ihr mieses Ergebnis von 2021 wiederholen und nicht weiter absacken. Alles andere wäre eine große Überraschung. Die Grünen werden trotz ihrer indifferenten Haltung in dieser damals wichtigen Sache davon kaum betroffen sein. Ihr Klientel setzt gerade jetzt vermutlich andere Prioritäten. Mit viel Glück kann die jetzige Koalition also weitermachen, vielleicht dieses Mal mit der Grünen Bettina Jarrasch als Regierender Bürgermeisterin. Es sah im Sommer vor der 2021er Wahl ebenfalls danach aus, aber dann drehte sich der Trend auch im Bund etwas gegen die Grünen und die SPD legte sowohl dort wie auch in Berlin noch zu, ohne dass man von einem kraftvollen Endspurt reden könnte.

Bisher haben wir nichts davon gehört, ob auch der Volksentscheid wiederholt werden muss. Aber auch hier findet sich etwas, sogar etwas Offizielles – in Verbindung mit dem nun feststehenden Wahltermin 12.02.2023:

Wiederholungswahl am 12. Februar 2023 – Volksentscheid könnte Wahlwiederholung gefährden  Wiederholungswahl am 12. Februar 2023 – Volksentscheid könnte Wahlwiederholung gefährden – Berlin.de

Pressemitteilung vom 22.11.2022

Landeswahlleiter Professor Dr. Stephan Bröchler weist darauf hin, dass bereits die kurze Vorbereitungszeit für die Wiederholungswahl von 90 Tagen eine Herkulesaufgabe ist. „Ein zusätzlicher Volksentscheid stellt uns vor eine kaum lösbare Aufgabe – allein mit Blick auf die erforderlichen politischen Entscheidungen und die logistischen Prozesse.

Nur ein Beispiel: Die Unterlagen zum Volksentscheid müssten gemeinsam mit den Briefwahlunterlagen bereits ab dem 2. Januar 2023 verschickt werden. Ich sehe es als meine Pflicht an, als Landeswahlleiter darauf hinzuweisen, dass die Verbundwahl aus Abgeordnetenhauswahl, BVV Wahlen und Volksentscheid, die gelingende Durchführung der Wiederholungswahl infrage stellt. Ich erhalte aus den Berliner Bezirken die deutliche Rückmeldung, dass die reibungslose Durchführung der Wiederholungswahl durch einen gleichzeitig stattfindenden Volksentscheid ernsthaft gefährdet ist.“

Aber kann man den Volksentscheid bestehen lassen, wie er ist, aber die AGH-Wahl wiederholen? Und wie würde sich eine erneute Durchführung des VE unter der Ägide einer Situation auswirken, die a.) andere Prioritäten zu erfordern scheint, in der b.) die SPD suggeriert, sie könnte mit der Immobilienlobby wirklich etwas für die Mieter:innen tun, ohne dass die Pfründe der privaten Großwohnungsunternehmen angetastet werden, was bisher schon nie funktioniert hat, wenn es darauf ankam. Wir wollen hier nicht davon ausgehen, dass das Wahlchaos vom 26. September zu allem Übel auch noch provoziert worden ist, um zu einem anderen Zeitpunkt den Volksentscheid mit anderem Ergebnis wiederholen zu können. Die meisten, die damals für die Enteignung gestimmt haben, werden das hoffentlich noch einmal tun, denn prinzipiell hat sich gar nichts verändert. Außer, dass die Mietenden nun auch noch durch hohe Energiepreise in die Enge getrieben werden.

Linke will für mehr Gemeinwohl und Solidarität eintreten – Berliner Morgenpost

„Aus Sicht der Berliner Linke bietet die Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus für die Menschen in der Hauptstadt die Chance darüber zu entscheiden, was für sie in der Krise zählt. „In der jetzigen Situation übernehmen wir weiter unsere Verantwortung, die Menschen in unserer Stadt sicher und warm durch die kommenden Monate zu bringen“, sagte Linke-Landesvorsitzende Katina Schubert am Mittwoch nach der Urteilsverkündung des Berliner Verfassungsgerichtshofs.“

Daran sieht man schon, was in der Tat jetzt gerade zählen könnte und wenn es nicht so richtig gelingt, die Menschen hier vor erheblichen Problemen zu bewahren, dann kann das der Linke sogar besonders auf die Füße fallen. Und stellt sie sich am 12. Februar noch einmal hinter das Volksbegehren, das zum Volksentscheid werden soll? Was wir aus der Partei gehört haben, war auch, dass diese organisatorische Aufgabe bei der letzten Wahl verhindert haben soll, dass eigene Akzente gesetzt werden konnten. Die Meinung, die wir hier wiedergeben, kommt aus dem eher bewegungsfeindlichen Teil der Linken, aber auch dieser hat sich nach dem, was wir mitgekommen haben, ziemlich reingehängt, um DWenteignen zu unterstützen. Lässt sich das in einem möglicherweise eisigen Winterwahlkampf wiederholen, mit Leuten, die anderes zu tun haben, als sich an Infoständen warmzuzittern? Mit einer Partei, die mitten in einer Zerreißprobe steht und in der sich tiefe Gräben zeigen, die teilweise auch entlang der Grenzen der Berliner Bezirke verlaufen?

Nun wollen wir noch etwas für Spezialisten besprechen. VerfGH Berlin: War diese Wahl wirklich nicht zu retten? (lto.de). Wie denken also Jurist:innen über diese Angelegenheit? Ein starkes Minderheitsvotum beim Entscheid des Berliner Verfassungsgerichtshofs lässt aufhorchen. Es argumentiert nicht ohne nachvollziehbare Gründe, dass man mit der kompletten Wiederholung der AGH-Wahl übers Ziel hinausgeschossen ist. Vor allem wird die Diskrepanz bei der Handhabung auffällig werden, falls das für die gleichzeitige Bundestagswahl nicht gelten sollte und man für den Bundestag  nur in den sogenannten Problem-Wahllokalen nachwählen lassen wird. Es wären etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Wahlberechtigten, die davon betroffen wären und in der Tat alles, wofür sie schon am 26. September 2021 eine Stimme abzugeben hatten (oder zwei) noch einmal ankreuzen dürften. Wenn dann sehr viele ihr Kreuz anders setzen, ist das nun ein Schaden für die Demokratie oder ein Vorteil?

Womit wir beim finalen Aspekt wären: Was ist besser für die Demokratie? Eine verkorkste Wahl komplett zu wiederholen, mit der Gefahr, dass das Ergebnis durch die Weiterentwicklung der Geschichte komplett anders ausfällt als damals? Es hat ja einen Grund, dass nur alle vier oder fünf Jahre neue Parlamente gewählt werden. Der Grund ist, dass die Regierungen, die aus diesen Wahlen hervorgehen, einen angemessen Zeitraum zur Verfügung haben sollen, um ihre Sache gut zu machen oder eben nicht, sodass sie man sie abwählt, jedenfalls ca. 1.500 oder mehr als 1.800 Tage arbeiten dürfen, bis über ihre Arbeit entschieden wird, und dass nicht kurzfristige Einflüsse alles auf den Kopf stellen. Dieses Prinzip der repräsentativen Demokratie mit ruhiger Hand wird durch die Wiederholungswahl, die zudem in einer Sondersituation, einer Krisenlage stattfindet, ausgehebelt.

Das Gegenargument: Die Wahl vom 26. September war ebenfalls verfälscht, durch ebenjene zahlreichen Pannen. Nur ein Beispiel. Wir haben uns die Bezirke in unserer Gegend kürzlich bezüglich ihres Wahlverhaltens angeschaut. Dabei waren wir sehr erstaunt und auch erfreut, dass wir hier eine Wahlbeteiligung von über 96 Prozent hatten. Wirklich alle, die man irgendwie hat ins Wahllokal schaffen können, waren wirklich dabei, als zur größten Berlinwahl aller Zeiten aufgerufen wurde, gemessen an der Zahl der Stimmen, die man abgeben konnte. Dann schauten wir uns einige Nachbar-Wahlkieze an und uns ging die Kinnlade runter, volkstümlich geschrieben. Da gab es tatsächlich einen Wahlkiez mit 103 Prozent Wahlbeteiligung. Und, als wenn das nicht genug gewesen wäre, die Nachbarn dieses Kiezes wollten das unbedingt toppen und beteiligten sich zu 109 Prozent an der Wahl. Da können wir hier trotz aller Anstrengungen nicht mithalten und welch ein schlechtes Bild von einer lebendigen Demokratie geben erst Gegenden in Kreuzberg ab, die eigentlich als sehr politisch gelten und trotzdem nur auf 60-70 Prozent Wahlbeteiligung kamen?

Kurz geschrieben: Kann man Wahlen mit so offensichtlichen Fehlern wie dieser 109-Prozent-Beteiligung wirklich bestehen lassen?

Wir fanden es gar nicht so einfach, der einen oder der anderen Meinung zu folgen. Letztlich tendieren wir aber für die Wiederholung. Wenn die Zeiten sich geändert haben und das denen, welche die Pannen verschuldet haben, auf den Kopf fällt – dann ist es deren Schuld und geht mit ihnen in Form eines schwachen Ergebnisses bei der Wiederholungswahl heim. Der Witz wäre, wenn die Verursacher des Chaos vom 26. September,, die hauptsächlich in der SPD anzutreffen sind, sogar zulegen würden auf Kosten ihrer Koalitionspartner oder wenn wir dadurch eine rechte Stadtregierung bekämen. Das wäre äußerst bitter und ungerecht. Wie immer man nun optiert, die Demokratie hat bei dieser Sache schon verloren und anstatt, dass dringende Probleme ganz im Vordergrund stehen, werden Parteien und Bürger:innen jetzt auch noch in einen Wahlkampfwinter hineingezwungen. Gefühlt verursacht das noch mehr Kälte. Besonders, wenn man an die Gefahr denkt, dass die jetzige Stadtregierung, so unvollkommen sie auch ist, von einer Rechtskoalition abgelöst werden könnte. Es geht nur noch darum, den Vertrauensschaden so gering wie möglich zu halten und nicht zu sehr zu frieren, in Berlin.

TH  

Briefing 65 (hier zu 64)

Noch während wir unser Briefing 64 zu den Gehaltsboni und zu Weihnachten als Konsumfest geschrieben und dabei erst einmal Teilbereiche gestreift haben, hat Civey eine Umfrage aufgesetzt, die uns den nahtlosen Übergang zum Briefing 65 ermöglicht:

Civey-Umfrage: Sollte der Einzelhandel Ihrer Meinung nach trotz Klimakrise „Black Friday“-Rabatte anbieten, um den Konsum anzukurbeln? – Civey

Auch zum Black Friday und der Black Week hatten wir uns im Rahmen des BR0064 geäußert, wenn auch am Rande. Was meinen Sie? Vielleicht lesen Sie erst einmal den Begleittext von Civey, den Sie nur zu sehen bekommen, wenn Sie den Newsletter abonniert haben oder eben bei uns:

Heute lädt der Black Friday wie jedes Jahr am vierten Freitag im November durch besondere Angebote zum Shoppen ein. Unzählige Händler und Online-Shops überbieten sich gegenseitig mit Rabatten und Sonderangeboten. Der Handelsverband Deutschland (HDE) rechnet in diesem Jahr mit einem Umsatz von 5,7 Milliarden Euro. Das entspräche einem Umsatzwachstum von 22 Prozent im Vergleich zum letzten Jahr. Die Boston Consulting Group erwartet hingegen 15 Prozent weniger Umsatz.

Viele Verbraucher freuen sich auf die Schnäppchenjagd. Gerade zu Zeiten einer Inflation von über 10 Prozent wollen viele Menschen die Angebote des Black Fridays nutzen. Mehr als die Hälfte aller Deutschen müssen laut Handelsblatt bereits ihre Ersparnisse für Dinge des täglichen Bedarfs ausgeben. Händler haben nicht nur mit Lieferengpässen und steigenden Kosten zu kämpfen, sondern auch mit einer sinkenden Nachfrage. Sie wollen ihre schwachen Verkaufszahlen ausgleichen und Kunden nun durch Rabatte zum Kauf animieren.

Verbraucherschützer warnen, sich durch Angebote nicht zu ungeplanten Käufen drängen zu lassen. Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace und der WWF warnen vor den Folgen des übermäßigen Konsums, der durch Aktionstage wie dem Black Friday angeregt wird. Sinnlose Neuanschaffungen schaden dem Planeten. „Egal, was wir kaufen, jedes Produkt muss erst einmal produziert werden und verbraucht dabei Ressourcen und Emissionen, die nicht direkt zu sehen sind”, sagt Julian Philipp, Pressesprecher des WWF Deutschland.

Um es ohne Umschweife zu schreiben: Es ist schwierig. Wir verstehen absolut, was der WWF und andere ausdrücken wollen und stehen hinter einem maßvollen Konsum, auch das haben wir im Briefing 64 kurz angerissen. Wir haben auch nicht speziell am Black Friday gekauft, sondern eher zufällig den Montag der Black Week genutzt. Im Briefing 64 steht auch, dass die echten Schnäppchen eben nicht am Black Friday abzugreifen sind und dass es Sinn ergibt, nicht sinnlos zusätzlich einzukaufen, sondern Dinge, die man wirklich braucht und auf die man sich wirklich freut, zu verfolgen, bis sie einen bestimmten, halbwegs realistischen Preis erreicht haben, sofern das möglich ist, also nicht bei Gegenständen, die kaputtgehen und sofort ersetzt werden müssen. Die erachten wir, sofern sie einigermaßen notwendig sind, wie etwa eine Waschmaschine, auch nicht als sinnlosen Konsum, an dem man sich berauschen kann, Kater beim Blick aufs Konto oder weil dieser Rausch generell nicht lange vorhält, wenn man ihn zu häufig genießt, inbegriffen.

Wir haben mit „eher ja“ gestimmt. Einfach deshalb, weil nicht jeder die Kapazität hat, zielgenau Schnäppchen zu fangen wie ein Angler, der sich ewig Zeit nimmt, bis die gute Forelle vorbeikommt und anbeißt, sondern die auch aus Zeitgründen auf solche Fixtage wie den Black Friday angewiesen sind. Wir haben den Eindruck, es ging schon die ganze Woche über ziemlich lebhaft zu, im Einzelhandel. Ob das nun auch auf höhere Umsätze deutet, können wir nicht sagen, so genau haben wir wieder nicht ermittelt, wer etwas kauft und wieviel. Eines ist aber leider unabweisbar: Ohne Schnäppchenjagd, ohne alle mögliche Bonus- und Kundenbindungsaktionen und ohne Tage wie den Black Friday würde es für manche Mitmenschen konsummäßig schon ziemlich düster aussehen, nach den Einbrüchen der letzten Jahren, die Kaufkraft betreffend. Dass die Hälfte der Menschen in Deutschland nicht mehr sparen kann, ist dramatisch, denn dies ist das Land, das früher als Sparweltmeister bezeichnet wurde. In Berlin galt schon vor den Krisen, dass die Hälfte kein Vermögen mehr aufbauen kann, u. a. wegen der ständig anziehenden Mietpreise. Demnach sind es in dieser Stadt, in der wir leben, wohl mittlerweile 60 Prozent, die nur noch von der Hand in den Mund leben.

Wenn wir unsere Abendrunden mit dem Fahrrad drehen, zeigt sich ein ganz anderes Bild: Gepackte Gastronomie und ungewöhnlich viele große und teure Autos unterwegs. Aber das ist es gerade: Es zeigen sich mehr und mehr nur noch diejenigen, die es sich ohnehin leisten können und natürlich deren Nachfahren. Die Mittelschicht muss den berüchtigten Gürtel bereits enger schnallen, aber sie kann natürlich den Black Friday nutzen. Anders als die Armen, die wenig davon haben, dass ein Spitzen-Fernseher jetzt nur noch 3.000 anstatt 5.000 Euro kostet. Es ist ein zweischneidiges Schwert, mit dem Black Friday. Er hilft einer bestimmten Schicht, am Konsumball zu bleiben, aber die finanzielle Spaltung wird weiter vertieft. Oberhalb der mittleren Schicht lächelt man über diesen Hype und geht weiter shoppen, wann man will und ohne Gedränge, unterhalb ist man wütend darüber, dass man trotzdem kaum mal etwas erwerben kann, was Freude macht. In Berlin besonders schmerzhaft: Es zeigt sich sehr offen, dass in dieser Stadt sichtbar diejenigen besonders herzhaft konsumieren, die das Geld dafür nicht auf legale Weise erworben haben. Das sorgt für weitere Verbitterung bei den übrigen und bringt die Demokratie in Gefahr.

Insofern gehören Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit unbedingt, untrennbar zusammen. Das eine darf man nie ohne das andere denken, sonst wird das Projekt, den Konsum freiwillig zu drosseln, wo es sinnvoll ist, nicht gelingen. Es gibt sehr viele, die das nicht annähernd einsehen, weil sie sich über den Konsum ausdrücken, weil er ihre Persönlichkeit dominiert. Ein Umdenken wird dort nicht freiwillig stattfinden. Deswegen kann man aber nicht den Armen sagen, es gibt keine Angebote mehr, denn produziert ist produziert und verursacht immer ökologische Kosten. Die Armen sind vor allem auf Angebote im Lebensmittelbereich angewiesen, seien sie durch besondere Aktionstage bedingt oder normaler Wochenalltag.

Sie werden deshalb nicht das Fünffache essen, weil es etwas billiger ist. Wir haben es kürzlich in einem Discounter getestet: Gerade im unteren Segment haben die Lebensmittelpreise in den letzten drei Jahren dramatisch angezogen. Nur dort, über die Masse, konnte der Handel sich schadlos halten für die Kostensteigerungen der letzten Zeit und noch bisschen was bei den Gewinnen gutmachen. Zwar wird der Black Friday der konsumierenden Mittelschicht am meisten bringen, aber wir hoffen einfach, dass auch die Ärmeren notwendige Anschaffungen damit etwas leichter stemmen können. Ihnen kann man ohnehin nicht vorwerfen, dass sie die Welt in den Folgen des Konsums ertrinken lassen. Dazu muss man sich nur den ökologischen Fußabdruck der reichsten 10 Prozent der Menschheit anschauen. Sie verursachen mehr als 50 Prozent der ökologischen Probleme. Der gesamte Rest, die untere Mitte und die Armen, mit und ohne Black Friday, können ethisch nur erreicht werden, wenn es gerade in diesem Bereich etwas fairer zugeht und das ist auch richtig so. Fast alle Krisenfolgen kommen vor allem unten an und sorgen für Verdruss und auch für Existenzangst. Der Black Friday wirkt dann wie eine Art Steuerungsmöglichkeit. Die ist zwar in Wirklichkeit vernachlässigbar und hilft nicht nur dem Handel, möglicherweise und zähmt den Widerstand, aber das Gefühl, nicht vollkommen abgehängt zu werden, wird gerade bei denen eine Rolle spielen, die sich nun gerade noch etwas Kleines gönnen können, was anders nicht möglich gewesen wäre.

Auch wenn wir sagen, der immer mehr notwendige Widerstand darf nicht im Konsum ertränkt werden, es geht nicht, dass alles wieder nur auf dem Rücken der finanziell am wenigsten Abgesicherten ausgetragen wird, was in Wirklichkeit eine Aufgabe für die gesamte Zivilgesellschaft und die Politik ist, besonders aber für die Reichen: nämlich nachhaltiger zu wirtschaften. Daher ein dezentes „eher ja“ von uns. Ca. 60 Prozent sagen übrigens derzeit „eindeutig ja“. Falls Sie den Begleittext uns uns erst gelesen haben, bevor Sie sich entscheiden wollten:

Civey-Umfrage: Sollte der Einzelhandel Ihrer Meinung nach trotz Klimakrise „Black Friday“-Rabatte anbieten, um den Konsum anzukurbeln? – Civey

TH

Briefing 64 (hier zu 63)

Unser Briefing 64 befasst sich mit einigen typischen Jahresend-Themen, denn Weihnachten nähert sich mit großen Schritten. Und der Erste Advent steht vor der Tür oder stolpert immerhin schon die Treppe hinauf. Wir werfen einen Blick auf den Konsum und womit er finanziert werden soll.

Daher betrachten wir zuerst die Einnahmen: Zählen Sie zu den Glücklichen, die von Ihrer Firma einen Bonus erhalten? Falls ja, wissen Sie, dass er meist zum Jahresende ausgezahlt wird: Infografik: So hoch fällt der Bonus aus | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Wenn Arbeitgeber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen variablen Gehaltsanteil oder einen Bonus gewähren, wird dieser oft am Jahresende ausgezahlt. Eine Umfrage des Statista Global Consumer Survey (Holiday Special 2022) zeigt, wie hoch diese Zahlung für viele Beschäftigte ausfällt. Demnach erhalten 39 Prozent der Beschäftigten eine Zahlung, die in etwa ihrem monatlichen Bruttogehalt entspricht. Knapp ein Viertel erhalten einen Betrag, der zwischen einem und drei Monatsgehältern liegt. Über einen noch höheren Bonus können sich insgesamt nur 10 Prozent der Befragten freuen. Knapp ein Viertel bekommen eine Summe überwiesen, die unter einem Monatsgehalt liegt.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Bonuszahlung. Jedoch spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, wenn der Arbeitgeber eine Bonuszahlung einführt. So ist es oftmals relevant, wie lange ein Arbeitnehmer schon im Betrieb beschäftigt ist. Oftmals sind Bonuszahlungen auch an die Leistungen des Arbeitnehmers gebunden: Erbringen Sie das Jahr über Leistungen über dem Standard des Unternehmens, so können diese mit einer Bonuszahlung gewürdigt werden. Arbeitgeber setzen Bonuszahlungen außerdem dazu ein, Beschäftigte zu hohen Leistungen zu motivieren.

Der Statista Global Consumer Survey ermöglicht Ihnen, verschiedene Länderdatensätze, Themen und Zielgruppen zu analysieren. Dabei können Sie regionale und globale Trends im weltweiten Konsumverhalten vergleichen. Mit Daten zu Menschen in mehr als 55 Ländern mit jeweils bis zu 60.000 Befragten pro Land und Update und finden Sie Ihre (zukünftigen) Kunden.

Im letzten Absatz dieses Mal etwas Werbung für Statista. Das finden wir absolut okay, denn wir dürfen viele interessante Grafiken verwenden, ohne dafür zahlen zu müssen. Wer mit den eigenen Recherchen von Statista mehr in die Tiefe gehen möchte, der kann  zum Beispiel den Global Customer Survey bestellen.

Diejenigen, deren Gehälter mehr aus Boni denn aus dem fixen Einkommen bestehen, finden sich zumeist in Spitzenpositionen. Interssanterweise lassen sie sich Boni oft auch dann zahlen, wenn die Unternehmensergebnissen eher für eine malefiziöse Performance der Topmanager:innen stehen. Fallen die Boni aber sehr hoch aus, weil die Gewinne sehr hoch sind, dann gibt es ebenfalls Kritik, und zwar berechtigterweise, wie wir finden. Mit Leistungsgerechtigkeit haben die überzogenen Gehälter auf den Topebenen oft wenig zu tun, sondern viel damit, dass man auf dem Rücken anderer satte Profite erwirtschaftet, indem man sie auspresst oder, derzeit besonders gerne genommen, die Preise im Zuge einer Krise massiver erhöht, als es kostenseitig notwendig wäre. Einfach, weil die Spekulation es erlaubt. Der Staat hilft bei diesem Hype mit, indem er Hilfen nach dem Gießkannenprinzip verteilt, als gezielt nur Bedürftige zu fördern.

Die meisten Konsument:innen aber haben recht wenig von all dem und müssen Abschläge hinnehmen. Der neue Tarif in der Metallindustrie ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Normalarbeitnehmer:innen, auf deren Schultern das Land mehr oder weniger ruht, von Riesenboni nur träumen können. Vielleicht kommt eine Einmalzahlung, hin und wieder, aber jüngst wurde ein Abschluss erzielt, der eine baldige Gehaltserhöhung von 5,5 Prozent vorsieht und 2024 noch einmal 3,4 Prozent. Schon die Inflation eines einzigen Jahres liegt derzeit höher. Massive Reallohnverluste werden die Folge solcher Abschlüsse sein, die vor allem dadurch zustande kommen, dass die Unternehmen die Beschäftigten und die Politik mit Abwanderungsfantasien erpressen. Die Manager, die solche Fantasien verbreiten, erhalten dafür sicherlich manch guten Bonus. Das alles war während der hohen Inflation zu Beginn der 1970er noch anders: Es gab aufgrund sehr guter Wirtschaftsdaten wirklich eine Lohn-Preis-Spirale mit zweistelligen Lohnzuwächsen innerhalb eines Jahres. Jetzt verdienen nur noch die Spitzenmanager immer besser, die ganz auf der Seite des Kapitals stehen. Der Gap zwischen dem Durchschnittslohn und den Spitzeneinkommen wird immer größer und stellt die Demokratie mittlerweile auf eine harte Probe.

Können und wollen Sie unter diesen Umständen konsumieren wie bisher? Oder verweigern Sie sich auch mal, zum Beispiel am heutigen Black Friday. Kleiner Tipp: Richtige Schnäppchenjäger:innen scheißen auf die nachgeschmissenen Prozente von heute und stellen sich einen Preiswecker bei einem Vergleichsportal, der Sie positiv überraschen wird, wenn  das gewünschte und wirklich gebrauchte Produkt nachgibt. Das geschieht oft ganz plötzlich und man entwickelt mit der Zeit ein Gefühl dafür, was geht und was nicht und in welcher Saison welche Artikel besonders günstig zu haben sind. Das ist viel spannender und anspruchsvoller und bewahrt eher vor unsinnigem Konsum mit baldiger Vermüllung als dieser zyklische Konsumrausch im Rahmen des Herdentriebs vor Festtagen oder an / in besonderen Sale-Tagen / Wochen. Der heutige Black Friday hat sich mittlerweile auf eine ganze Woche ausgedehnt und greift bereits in die Woche zuvor über.

Nun rückt Weihnachten aber unaufhaltsam näher, und was haben wir da? Deko  und Süßes: Infografik: Deutsche lassen sich Weihnachtsdeko einiges kosten | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Was wäre das Weihnachtsfest ohne die vielen bunten Dekorationen zuhause und in den Fußgängerzonen? – Für viele Deutsche unvorstellbar. In diesem Jahr ist das Bummeln durch die Einkaufsläden und über Weihnachtsmärkte wieder uneingeschränkt möglich und somit werden auch 31 Prozent der Teilnehmer:innen des Statista Global Consumer Surveys befragten Personen auf ebendiesen Deko erwerben. Nach den Pandemiejahren sind die Weihnachtsmärkte wieder an Platz zwei der beliebtesten Orte für das Deko–Shopping gewandert. Mit 36 Prozent der Großteil, zieht es allerdings vor weiterhin online einzukaufen, wie die Statista-Grafik zeigt.

Zudem sind die Deutschen nicht knauserig, wenn es um Weihnachtsdekoration geht. Mehr als ein Drittel der Befragten plant bis zu 50 Euro für die Verschönerung von Weihnachtsbaum und Wohnung auszugeben. Rund 23 Prozent investieren bis zu 100 Euro und ganze 16 Prozent rechnen sogar damit mehr als 100 Euro für Dekoartikel auszugeben.

Inspiration für Produkte und Dekorationsstil holen sich die Umfrageteilnehmer:innen dabei am ehesten in den Geschäften (34 Prozent). Aber auch die sozialen Medien (29 Prozent), Freunde und Bekannte (27 Prozent) oder Online-Händler (26 Prozent) tragen zur Ideenfindung bei.

Ja, was wäre Weihnachten ohne Glitter und Glimmer? Vielleicht ein Fest der Einkehr, der Rückkehr. Zu den wichtigen Dingen, zu den Wurzeln. Unerhört. Doch  wenn die Wirtschaftslage sich weiterhin so entwickelt wie zuletzt, wird den Ärmeren gar nichts anderes mehr übrigbleiben, als Weihnachten wieder zu einem Fest der Liebe zu machen, falls sie noch Liebe empfinden können, angesichts ihrer Marginalisierung, wie sie u. a. mit dem neuen Bürgergeld fortgesetzt wird. Wir beten schon geradezu dafür, dass uns wenigstens ein paar besonders heftig und nervig blinkende Außendekorationen dieses Jahr erspart bleiben werden, weil wir ja alle Energie sparen sollen. Auf eine Trendumkehr hoffen wir deshalb aber nicht. Wie wegen  Corona, in anderen Bereichen,  könnte es höchstens zu einer zwischenzeitlichen Delle auf dem Weg in den immer größeren Konsumzwang geben.

Aber es wird nicht nur geschmückt, es wird auch gefuttert: Infografik: Zuckerlastige Adventskalender auch 2022 hoch im Kurs | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Zwei Drittel der im Rahmen unseres Statista Global Consumer Survey durchgeführten Sonderumfrage zum Thema Weihnachten Befragten schaffen für sich selbst Kalender mit Schokoladeninhalt an. Das entspricht einem Zuwachs um zwei Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr. Obwohl Süßigkeiten im Allgemeinen weiterhin die beliebteste Füllung für Adventskalender darstellen, sind auch andere Inhalte im Kommen, wie unsere Grafik zeigt.

2021 wählten beispielsweise nur acht Prozent der Menschen, die einen Adventskalender zur eigenen Nutzung erwerben, ein Produkt mit Dekoartikeln aus, 2022 sind es schon 14 Prozent. Auch Getränkekalender, beispielsweise mit speziellen Teesorten oder Craft Beer, sind im Vergleich zu 2021 im Trend und werden von 14 Prozent der Befragten gekauft. Geld oder Gutscheine als Kalenderinhalt scheinen hingegen 2022 weniger beliebt zu sein. Obwohl Kalender aus dieser Kategorie noch auf dem sechsten Platz landen, stellen sie die einzige Kalendersorte unter den Top 8 dar, die im Vergleich zu 2021 einen Rückgang verzeichnet hat.

Die ersten Adventskalender entstanden schon im 19. Jahrhundert, die Kommerzialisierung des Produkts sowie die Einführung von Türchen und dem Verstecken von Schokolade geht voraussichtlich auf den deutschen Unternehmer Gerhard Lang zurück. Lang produzierte Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Kalender dieser Art, seitdem gehört der Kalender in vielen Haushalten Deutschlands zur vorweihnachtlichen Tradition. In den vergangenen Jahren nahm die Zahl der Premium-Adventskalender, die statt Schokolade und anderen Süßigkeiten Getränke, Schmuck oder Accessoires enthalten und vor allem als Marketingvehikel dienen sollen, konstant zu. 2018 lag der Umsatz mit Adventskalendern in Deutschland laut einer Erhebung der Lebensmittel Zeitung bei 98 Millionen Euro.

Das verstehen wir nun wieder. Dass die Menschen etwas Süßes brauchen, angesichts des bevorstehenden oder schon im Gang befindlichen Weihnachtsstresses. Gerade in diesen Zeiten. Und 98 Millionen Euro sind nur etwas mehr als ein Euro pro Einwohner:in, da kann man nicht von einem sinnlosen Rausch sprechen. Außerdem ist in ihnen insgesamt nicht so viel drin wie das, was sich in den wenigen Tagen zwischen dem Heiligen Abend und Neujahr kalorienmäßig abspielt. Offenbar ist der Adventskalender  trotz nur 98 Millionen Euro Umsatz ein Forschungsfeld erster Ordnung, wie weitere Infos belegen, die wir Ihnen hier zwar nicht alle ausführlich zeigen, aber doch verlinken wollen:

Im vergangenen Jahr wurde nachgewiesen, dass Adventskalender in den USA deutlich weniger verbreitet sind als bei uns: Infografik: Adventskalender in den USA deutlich weniger verbreitet | Statista. Da könnte die europäische Kultur, die im Grunde eh der Ausgangspunkt dessen ist, was uns heutzutage  aus den USA entgegenschwappt, doch mal ein kulinarisches Kulturgut stärker in den Blickwinkel der grundsätzlich konsumbegeisterten Amerikaner:innen rücken, das hierzulande eine große Bedeutung hat, sonst würde es ja nicht so ausgiebig erforscht. Allerdings wurde vor zwei Jahren recherchiert, dass Adventskalender eher Druck als Freude erzeugen: Infografik: Adventskalender erzeugt eher Druck als Freude | Statista. Ganz klar, man kann sich eine Verstopfug einfangen, wenn man vor lauter Frust alles, was hinter den 24 Türchen verborgen sein sollte, bis der jeweilige Tag erreicht ist, auf einmal hin sich hineinstopft und der Druck kann sich bei einem solchen Vorgang zu einem echten Schmerz verdichten. Ebenfalls vor zwei Jahren wurde ermittelt, was in Adventskalendern enthalten ist. Hier die Ergebnisse: Infografik: Das kommt in den Adventskalender rein | Statista. Das Jahr 2020 war überhaupt ein besonders reges Adventskalender-Forschungsjahr, denn auch dies hat man einen Monat vor Hl. Abend veröffentlicht: Infografik: Jeder Vierte verschenkt einen gekauften Adventskalender | Statista. Ein weiteres Viertel kauft sich die Kalender selbst. Und was machen die übrigen 50 Prozent? Doch nicht etwa ein Dasein ohne Adventskalender fristen? Möglich wäre das, es wurde über Jahrtausende hinweg bewiesen (wie auch, dass man ohne Smartphone und Amazon existieren kann), aber wäre ein solches Leben auch sinnvoll? Wir wollen es mit eklektischen Bestandteilen in diesem Artikel nicht übertreiben. Da wir Amazon aber schon erwähnt haben: Hier wird es wieder sehr ernst. Nämlich, wenn wir demnächst über unser Amazon-Dilemma einen Artikel veröffentlichen werden. Denn da geht, es wenn auch nicht bei uns persönlich, um ganz andere Summen als bei den Adventskalendern.

Diese müssten gemäß dieser Statistik übrigens höher liegen als bei knapp 100 Millionen Euro: Infografik: Wie viel der Adventskalender kosten darf | Statista. Das ist das Schöne an Umfragen: Sie spiegeln häufig eher die Selbstwahrnehmung der Befragten wieder als die Realität. Zum Glück, sonst wären die Ressourcen der Welt längst verbraucht.

Wir können und wollen Ihnen keine Empfehlungen zu Weihnachtgen geben, unser Duktus kommt sowieso einer nicht ganz so verdeckten Empfehlung gleich, Maß zu halten und sich vielleicht wirklich mal etwas mehr um die Grundlagen von Weihnachten zu kümmern. Das gilt nicht nur für Weihnachten, sondern auch für andere Feste, die zu Vehikeln für die Ver- und Gebrauchsgüterindustrie verkommen sind. Der nächste Termin dieser Art ist der Valentinstag, wenn wir uns nicht täuschen. Oder hat sich schon etwas Neues zwischen Weihnachten und den 14. Februar geschoben? Unser nächster Artikel über Konsumgewohnheiten wird sich vermutlich dazwischenschieben bzw. noch vor Weihnachten erscheinen und muss nicht unbedingt im Zusammenhang mit diesen Fest stehen.

TH

Briefing 63 (hier zu 62)

Erinnern Sie sich noch, wie die FDP die „verfassungsmäßige Schuldenbremse“ gegen die krisenbedingten Notwendigkeiten verteidigte, mit Klauen und Zähnen? Wir haben ja zuletzt darüber philosophiert, wie man mit Zahlen manipulieren kann. Ausgehend vom Thema Corona, aber dann auch verallgemeinernd. Nun haben wir eine Umfrage für Sie. Bitte lesen Sie andächtig den Begleittext von Civey durch, bevor Sie mitmachen. Trotzdem für Eilige hier schon der Link:

Civey-Umfrage: Halten Sie es für realistisch, die Schuldenbremse inmitten von verschiedenen Krisen (z.B. Ukraine-Krieg, Energiekrise) einzuhalten? – Civey

Am Freitag wird der Bundestag über den Haushalt 2023 abstimmen. Heute beginnt dazu die Haushaltswoche. Der Bundeshaushalt 2023 enthält für jedes Ministerium Zahlen zu Einnahmen, Ausgaben, Kreditaufnahme und Zinslasten. Die Schuldenbremse wurde 2011 in die Verfassung aufgenommen und begrenzt den Spielraum des Staates, Kredite aufzunehmen. Seit Beginn der Pandemie im Jahr  2020 wurde die Schuldenbremse für drei Jahre ausgesetzt. Ab 2023 soll sie nun wieder greifen.

„Der Haushalt 2023 hält die Schuldenbremse des Grundgesetzes ein“, kündigte Finanzminister Christian Lindner (FDP) kürzlich an. Es war eines seiner zentralen Wahlversprechen. Die Schuldenbremse bedeutet allerdings nicht, dass der Bund keine neuen Kredite aufnehmen kann. Wegen der schlechten Konjunktur sind Schulden von rund 45,6 Milliarden Euro erlaubt und diese schöpft die Ampel aus. CDU-Haushaltspolitiker Haase findet, „die Möglichkeit Schulden aufzunehmen, heißt ja nicht, dass man sie aufnehmen muss” und hätte sich mehr Sparanstrengungen der Koalition gewünscht.

Das sogenannte „Sondervermögen” ist nicht Teil der Haushaltsplanung. Krisenbedingte Sonderbelastungen, wie beispielsweise für Investitionen in die Bundeswehr oder die geplanten Preisbremsen für Gas und Strom sind zum großen Teil ausgelagert worden und nicht Teil des Haushalts. Lindner erklärte dazu, dass der „reguläre Bundeshaushalt zeigt, wie die Ampel-Koalition mit den öffentlichen Finanzen umgehen würde, gäbe es nicht die krisenbedingten Sonderbelastungen.“

Civey-Umfrage: Halten Sie es für realistisch, die Schuldenbremse inmitten von verschiedenen Krisen (z.B. Ukraine-Krieg, Energiekrise) einzuhalten? – Civey

Haben Sie schon gewusst, dass es immer irgendwelche Sonderbelastungen gibt, mit denen zuvor niemand rechnen konnte oder wollte? Rechnen zu wollen, würde bedeuten, eine Reserve für ebensolche Notfälle herauszubilden, dann könnte man auch wirklich von einem Sondervermögen sprechen. Das würde dann in Krisenzeiten schmelzen und das wäre realistisch. Aber der Begriff wird hier umgedreht, es handelt sich also um Sonderschuldenberge, die irgendwann genauso abgetragen werden müssen wie die im Bundeshaushalt offiziell ausgewiesenen Minusbeträge. Machen wir uns nichts vor, die Schwarze Null ist Geschichte. Sie wurde ohnehin dazu missbraucht, das Land kaputtzusparen, anstatt es mit kluger Investitionspolitik zukunftsfest zu machen. Das zeigt sich anhand einer kaum noch überschaubaren Anzahl von Infrastrukturproblemen. Es gibt Länder mit weniger Problemstau, in denen bedingt Sparen nicht, die Qualität von fast allem zu ruinieren. Das sind diejenigen, die wirklich gut aufgestellt sind. Meist sind es kleinere Staaten, die auch deshalb so klasse funktionieren, weil sie den größeren mit Sonderkonditionen für das Kapital das Leben erschweren. Bei uns sind so viele Weichen falsch gestellt worden, dass über Jahre hinaus keine gesunde Sparsamkeit mehr möglich ist, ohne dass hier alles auseinanderfällt.

Deswegen müssen wir schon richtig schmunzeln, wenn wir die FDP-Haltung zur in Wirklichkeit weit verfehlten und auf viele Jahre hinaus nicht mehr zu realisierenden Schuldenbremse lesen. Ach ja, wie geduldig ist Papier und wie geduldig sind auch Zahlen. Wer in Berlin lebt, kennt das sowieso: Da die Stadt nicht funktionsunfähig werden durfte und trotzdem zum Sparen verdonnert wurde, behalf man sich mit ebenjenen Sondervermögen, und zwar, ohne dass eine Großkrise vorlag. Jetzt hat man Übung und die zweite rot-rot-grüne Koalition funktioniert wohl auch deshalb recht reibungslos, weil hier nicht mehr viel Gedöns um ein paar milliardenschwere Notwendigkeiten gemacht wird. Jetzt müssen wir alle nur noch hoffen, dass niemand das BVerfG zwingt, erneut Stellung zu beziehen und dass, falls dies doch passiert, nicht die im Grunde logische Entscheidung folgt, dass auch „Sondervermögen“ Teil der Betrachtung sind, wenn es um das Abbremsen der Neuverschuldung geht. Falls Sie noch nicht abgestimmt haben, hier noch einmal:

Civey-Umfrage: Halten Sie es für realistisch, die Schuldenbremse inmitten von verschiedenen Krisen (z.B. Ukraine-Krieg, Energiekrise) einzuhalten? – Civey

Wir haben uns übrigens zu den gegenwärtig über 40 Prozent gesellt, die „eindeutig nein“ sagen. Weitere mehr als 20 Prozent sagen: „eher nein“. So viel Realismus muss sein und wir sollten uns auch nicht zu sehr darüber grämen: Wir werden angesichts des immer weiter anwachsenden weltweiten staatlichen und privaten Schuldenbergs sowieso noch erleben, wie es zum großen Offenbarungseid kommt. Gerade Situationen wie die jetzige sind bestens geeignet, den Weg dorthin zu verkürzen: Die Wirtschaft stottert fast überall und gleichzeitig steigen die Zinsen. Die atypische Geldpolitik nach der Bankenkrise zwingt uns jetzt in eine weitere atypische Situation hinein, die andere Seite der Medaille sozusagen. Diese typisch menschliche Unfähigkeit, den Überblick zu bewahren, wird uns in nicht allzu ferner Zeit wieder stark beschäftigen. Heute hat uns z. B. eine Bank damit erfreut, dass sie die Gebühren ab April 2023 anhebt, obwohl die Banken doch mit den steigenden Zinsen wieder mehr Geld verdienen können. Warum tut sie das wohl, wo doch der Kampf um die Kunden so hart geworden ist? Weil das Geschäft an sich, mit dem man Geld verdienen, nicht mehr richtig läuft oder man die Befürchtung hat, das könnte bald so sein.

TH

Breifing 62 (Briefing 61)

Langsam geht unser Engagement für ein Böllerverbot in Berlin und darüber hinaus in den  Zusatnd des Lobbyismus über. Leider nicht wie bei der Wirtschaft, die sich Politiker:innen kaufen kann, um sie gefügig zu machen. Es geht nur um gute Argumente, und das seit Jahren:

Gegen den krachenden Schwachsinn – verbietet endlich die Böllerei! #Böllerverbot #Umweltsau @RegBerlin #Silvester #Tempolimit #CDU #FDP – DER WAHLBERLINER

Damals haben wir die Stadtregierung sogar direkt ins Adressbuch genommen, aber genützt hat es natürlich nichts. Was war es in den letzten beiden Jahren schon für eine Wohltat, dass es etwas weniger Knallerei gegeben hat. Nun fragt Civey uns und Sie, ob wir nicht endlich mal …? Eine Mehrheit dafür gibt es, und wenn wir immer wieder schreiben, Mehrheit ist nicht alles, dann vor allem, wenn es um unabdingbare Minderheitenrechte geht, nicht darum, dass eine Minderheit die Mehrheit ungestraft terrorisieren darf. Umgekehrt also: Rücksichtnahme gegenüber Minderheiten, aber kein Freidrehen rücksichtsloser Minderheiten gegenüber der Mehrheit. Mehr Solidarität, weniger Egoismus. Mehr soziale Intelligenz gegenüber asozialer Dummheit. Einfach, ganz im Kleinen und wenigstens für eine Nacht im Jahr ein wenig mehr bessere Welt.

Civey-Umfrage: Sollten Böller und privates Feuerwerk Ihrer Meinung nach dauerhaft verboten werden? – Civey

Der Erklärungstext dazu aus dem Newsletter:

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) fordert von der Bundesregierung ein dauerhaftes Verbot von Schwarzpulverraketen und Böllern zu Silvester. Neben der Luftverschmutzung und Müll in den Straßen nennt die DUH laut ntv als Gründe: Millionen verschreckte und leidende Tiere, tausende Verletzte und zahlreiche Häuserbrände. Ein grundsätzliches Verbot müsste auf Bundesebene erlassen werden. Länder und Kommunen können Verbote aber für bestimmte Orte aussprechen.

Das Bundesinnenministerium lehnt die Forderung der DUH ab. Laut Handelsblatt sagte eine Ministeriumssprecherin, dass es dieses Jahr derzeit nicht absehbar sei, ob ein temporäres Verbot wie die letzten beiden Jahren notwendig ist. Wegen der Coronapandemie gab es u.a. ein Verkaufsverbot für Feuerwerk und regionale Versammlungsverbote. FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle lehnt generelle Verbote ohne konkrete Anlässe ab.

Der Bundesverband Pyrotechnik (BVPK) plädiert für eine Fortführung des Silvesterbrauchs, der zum traditionellen Kulturgut gehöre. Laut dpa argumentiert der BVPK, dass Tiere nur kurzzeitig von Störungen betroffen und die meisten Verletzungen auf den Alkoholkonsum in der Silvesternacht zurückzuführen seien. Derweil fordert die Gewerkschaft der Polizei Berlin ein dauerhaftes Pyrotechnikverbot im Innenstadtbereich der Hauptstadt, um „ausufernde Gewalteskapaden gegen Polizei und Feuerwehr“ zu verhindern und um etwas für den Klimaschutz zu tun.

Schon vor der aktuellen Civey-Umfrage gab es Stimmungsbilder, ähnlich sieht es derzeit auch bei der oben verlinkten Umfrage aus:

Böllerverbot zu Silvester? Die Mehrheit der Deutschen ist dafür! (berliner-kurier.de)

Es ist der alte Jammer mit „Liberalen“ und verzagten Regierungspolitikern, die uns gegenwärtig, anders als noch 2019, wirklich alles Mögliche reindrücken, weil sie es einfach können und wir uns nicht wehren können, denn heizen und Strom verbrauchen muss nun einmal jeder bis zu einem gewissen Grad. Aber dass wir dafür mal ein bisschen was zurückkriegen, und sei es nur ein besinnlicherer Übergang ins neue Jahr, das bestimmt auch wieder sehr fordernd werden wird, weil die Politik es so will, das geht natürlich gar nicht. In Berlin wird es wohl wieder zu drei mickerigen Verbotszonen kommen, die das Problem nun wirklich nicht lösen, wie sich jeder des Denkens Mächtige denken kann: Es wird zu Ausweichbewegungen kommen, und die werden auch unseren Kiez stark treffen, weil er in der Nähe einer solchen Verbotszone liegt, aber nicht mittendrin, leider. Auch die Willkür bei der Auswahl der Zonen ist erstaunlich. Nachvollziehbar ist noch das Verbot am Alexanderplatz, aber alles andere ist wohl gewürfelt.

Erstaunliche Ideen gibt es zu dem Thema immer wieder, besonders von führenden Berliner Presseorganen:

Böller-Verbot: Das Problem sind die Idioten! Aber: Warum gibt es in Deutschland keinen Knaller-Führerschein? (berliner-kurier.de)

Klar, es gibt ja auch einen Autoführerschein. Trotzdem fahren 80 Prozent aller Autofahrer:innen in Berlin zu schnell, wenn es nicht gerade aufgrund einer Stausituation unmöglich ist. Wenn wir mit dem Rad mit 30 oder gar 40 Km/h unterwegs sind, haben wir den Eindruck, wir stehen, wenn die Raser auf den Ausfallstraßen vorbeizischen. Ganz richtig, ein Verbot an sich bringt nichts, wenn es nicht durchgesetzt wird. Wenn es schon bei so einfachen Dingen wie dem vermehrten Aufstellen von Blitzern nicht klappt, wieso dann beim Böllerverbot, wo sogar echter Personaleinsatz notwendig wäre, Konfrontationen aller Art inbegriffen. So muss man sich bei uns auch das Vorgehen gegen die OK denken: Nur, wenn es nicht wehtut, ganz anders als etwa bei linken Demonstrationen, wo die Polizei gerne herzhaft zupackt. Die Berliner Stadtregierung schiebt das Problem derzeit allen Ernstes an die Bundesregierug weiter, wieder gegen jede Logik. Wenn einzelne Verbotszonen gehen, dann geht auch ein Verbot innerhalb des S-Bahn-Rings.

„Und warum die Verbotszonen? An bestimmten Plätzen versammelten sich in früheren Silvesternächten häufig Gruppen junger Männer, die mit Feuerwerksraketen durch die Gegend schossen, Böller zündeten und auch mit Flaschenwürfen Polizisten und Feuerwehrleute angriffen. Das letzte Wort ist aber noch nicht gesprochen. „Die endgültige Entscheidung zur Einrichtung polizeilicher Pyrotechnikverbotszonen erfolgt voraussichtlich im Dezember“, hieß es vom Senat.“

Ja, wer weiß schon, ob es dieses Jahr überhaupt dringend notwendige Einschränkungen gibt? Immerhin heißt die Regierende Bürgermeisterin jetzt Franziska Giffey, und die ist sich für keine populistische Aktion oder Nichtaktion zu schade, während ihr Vorgänger Michael Müller sein Image als wandelnde Büroklammer angenommen hatte und sich daher auchmal kleinteilige Bürokratie leistete.

Bekommt Berlin ein Böller-Verbot? DAS sagt Berlins Polizeipräsidentin… droht wieder ein trauriges Silvester? (berliner-kurier.de)

Das mit dem Böllern könnte aber auch ein wenig Züge wie seinerzeit bei der Prohibition in den USA annehmen, denn auf das zweijährige Verkaufsverbot, das wohl mehr als die Vernunft des Einzelnen für den Rückgang an Krach  zum Jahreswechsel sorgte, könnte nun ein blühender Schwarzmarkt folgen, gespeist von lauter bei uns verbotenen Polenböllern. Das erinnert wirklich an denn billige Fusel, der eine Konsequenz des Alkoholverbots in den USA von 1920 bis 1932 war. Es gibt aber auch einen wichtigen Unterschied: Saufen schadet erst einmal dem Säufer selbst, alle Emissionen und Gefahren der Böllerei werden wieder einmal der Gesellschaft übergehäuft. Allerdings möchten wir es heute nicht versäumen, über den kommenden Jahreswechsel hinauszudenken. Wir haben in den Städten generell zu viel Lärmbelästigung, und Lärm ist eine schädliche Emission, an dieser Erkenntnis führt nichts vorbei.  Es gibt ganz unterschiedliche Verhaltensweisen, die dazu beitragen. Sie alle haben eines gemeinsam: Ein Zeichen kulturellen Fortschritts sind sie nicht. So auch das Böllern.

TH

Briefing 61 (hier zu Nr. 60)

Dieser Artikel ist eine Fortsetzung des Briefings 57, in dem wir uns zuletzt mit der Fußball-WM in Katar beschäftigt haben. Sie startet übrigens heute. Unsere bisherigen Artikel dazu:

Im Sport komme es immer wieder zu Legenden der Leidenschaft. Im Fußball auf dem Platz. Aber auch dann, wenn wenn legendäre Sportler und Funktionäre ihre Weltbilder offenlegen:

WM 2022 im Live-Blog: Infantino kritisiert „heuchlerische“ Kritik am WM-Gastgeber Katar | WEB.DE

Fifa-Präsident Gianni Infantino hat einen Tag vor dem Eröffnungsspiel eine „Doppelmoral“ westlicher Nationen gegen WM-Gastgeber Katar angeprangert. „Ich denke, was wir Europäer in den vergangenen 3.000 Jahren weltweit gemacht haben, da sollten wir uns die nächsten 3.000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, moralische Ratschläge an andere zu verteilen“, sagte der 52-Jährige während einer Pressekonferenz am Samstag in Al-Rajjan. Es sei „traurig“, diese „Doppelmoral“ erleben zu müssen. (…) Seine Pressekonferenz eröffnete der Schweizer mit: „Heute fühle ich sehr starke Gefühle, heute fühle ich mich als Katarer, heute fühle ich mich als Araber, heute fühle ich mich afrikanisch. Heute fühle ich mich homosexuell. Heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Arbeitsmigrant.“ 

Da kann man sehen, welche Vorteile Identitätspolitik hat: Man kann sich gleich in alle Identitäten hineinfühlen, um die es gerade geht. Stop. Hat da jemand etwas missverstanden, der in Wirklichkeit eine Aneignung betreibt? Wir stellen uns gerade so einen schweizerischen Fußballfunktionär (schon der zweite innerhalb von 20 Jahren von dieser Fußball-Weltmacht) vor, wie er unter glühender Sonne und im Akkord in Katar die Schaufel schwingt, um ein Stadion zu bauen. Und dann: Was die Europäer in 3000 Jahren alles angerichtet haben, da muss die Fronarbeit und die Buße, die darin liegt, doch gleich doppelt schnell von der Hand gehen. Warum die FIFA von vielen als peinlicher Verein angesehen wird, zeigt sich in dieser Haltung, die sich keinen Deut verändert hat.

Der Präsident ist offenbar ein Whatabout-Historiker, und die Whataboutler haben ja den besonderen Spin drauf, Äpfel mit Birnen auf eine Weise zu vergleichen, dass es einem beim Anblick beider Obstsorten schon den Magen umdreht, wenn man nur daran denkt, wie sie für falsche Vergleiche missbraucht werden. Der simple und wohl absichtliche Denkfehler: Wir sind nicht vor 3000 Jahren, wir sind auch nicht während der Nazizeit, wir sind im Jahr 2022 und kämpfen darum, dass die Welt wenigstens nicht wieder immer schlechter wird, wenn schon keine Verbesserungen festzustellen sind.

Da möchte uns der FIFA-Präsident vorhalten, dass das katarische Regime vermutlich weniger grausam mit den Menschen umgeht und auch in Relation zur Bevölkerung weniger menschenrechtsverletzend ist als ebenjene Nazis. Deren Nachfahren wir sind, weshalb wir nach Infantinos Lesart für alle Zeiten die Klappe zu halten haben, wenn es um Menschenrechte geht. Also, länger als 3000 Jahre jedenfalls.

Das ist vor allem eines: infantilo. Die Lehren aus der Vergangenheit bestehen ja gerade darin, es jetzt endlich besser zu machen und die Stimme zu erheben, wenn krude Regime Weltereignisse ausrichten dürfen, sozusagen als Belohnung dafür, dass sie undemokratisch sind und eine (zahlenmäßig) dünne Oberschicht mit dem Rest der meist migrantischen Bevölkerung umgeht, wie es ihr beliebt. Und die Fortschritte, auf die Infantino sich bezieht, muss man mit der Lupe suchen. Ja, Katar hat sich im Index der Pressefreiheit zuletzt um ca. 8 Plätze verbessert. Von Rang 130 auf Rang 122. Applaus, aber solche Petitessen  sind a.) jederzeit revidierbar und b.) keineswegs ein Zeichen dafür, dass es insgesamt freiheitlicher zugeht.

Aber dass der Vorsitzende einer Organisation zu diesen Überlegungen keinen Zugang hat, in der vor allem Schmiergeld das Maß der Dinge ist, muss man auch wieder verstehen. Verstehen, nicht entschuldigen. Wir machen es uns zum Einstieg etwas einfacher und verweisen Sie auf diesen Artikel, der nur ein paar besondere Vorkommnisse und Persönlichkeiten im Management des Weltfußballs herausgreift, um alles etwas plastischer wirken zu lassen. Aber schon diese Zusammenfassung ist instruktiv und der „Kaiser“ ist auch dabei. Wir befassen uns deswegen heute auch ein wenig mit der FIFA, von der die Menschen hierzulande in etwa das Folgende halten:

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Nur 14 Prozent der für das WM-Special des Statista Global Consumer Surveys befragten Deutschen glauben, dass der Weltfußballverband FIFA frei von Korruption ist. Tatsächlich erscheint das eher Zweifelhaft. Die Organisation mit Sitz in Genf hat sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag mit dem Titel Korruption in der FIFA. In der Einleitung heißt es: „Die Vorwürfe gegen die Organisation beziehen sich unter anderem auf die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften 2018 an Russland und 2022 an Katar sowie die Vergabe von Sponsoring- und Vermarktungsrechten durch einzelne Funktionäre der FIFA, insbesondere im Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien.“ Auch beim Thema Menschenrechte und Antidiskriminierung ist der FIFA-Ruf eher so lala, wie der Blick auf die Grafik deutlich macht. Dennoch sehen 38 Prozent der Befragten den Verband als eine positive Kraft im Weltfußball.

Geldwäsche, Bestechung, Stimmenkauf: So korrupt ist die Fifa | WEB.DE

Nein, was wir uns in Europa nicht vorwerfen lassen müssen, ist, dass wir die Ausrichtung der WM in Katar kritisieren, sondern, dass in der allgemeinen Berichterstattung die offenbar systemimmanenten Verfehlungen der FIFA-Oberen in der Öffentlichkeit zu wenig behandelt werden. Das hat sicher dazu beitragen, dass FIFA im Weltfußball immer noch mehrheitlich als positive Kraft gesehen wird. Sicher, jemand muss das alles organisieren und steuern, einen Weltverband braucht der Weltfußball. Insofern ist es logisch, dass dieser als positive Kraft wahrgenomnen wird, unabhängig davon, was dort los ist. Desweiteren, dass wir bei Vergaben von Großereignissen nach Russland oder China zu wenig Kritik geübt haben. Das ist in der Tat ein Versäumnis, aber wir beim Wahlberliner können uns immerhin zugute halten, dass wir wirtschaftspolitisch etwas früher aufgewacht sind als viele andere. China betreffend. Nord Stream 2 hielten wir hingegen für ein „Wandel-durch-Handel-Projekt“ oder, präziser, für einen Ausgleich der mickerigen Berücksichtigung der Interessen Russlands durch den Westen, das müssen wir selbstkritisch zugeben.

Und was ist mit Guantanamo? Sie wissen, dieses Folterlager der USA auf Kuba. Also auch keine Vergaben von Großereignissen mehr an die USA?

Nachdem seit 2002 insgesamt 779 Gefangene dort inhaftiert worden waren,[3] betrug deren Zahl im Oktober 2022 noch 35.[4]

Gefangenenlager der Guantanamo Bay Naval Base – Wikipedia

Vor allem die Freund:innen Putins führen diesen zweifelsohne menschenrechtswidrigen Tatbestand gerne ins Feld, um unter anderem den Überfall auf die Ukraine zu relativieren und ansonsten wie Infantino vorzugehen: Was schon alles, allein seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg! Über 50 völkerrechtswidrige Interventionen aller Art durch die USA. Das stimmt und wir wollen das auch nicht kleinreden. Aber deswegen halten wir es für dringend geboten, Antiimperialismus mit Äquidistanz zu denken, denn es gibt keine weißen Westen, bis auf ein paar ganz kleine Länder, die nicht einmal als Steueroasen zu taugen scheinen. Anders als die Schweiz, wo der Herr Infantino herkommt und wo wo Geldwäsche und Blutgeldsicherung zum Tagesgeschäft gehört.

Nach bedingungslos gleichmäßigen ethischen Maßstäben dürfte kaum ein Land irgendetwas ausrichten, vor allem, wenn man tatsächlich die Vergangenheit einbezieht. Eine gewisse Relativität gibt es aber auch hier, sonst würde genau diese Situation eintreten: Nichts geht mehr. Vielleicht wäre das sogar besser, denn Nationalkampfturniere sind sowieso überholt. Aber was wäre dann mit den Olympischen Spielen, bei denen doch die einzelne Sportler:innenperson im Vordergrund stehen sollte? Infantions Europ-Vergleich mag Quatsch sein, aber ganz so einfach ist es eben nicht, wie wir es uns gerne machen. Wir müssen eben grundsätzlich viel kritischer sein, was Menschenrechtsverletzungen angeht. Auch hier müssen wir uns beim Wahlberliner keine allzu großen Vorwürfe machen: Wir tun das oft. Ob wir daraus die Konsequenz ziehen würden, die Austragung von Großereignissen in Deutschland grundsätzlich negativ zu sehen?

Wir haben den Maßstab kürzlich präzisiert und es gibt wohl kaum einen besseren: Alle vollständigen Demokratien müssen grundsätzlich in Betracht gezogen werden, wenn es um solche Events geht. Dass Autokraten sagen, wieso ist dieser Weg besser als unserer? Diskriminierung! Es ergibt sich eben immer wieder, dass in Autokratien auch die Menschenrechte am wenigsten zählen, und damit kann es beim Maßstab der Demokratie bleiben. Da hat auch der Herr Infantino Glück, falls er mal ein Ereignis in sein eigenes Heimatland holen möchte (gab es schon, die Fußball-EM 2008  in der Schweiz und Österreich). Es geht eben nicht um die absolute Perfektion. Wir schrieben neulich, wenn man die Nähe dazu als Voraussetzung zur Austragung das Prestige eines Staates steigernden Ereignissen ansehen möchte, würde man nur noch zwischen den Scandics rotieren können. Und selbst darin liegt schon eine Idealisierung der dortigen Verhältnisse, wie man am Rechtsruck in Schweden sieht, den wir gerade verdauen müssen, als gute Demokraten.

Es hat auch mit der FIFA selbst zu tun, dass man nun etwas genauer hinschaut, nachdem klar ist, dass dort die Korruption ebenso systematisch zu sein scheint wie die Menschenrechtsverletzungen in Katar. Dadurch ergibt sich ein ungutes Gefühl von „passt irgendwie alles zueinander“. Darauf sollte Herr Infantino mehr schauen: Wie viele Europäer schon an den wenig erfreulichen Zuständen in der FIFA mitgearbeitet haben und mit Geld an Vertreter ärmerer Länder massiv Beeinflussung bei Abstimmungen betrieben haben. Vermutlich verbergen sich hinter den Vorgängen, die bereits ans Tageslicht gekommen sind, weitere Unregelmäßigkeiten, um es vorsichtig auszudrücken.

Die FIFA ist zwar noch keine 3000 Jahre alt, aber ein Hort der ethischen Sportgestaltung ist sie ganz sicher nicht und muss sich daher weiterhin für ihre Handlungen kritisieren lassen, besonders, wenn es um die Vergabe von Sportereignissen mit Symbolwirkung geht. Was wir jetzt brauchen, sind Zeichen dafür, dass man auch im Sport verstanden hat, nicht das Gegenteil, das sich aus der Rede des FIFA-Präsidenten in weiten Teilen ergibt. 

TH

Briefing 60 (hier zu Nr. 59)

Es hängt alles miteinander zusammen. Das gilt insbesondere für die Krisen der Welt. Wirtschaft, Natur, Mensch, Umwelt. Wir werden das demnächst anhand eines Interviews dokumentieren, das ein deutsches Medium mit einem Mann geführt hat, dessen Name vermutlich nicht zufällig ähnlich klingt wie „Houdini“.

Da ist es schon fast kleinteilig, einzelne Verfahren herauszugreifen. Wie zum Beispiel das Verhalten der EZB. Das OXI-Wirtschaftsblog hat. Lesen Sie bitte erst einmal hier: EZB-Geldpolitik: Von Zögern bis Zinswende – OXI Blog

Hinweis: Die in der folgenden Grafik noch gestrichelt eingezeichneten Zinsschritte der Notenbanken sind mittlerweile vollzogen:

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder.  

Was der Verfasser des verlinkten Artikels im Oktober noch nicht wissen konnte. Was er ganz am Ende erwähnt und was wir für besonders wichtig halten, nämlich der Euro-Dollar-Kurs, hat sich mittlerweile sehr wohl erholt. Erholt heißt, man kann froh sein, wenn er sich wieder über die Parität wagt. Gegenwärtig ist der Euro 1,04 Dollar wert. Und das, obwohl die Wirtschaftssaussichten in den USA allgemein als besser gelten als diejenigen der Eurozone, in der, wenn man dem Mainstream glaubt, wirtschaftspolitisch alles falsch gemacht wurde, was man überhaupt falsch machen kann. Besonders in Deutschland.

Die Probleme sind in der Tat beängstigend und wir sind ebenfalls der Meinung, dass man nicht über höhere Zinsen, also eine Einwirkung auf die Nachfrageseite, ein Problem komplett bewältigen kann, das auf der Angebotsseite liegt – wie die gegenwärtige Energiekrise und die durch sie befeuerte Inflation. Aber es ist wichtig, dass der Euro nicht immer weicher wird und nicht allein dadurch die Importpreise ständig steigen. In einer Welt, in der es ein wenig an Nachfrage mangelt, weil eben die Teuerung überall höher ist als die Lohnsteigerungen, weil die Erwartungen dahin gehen, dass dieser Trend anhalten wird, kann man das Nachfrageloch nicht durch günstigere Exportpreise schließen. Vor allem dann nicht, wenn man hautsächlich Produkte für die Industrie herstellt oder hochwertige Waren, die einen relativ stabilen Kundenstamm aufweisen, der von der Inflation gar nicht so betroffen ist bzw. sie weniger spürt als die Mehrheit, aber auch nicht in einen Kaufrausch verfallen wird, weil die Preise für Importware einigermaßen stabil bleiben. Wäre das möglich, könnte man daraus höhere Steuereinnahmen generieren und mehr Spielraum, um wiederum die Inflation aufzufangen.

Und zwar nicht durch Preisobergrenzen, sondern durch Subventionen, wie es in Deutschland jetzt ohnehin gemacht wird. Die Preisobergrenze ist dem Marktliberalen ein Dorn im Auge und die Verwerfungen durch einen Eingriff ins „freie Spiel der Märkte“ durch so was, oh Gott. In der Tat agieren vor allem ärmere Länder mit diesem Instrument, die sich eine Subvention der Verbraucher nicht leisten können. Umgekehrt wird aber ein weiteres Paar Schuhe daraus: Diese Subventionen heizen die Inflation weiter an. Bezüglich der Energiepreise im wörtlichen Sinne. Wie auch immer, in dem Märkte wird also eingegriffen und zwar nach dem aktuellen deutschen Modell zugunsten der Konzerne, die weiterhin hohe Preise erzielen können und erst in zweiter Linie zugunsten von Verbrauchern, deren Mehrkosten ein wenig gedämpft werden. Im Prinzip müsste man auch bei den Nahrungsmitteln etwas tun, denn was dort insbesondere auf dem Billigsektor läuft, ist hochgefährlich für die Existenz ärmerer Menschen. Es gibt fast kein Halten mehr beim Preisauftrieb, gerade bei Produkten, die bisher besonders günstig waren. Uns hat das deshalb schockiert, weil wir gestern wieder einmal überprüft haben, wie man besser fährt: mit regelmäigen Einkäufen beim Discounter oder mit Angebotsjagd bei den höherwertigen Läden. Das Pendel neigt sich immer mehr zu Letzterem, und das ist aufwendig und ab dem Moment, in dem man das Auto zu Einkaufen benutzen muss, ökonomisch weitgehend sinnlos. Oder man kauft riesige Mengen von einzelnen Produkten, falls man darf, tut damit nichts Gutes für die Inflation und verärgert  andere Kunden.

Die Zinsanhebungen der EZB werden auf diesem Gebiet nicht viel bringen, denn die Nachfrage für solche Verbrauchsgüter des Alltags lässt sich kaum dämpfen, ohne dass Menschen Hunger leiden und sie wird, zumindest bisher, nicht durch Kredite finanziert. Innerhalb der gesamten Lieferkette lässt sich vielleicht ein wenig etwas bewegen, aber nicht dort, wo die Nachfrage generiert wird, bei den Verbraucher:innen. Der Preisauftrieb bei den langlebigen Gebrauchsgütern ist ohnehin kaum der Rede wert. Ginge es nur nach den Preisen für Bekleidung und Elektronik, die immer billiger produziert werden können, sodass auch ein niedriger Euro nicht zu explosionsartigen Anstiegen führt,  wäre ein Eingreifen der EZB zum Schutz der Verbraucher gar nicht notwendig. Man könnte also weiterhin günstig Staatsverschuldung betreiben.

Ein Streitpunkt waren die Anleihekäufe der EZB und das TPI-Programm als deren Quasi-Nachfolger. Kontert das TPI nicht die Bemühungen, mit Zinserhöhungen den Euro stabil zu halten? Ist es nicht vielmehr so, dass gerade wegen der steigenden Zinsen dieses Instrument notwendig wird, um die Staatsfinanzierung mancher EU-Länder noch zu sichern, die am freien Markt ihre Anleihen kaum absetzen können? Steigt der Gap für die Refinanzierung der stärkeren Staaten und der schwächeren nicht wieder durch die Zinserhöhungen unmäßig an, wenn man das TPI nicht einsetzt? So sah es allerdings aus und wieder einmal wird klar, dass die Eurozone ein Hemmschuh für eine zielgenaue Geldpolitik ist, die wirklich die Interessen unterschiedlich aufgestellter Ökonomien ausgleichen kann. Ob das besser würde, wenn man, wie in OXI angedeutet, das gelpolitische Mandat der EZB erweitern und zum Beispiel auf die Schaffung eines Arbeitsmarktes mit Vollbeschäftigung ausrichten würde?

Wir halten diesen Ansatz, der in den USA verfolgt wird, zumindest für kritisch. Die Verschuldung dieses Landes ist so hoch, dass der Euro wohl vor allem deshalb nicht komplett durchrutscht, weil die Marktteilnehmer sehr wohl im Blick haben, dass in den USA quasi von einem Nothaushalt zum nächsten regiert wird, und das schon seit Präsident Obamas Zeiten. Dadurch entstehen viel Unsicherheit und stärkere Erpressbarkeit der regierenden Demokraten. Das wird sich nach den Midterms noch verstärken, in denen eines der beiden Häuser des US-Kongresses an die Republikaner gehen wird, die also das, was die Regierung beiden strategisch angehen will, besser blockieren kann als bisher. Wenn man den Schuldenstand außen vor lässt, gibt es keinen Grund, den Dollar nicht stärker zu bewerten, als das aktuell der Fall ist. Die Staatsverschuldung  liegt in den USA höher als in das jährliche BIP, wenn auch nicht so hoch wie in vielen schwächeren Eurostaaten, wo es bis hinauf zu etwa 200 Prozent geht. Steigende Zinsen können eine Inflation dämpfen, wenn das auf der Nachfrageseite möglich ist, tun aber wenig, um ein verknapptes Energieangebot billiger zu machen. Sie bergen jedoch die Gefahr, dass die Wirtschaft auch in den USA abgewürgt wird, Schulden Privater, weniger die des Staates, nicht mehr bedient werden können und die nächste Finanzkrise ins Haus steht. 900 Milliarden Dollar wird der US-Staat wohl nächstes Jahr an Zinsen zahlen müssen, das ist fast das Doppelte eines Bundeshaushalts. Kann er das? Ja, natürlich, in dem er die Notenpresse anwirft, wie das auch die EZB schon seit Langem tut, um den Euro zu retten. Jetzt kommt es darauf an, ob man es wirklich für obsolet hält, dass die Geldmenge sich wiederum auf die Inflation auswirken wird und dadurch die Bemühungen um Inflationsdämpfung durch höhere Zinsen zunichte macht.

Dabei ist viel Psychologie im Spiel. Generell wird der US-Volkswirtschaft eher zugetraut als der europäischen, dass sie die Herausforderungen der nächsten Jahre meistert, das ist auch nichts Neues. Diesem Vertrauen der Märkte stellt die EZB das Motto: Wir kaufen alles, was notwendig ist, entgegen. Wir garantieren den Gläubigern des Staates also, dass ihre Investitionen nicht abschreiben müssen. Was ist wohl die bessere Aufstellung? Die amerikanische natürlich, denn eine Wirtschaft, die immer wieder zulegen kann, ist auch in der Lage, den Märkten den Glauben an die Schuldenbedienung zu erhalten. Anders könnte es allerdings auf dem privaten Sektor aussehen, und da fing 2008 die Finanzkrise an. Da wird sie möglicherweise auch beim nächsten Mal ihren Ausgang nehmen. In Europa finanziert die EZB auch größere Unternehmen durch, indem sie deren Schuldpapier ebenfalls kauft oder gekauft hat. In den USA wird das nur in Notzeiten gemacht, wie eben nach der Bankenkrise, die sogar zu Verstaatlichungen geführt hat. Demgemäß hat die US-Regierung derzeit noch ein Instrument zur Verfügung oder in Reserve, das in Europa längst ausgelutscht ist, nämlich, dass die Notenbank sogar Unternehmen direkt stützt. Neben den Problemen mit dem Euro, die in den USA keinen Vergleich kennen, ist das ein weiterer Grund, warum die EZB viel defensiver ist, wenn es um Zinserhöhungen geht. Geht man hier zu hart vor,  kann man eine Spirale in Gang setzen, die den gesamten Euroraum und damit das europäische Projekt zerstört.

Was uns das letztlich sagt: Dieses Projekt ist in seiner gegenwärtigen Form eine Fehlkonstruktion, die ein kraftvolles Gegensteuern gegen die Unbilden der Zeit erheblich erschwert. Deutschland kann sich aufgrund seines robusten Arbeitsmarktes sogar eine Rezession leisten, daran ist im Süden nicht zu denken. Dass mit dem bisherigen Vorgehen hingegen die Vermögen der Private in Deutschland jetzt nicht nur mit Minuszinsen minimiert werden, sondern auch noch weginflationiert – tja, ein wenig muss man schon was für den europäischen Geist opfern. Wenn man noch kann.

Wenn man noch Reserven hat. Die Wahrheit ist: Im Grunde müsste man alle Verträge, die mit der Währungsunion zu tun haben, so ändern, dass dieses Projekt krisenfester wird. Die jetzige Aufstellung ist viel zu sehr von altem Einhegungsdenken  geprägt, mithin von der Idee Frnakreichs, wie man  Deutschland am Zügel halten könnte. Kanzler Schröder hat gezeigt, dass man diese Idee gegen ihre Urheber wenden kann, indem er die Lohnkosten in Deutschland relativ zu denen andere Länder immer mehr verbilligt hatte.

Warum nicht lieber das Mandat der EZB flexibler gestalten, das ursprünglich an der Konstitution der Bundesbank orientiert war, aber in der Praxis nun kaum noch diesem Vorbild ähnelt, anstatt durch immer weitere Vertiefungen an der falschen Stelle die Bevölkerung weiter in die Verarmung zu treibe und nie eine Geldpolitik machen zu können, die beherzt und seriös gleichermaßen wirken kann?

Allerdings sollte man nicht so tun, als ob in Deutschland die Wirtschaft noch eine vernünftige Gesamtbasis hätte. Derzeit brechen die Bauaufträge ein, dem Immobilienmarkt droht das gleiche Schicksal. Warum? Weil es eben zu lange billiges Geld gab, das die Blase immer größer werden ließ. Vielleicht hat die Geldmenge ja doch etwas mit dem Wert des Geldes zu tun? Denn Vermögenszuwächse bringt z. B. ein Hype auf einem Gebiet  nur, wenn die allgemeine Inflation niedrig bleibt und nicht Wertzuwächse bei Wertpapieren oder Immobilien konsumiert. Mit etwas Pech für die Investoren und zur sicher nicht geringen diebischen Freude derer, die von diesen Investoren geplagt wurden, könnte nun eine genau gegenteilige Entwicklung eintreten: Sinkende Marktpreise bei hoher Inflation. Darin läge sogar eine gewisse Gerechtigkeit. Zahlen muss es aber am Ende die Allgemeinheit, wie wir in der Bankenkrise 2009 gesehen haben. Sie wird de Löcher stopfen müssen, die durch das Zusammenbrechen der Spekulationen der letzten Jahre, die auch durch die lockere EZB-Politik befördert wurden, entstehen werden. Ob es so kommt, ist kaum noch die Frage, sondern eher, wann der Zeitpunkt erreicht ist. Das kann so schnell gehen, wenn mehrere Krisen zusammenwirken und es wird härter werden als das, was die meisten von uns gar nicht bemerkt haben, wenn sie nicht „investiert“ waren, nämlich die Krise von 2008-2009. Die EZB ist dafür denkbar schlecht gerüstet, denn „whatever it takes“ kann dann zu einer veritablen Hyperinflation bei gleichzeitigem Schrumpfen der Vermögenswerte führen.

Haben wir schon erwähnt, dass „Tax the Rich“ auch deshalb so wichtig ist? Jetzt Geld für die Bewahrung des wirtschaftlichen Gleichgewichts von den Krisengewinnern abzuschöpfen, bevor es doch noch in Schall und Rauch aufgeht oder nur noch aus Werten besteht, die zwar ebenfalls virtuell, aber doch vergleichsweise krisensicher sind? Jedes Zögern auf diesem Gebiet ist unverantwortlich und man könnte sich manchen finanzpolitischen Kopfstand sparen, wenn man endlich aufhören würde, die Reichen noch reicher zu machen. Denn das ist letztlich die Essenz aller Anstrengungen seit vielen Jahren. Dafür zu sorgen, dass die keinen Schaden nehmen, die sowieso im Überfluss leben. Demgegenüber nehmen sich auch die aktuelle Investitionen in die Sicherung der Mehrheit gegen zu große Preissteigerungen klein aus. Und so muss man ein gerechteres Steuersystem auch begründen: Was hier wenige Personen einstreichen, ohne etwas dafür getan zu haben, reicht locker aus, um auch in diesen Krisenzeiten die Lage zu stabilisieren, ohne Gefahren aller Art durch jede geldpolitische Entscheidung. Die Probleme mit der Geldpolitik sind ein Ausfluss des Unwillens, endlich etwas gegen die Ungleichheit zu tun und dafür auch die Wurzel des Übels anzupacken.

TH

Briefing 59 (hier zu Nr. 58)

Liebe Leser:innen, werfen wir nach den „Midterms“ einen kurzen Blick auf die USA. Die prägnanteste Persönlichkeit, die das Land in den letzten Jahren hervorgebracht hat, ist ganz sicher Donald Trump. Einige meinen, es sei Elon Musk, aber der ist, streng genommen, kein Amerikaner. Wir können in Europa Trumps Erfolg teilweise nur schwer nachvollziehen, aber schauen wir uns eine interessante Grafik an.

Vorausgeschickt sei, dass in den Vereinigten Staaten das Trump-O-Meter mittlerweile offenbar das Thermometer ersetzt hat und mit ihm eine Synthese aus dem deutschen Wahl-O-Mat gebildet hat. Nun ja, fast. Jedenfalls wird die Zustimmung der Republikaner seit einigen Jahren in Trump-Temperaturwerten gemessen, die eben nicht an Sachfragen orientiert zu sein scheint. Die deutsche Variante ist also eher das Politbarometer, es hat ja auch mehr mit der gefühlten politischen Wetterlage als dem mühsamen Abarbeiten von Themen und Positionen zu tun. Zunächst aber zur Grafik:

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Gestern hat Donald Trump seine erneute Kandidatur für das Amt des US-Präsidenten angekündigt. Ob er sich bei den parteiinternen Vorwahlen durchsetzen kann, ist indes derzeit nicht sicher. Während zahlreiche Trump-Kandidaten bei den Midterms scheiterten, fuhr sein innerparteilicher Konkurrent, Ron DeSantis, bei den Gouverneurswahlen in Florida einen souveränen Sieg ein. Und auch unter den Anhänger:innen der Republikaner ist die Begeisterung für Trump zuletzt rückläufig gewesen. Das zeigt etwa eine Erhebung des Pew Research Centers bei der die Teilnehmer:innen gebeten wurden, ihre Gefühle für Donald Trump auf einer Temperaturskala einzuordnen. 41 derjenigen, die sich (eher) als Republikaner:innen bezeichnen entschieden sich für die Antwortoption „sehr warm“ – bei früheren Umfragen waren es deutlich mehr. Gleichzeitig bringen deutlich mehr befrate dem Ex-Präsidenten eher kühlere Emotionen entgegen.

Nun halten wir fest: Ganz die Werte wie während einer offensichtlichen Trump-Mania, als der Präsidentschaftswahlkampf 2020 startete, erreicht The Donald nicht mehr, aber 41 + 19 Prozent, die es in Trumps ähe vor lauter innerer Hitze kaum aushalten oder wenigstens keine teure Gasheizung brauchen, ist das etwa nichts? Was wir anhand der Grafik nicht sehen: Wie sich das schlechte Abschneiden von Trumps Zöglingen und der Republikaner im Allgemeinen bei den Midterms vor einer Woche auf diese Temperaturempfindung der Republikaner:innen ausgewirkt hat. Durchaus möglich, dass das eine oder andere Feuerchen für Trump erloschen ist. Denn gerade in einem Land wie den USA zählt vor allem eines: Nichts wärmt so sehr wie der Erfolg. Und der hat Trump nun einmal durch die Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen verlassen.

Dass er als Mensch unmöglich, übergriffig, narzisstisch, unehrlich, unberechenbar und andauernd in irgendwelche Finanzaffären verstrickt, kümmert in den USA hingegen kaum jemanden, solange: der Erfolg, Stupid! In Deutschland setzt sich dieser Typ Politiker ja auch immer mehr durch, aber so krass wie mit Real Donald Trump ist es bisher zum Glück noch nicht. Nun misst aber die Temperatur, die Wärme, die man für jemanden empfindet, doch nicht den Erfolg, zumindest suggeriert diese Art von Messung das, sondern ein persönliches Gefühl. Manchmal beschleicht uns der Eindruck, dass hierzulande über Trumpf falsch berichtet wird, zumindest teilweise. Denn wieso empfinden ihn so viele Menschen dort nicht nur als Politiker mit den richtigen Ansichten, sondenr offenbar auch richtig sympathisch? Bevor man jetzt auf die schiefe Bahn kommt, muss man sich vergegenwärtigen, dass Ansichten und Eigenschaften nicht ohne weiteres voneinander zu trennen sind und Doppelmoral = gar keine Moral ist. Sich sozusagen neutralisiert. Häufig jedenfalls. 

Was wir für ethisch und sympathisch halten ist außerdem nicht unbedingt das, was wir von Politiker:innen erwarten, die unsere Interssen durchsetzen sollen. Einige hätten sie gerne, jene eierlegende Wollmilchsau (es sei denn, es sind Veganer), aber die gibt es nun einmal nicht. Manchmal kommt ein sehr freundliches Gehabe mit einer in Wirlichkeit äußerst druckvollen Politik zusammen, aber nicht so häufig, weil die Medien schon dafür sorgen, dass das eine oder das andere in die Kritik gerät, sodass jemand schließlich doch kenntlich wird. Es ist nicht mehr so leicht wie früher, Camouflage zu betreiben und man sagt dem modernen Medienbetrieb ja auch nach, dass er die Demokratie eben deshalb fördert. Bei Trump war das aber nie so. Man musste von Beginn an, mit wem man es zu tun hat und es hat funktioniert. Abgesehen davon, dass er nach Stimmenzahl schon die Wahl 2016 nicht gewonnen hat, trotz einer Gegnerin, die wirklich ein Biest war und vielleicht die Nieerlage auch verdient hatte. Bzw. die Demokraten hatten die Niederlage verdient, weil sie Bernie Sanders ausgebootet hatten. 

Wenn man verstehen will, wie ein Präsident Trump überhaupt möglich werden konnte, muss man eben wissen, dass ganz viele Menschen in den USA für ihn Sympathie und Verehrung empfinden, nicht nur eine Übereinstimmung mit seinen Positionen. Man kann die Gesellschaft dort dafür ausschimpfen, dass sie solch einen Mann toll findet, man kann über das Country fliegen und froh sein, an den Küsten eher auf jene zu treffen, die nicht so viel mit ihm anfangen können, aber es nützt ja nichts: Sie stellen nur eine Hälfte der USA dar, falls es überhaupt die Hälfte ist. Sie beherrschen die Meinung. Die Ostküsten-Elite, einerseits, das liberale Kalifornien mit Hollywood als Wahrnehmungszentrum sind meinungsstark wie sonst keine Cluster auf der Welt und etwas mehr linksliberal als der Rest des Landes, aber gegen diese Meinungsführer:innen ist Trump im Primzip auch angetreten, als Anwalt oder Sachwalter derer, die im gesellschaftlichen Diskrus nicht viel zu melden haben, aber geografisch gesehen, flächenmäßig, den größten Teil der USA beherrschen. Vielleicht ist Vorstellung, die wir uns von einem Land machen, das überwiegend von Rednecks bewohnt wird, auch ein wenig zu sehr vom Wunsch nach Grusel erfüllt, aber ist das, was wir sehen, diese Dualität, wirklich auch eine Spaltung? Udn vor allem, ist es mehr eine Spaltung heute, als es früher der Fall war? Und wieder beschleicht uns das Gefühl, es wird medial mit Zitronen gehandelt.

Der Druck, jeden Dissens durch Sprachverwendung glattzubügeln, ist heute so groß geworden, dass er umso mehr aufallen muss, wenn Menschen sich diesem Trail zur Selbstoptimierung nicht anschließen wollen. Sicher ist die Gesellschaft in den USA heute verfestigter als in den legendären Pionierjahren, in denen alles in Bewegung zu sein schien, aber eine hohe Durchlässigkeit besteht nach wie vor, wie man auch an der Verschiebung der Herkunftsnationalitäten der Einwohner sieht, die nach wie vor beachtlich groß ist. Aber Trump erfährt wohl etwas wie Dankbarkeit von all jenen, die sich missachtet und marginalisiert, nicht respektiert gefühlt haben. Dabei kommt ihm zugute, dass er selbst zwar auch zu den Reichen gehört, aber nicht zur Elite. Das wird immer zu sehr gleichgesetzt, aber Geld und politischer Einfluss sind auch in den USA nicht immer gleich verteilt. Am besten, man hat beides, aber Trump hat es geschafft, den Eindruck zu erwecken, als sei seine Person gespalten in einen erfolgreichen Unternehmer und eine Person, die nichts mit der Ostküstenelite zu tun hat. Auch das stimmt natürlich nicht, aber ganz falsch ist es auch nicht. Trump ist zum Beispiel kein WASP, und diese Zugehörigkeit zur uralten Elite zählt immer noch, in einem Land, das einst sämtliche Einflussnehmer in den Neuenglandstaaten versammelt wusste. Nun sollte man einmal feststellen, wie diejenigen, die sich an Trumps Wesen wärmen, soziologisch und herkunftsseitig verortet sind. Dann wird man wohl überwiegend auf Nichtangehörige der alten Elite angelsächsischer Herkunft stoßen, die aber doch im Land schon länger etablier sind und glauben, dass sie trotzdem zu wenig dazugehören. Je mehr Einwanderer sich etablieren, aber nicht zu den Eliten zählen und sich gerade deshalb nach unten abgrenzen möchten, je konservativer diese Neuankömmlinge sind oder werden, desto mehr werden Trumps Politik und sogar sein Stil mehrheitsfähig bleiben. Im Prinzip war das das sogar meistens so, während der fast 250-jährigen Geschichte der USA.

Wir sind in Europa zu sehr geprägt von den Epochen der Roosevelts und Kennedys, die, in Verbindung mit gutem Marketing, die USA haben als Demokratie glänzender wirken lassen, als sie sind. Gerade die wenigen Kennedy-Jahre haben bis heute einen tiefen Eindruck hinterlassen. Was wir im Moment sehen, ist also auch eine Rückkehr zu den Wurzeln eines Landes, in dem Mitleid und Solidarität und Kooperation mit dem Rest der Welt auf Augenhöhe einen relativ geringen Stellenwert haben.

Deshalb wird heute, anders als während des Vietnamkrieges, als es auch ums Prinzip ging, die Außenpolitik kaum hinterfragt, es sei denn, sie fordert zu viele amerikanische Todesopfer. Und gerade da hat Trump etwas vollbracht, was ihm viele wohl hoch anrechnen: Er hat auf den Tisch gehauen und sein „America first“ nach deren Ansicht glaubwürdig vertreten, ohne einen neuen Krieg anzufangen. Dass versierte Staatenlenker und Strategen sich über Trumps Rumpelstilzchenstil wohl heimlich lustig gemacht haben, mag sein, aber die USA sind immer noch stark genug, dass man sich nicht offen mit ihnen anlegt und davon hat Trump profitiert, obwohl sein Auftreten aus der Zeit gefallen schien.

Selbst das trifft aber nicht zu, denn Typen, die den starken Max markieren, sind sehr in Mode. Bei uns zum Beispiel regt sich die Presse darüber auf, dass Kanzler Scholz kein solcher Typ ist. Das ist Ihnen sicher schon aufgefallen.

Wer immer auf den alten Joe Biden folgen wird, es wird wohl wieder rauer zugehen im Verhältnis zwischen den USA und den anderen. Es sei denn, ein:e wirklich linke:r Kandidat:in würde auftauchen und die Herzen der Menschen wärmen, die sich vielleicht irgendwann doch einmal nach mehr Ethik sehnen und der ewigen Gewalt in allen Dingen müde sind.

Aber das glaubt doch, ehrlich geschrieben, niemand. Wir halten deshalb das nächste Präsidentschaftswahlrennen für vollkommen offen. Und dabei haben wir noch nicht besprochen, dass die Amerikaner wirtschaftlich nicht so opferbereit sind wie zum Beispiel die Menschen in Deutschland. Vieles wird von recht simplen Dingen abhängen, hieß es vor den Midterms. Und dann hat der Benzinpreis doch, welch Überraschung, nicht über alle anderen Themen dominiert. Einige haben sogar verstanden, dass Präsident Biden ihn nicht mutwillig in die Höhe getrieben hat, um seine Landsleute zu ärgern und Amerika klein zu machen, wie die Trumpisten es behauptet haben. Ob Trump selbst wieder für Hitzewallungen in aller Welt sorgen wird oder die Flamme weitergibt, wir müssen uns darauf einstellen, dass fischiges Wesen in den meisten Ländern nicht zieht, weil es eben nicht lodert und glimmt. Das Waterkantige deutscher Scholz-Prägung wird wohl dann zu seiner Renaissance finden, wenn die Menschen merken, dass etwas mehr Kühlung in einer überhitzten Welt nottut

TH

Briefing 58 (hier zu Nr. 57)

Ob wir heute wirklich acht Milliarden geworden sind, wissen wir nicht. Es ist nur eine Kalkulation der UNO, die den 15.11.2022 als den Tag festlegt, an dem es auf der Erde acht Milliarden Menschen gibt.

Tendenz weiterhin steigend, trotz weltweit sinkender Geburtenraten. Weltweit? Es gibt eine Ausnahme, und die macht den Unterschied. Denn in schieren Zahlen ist auch eine sich prozentual abschwächende Zunahme der Population immer noch gewaltig. Je länger die Entwicklung vorausgedacht wird, desto ungenauer werden diese Prognosen selbstredend. Es gibt viele Ereignisse, welche die Bevölkerungsentwicklung bremsen könnten, die Unwägbarkeiten wachsen.

Infografik: Weltbevölkerung erreicht die 8-Milliarden-Marke | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die Zahl der Menschen auf der Welt übersteigt nach UN-Berechnungen in etwa morgen die Schwelle von acht Milliarden. Das sind mehr als dreimal so viele wie noch 1950. Da es unmöglich sei, den Überblick über hunderttausende Geburten und Todesfälle pro Tag zu behalten, haben die Vereinten Nationen die Monatsmitte für den Menschheits-Meilenstein ausgewählt.

Laut Prognose der UN Population Division wird die Weltbevölkerung im Jahr 2059 bereits die Zehn-Milliarden-Marke überschreiten. Zum Ende des Jahrhunderts wird die Zahl dann jedoch leicht zurückgehen. Das Wachstum der Weltbevölkerung verlangsamt sich bereits seit Jahrzehnten, wie die gelbe Linie in der Grafik veranschaulicht.

Das Wachstum liegt laut UN-Experten am allmählichen Anstieg der Lebenserwartung in Folge von Verbesserungen im Gesundheitswesen, der Ernährung, der persönlichen Hygiene und in der Medizin. Es sei zudem auch das Ergebnis von hohen und beständigen Geburtenraten in einigen Ländern. Die Länder mit der größten Bevölkerung 2022 sind China (1,41 Milliarden Einwohner), Indien (1,41 Milliarden Einwohner) und die USA (333 Millionen Einwohner). Bezogen auf die Bevölkerung nach Kontinenten leben Mitte des Jahres 2021 rund 59,3 Prozent der Menschen in Asien.

Momentan wächst die Weltbevölkerung jährlich um rund 82,4 Millionen Menschen. Die Länder mit dem höchsten Bevölkerungswachstum im Jahr 2021 waren Syrien, der Niger und Äquatorialguinea, insgesamt wird das Ranking von afrikanischen Staaten dominiert. In der Liste der Länder mit dem höchsten Bevölkerungsrückgang dominieren hingegen ost- und südosteuropäische Staaten, die aufgrund des Lohn- und Entwicklungsgefälles zu Westeuropa mit hohen Auswanderungszahlen zu kämpfen haben.

Weit vor dem Jahr 2100 wird also nach der mittleren Prognose in dieser sehr anschaulichen Grafik das Bevölkerungswachstum zum Erliegen kommen. Sollte man schreiben: hoffentlich! Es gibt unterschiedliche Ansichten dazu, wie viele Menschen der Globus vertragen kann. Eine fanden wir besonders schick: Da ist noch viel Platz, die Reichen müssen nur mal aufhören, solche riesigen ökologischen Fußabdrücke zu hinterlassen. Haben Sie den Eindruck, dass die Politik etwas Wesentliches tut, um eine Gegenbewegung zu erzeugen?

Im Gegenteil, die Ungleichheit wächst immer weiter und dieser klar belegbare Trend, nicht eine weitere Zunahme der Bevölkerung an sich, lässt ein weiteres Ansteigen des Überdrucks an jungen Menschen in armen Ländern zu einer Gefahr werden, weil sie in ihrem Lebensraum keine Lebensgrundlage mehr finden. Die Klimakrise wird ein Übriges tun, um Wanderungsbewegungen zu beschleunigen, die wir längst sehen. Bis zu einer gewissen Grenze kann man das ausgleichen, indem man Menschen aus diesen Ländern aufnimmt, aber natürlich nicht in dem Maße, in dem die Bevölkerung speziell in Afrika ansteigt. Eine Zangenbewegung aus anhaltend hoher Fertilität und immer weniger bewohnbarem und dem Ackerbau zugänglichen Territorium in Ländern, in denen die meisten Menschen zu den Ärmsten weltweit zählen, kann eine erhebliche global destabilisierende Wirkung haben. Zusammenrücken muss, wenn dieser Trend anhält, die Mehrheitsgesellschaft in Ländern, in denen die Mehrheitsgesellschaft ebenfalls nicht mehr wohlständiger wird, nicht die Reichen werden etwas abgeben müssen. Neben dem humanistischen Aspekt ist immer auch der  klassenpolitische zu bedenken.

(Noch) mehr Ungleichheit senkt, mehr Gerechtigkeit erhöht die Aufnahmefreundlichkeit der Mehrheit, die für eine gelungene Weiterentwicklung unter Einschluss von Immigrant:innen benötigt wird, davon sind wir überzeugt. Es geht aber auch darum, den globalen Süden selbst, „vor Ort“, besserzustellen, in der Regel wächst mit einer gut organisierten, am Prinzip der Solidarität orientierten Entwicklungs- und Handelspolitik nicht nur der Wohlstand derer, die nicht zu einer kleinen, korrupten Oberschicht gehören, auch die Geburtenrate sinkt in der Regel, wenn die allgemeinen Lebenschancen sich verbessern. Das ist nicht paradox, sondern folgt dem Prinzip, dass viele die eigene Existenz erhaltende Aufgaben, das Abfangen von Wechselfällen des Lebens, an starke Institutionen übertragen werden können, wenn die Infrastruktur sich verbessert; Aufgaben kommunalisiert werden, die man, auf sich allein gestellt, nur durch eine große Familie zu bewältigen können glaubt.

Auch wenn es möglich ist, durch besseres Management und eine nachhaltige Energiewirtschaft die ökologischen Folgen eines weiteren Bevölkerungsanstiegs zu mindern, würden wir es begrüßen, wenn die Weltbevölkerung tatsächlich gemäß der (in etwa) mittleren Prognose auf ein harmonisches, nicht durch Kriege und Krisen, sondern durch eine Steigerung der individuellen Perspektiven hervorgerufenes Abflachen der Zunahme einschwenken würde. Nicht nur die prozentuale Steigerung, auch die Zuwachszahlen müssen sinken, wenn etwas Druck aus dem ökologisch-ökonomischen Kessel weichen soll. Eine harmonische Entwicklung wäre zum Beispiel eine, die nicht dazu führt, dass immer mehr Menschen heimatlos werden und sich um die Kerne großer Städte auf verschiedenen Kontinenten herum riesige Slums bilden, in denen kein geordneter Existenzaufbau möglich ist.

Ein Denken und Handeln der Verantwortlichen, bei dem die Lebensqualität für die Weltbevölkerung in den Vordergrund rückt, tut dringend not. Gerade in Zeiten, in denen es auch bei uns für die Mehrheit nicht mehr vorangeht und teuer Erkämpftes mit mehr Verve verteidigt werden muss als bisher. Die persönliche Solidarität muss immer begleitet sein von Fragen und Mahnungen an die Politik. Wenn man Letzteres unterlässt, hat man irgendwann nicht mehr die Kapazität, um Ersteres auf menschenwürdigem Niveau zu leisten.

TH

Briefing 57 (hier zu Nr. 56)

Ganz sicher haben wir noch nie über ein Sportereignis so kritisch berichtet wie über die Fußball-WM in Katar. Nicht die Leistungen deutscher Mannschaften betreffend, nicht mit Blick auf das Doping, das wir für das größte immanente Problem im Sport halten, sondern wegen der Ausrichtung der WM in einem Land, das in keiner Hinsicht die Anforderungen an einen Standort erfüllt, der mit einem solchen Großereignis bedacht werden sollte. Hier unsere bisherigen Artikel:

Diese WM als sportpolitisches No-Go, das ist natürlich unsere Sicht, und die ist nicht kommerziell ausgerichtet. Ein Geschäft wird auch diese WM werden, für viele Seiten. Außerdem kann man sie sich schönreden. Zugegeben, in Deutschland herrscht diesbezüglich ein gewisser Realismus vor. Nur eine Minderheit würde die WM boykottieren wollen wegen der Menschenrechtslage in Katar, und, wie wir gleich sehen werden, nur eine Minderheit glaubt, dass sich zugunsten der Menschen dort durch die WM etwas verbessern wird:  

Infografik: WM-Effekt: 1/5 der Deutschen glaubt an ein toleranteres Katar | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Nur 20 Prozent der für den Statista Global Consumer Survey in Deutschland befragten Menschen sind der Meinung, dass Katar durch die Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft toleranter wird. Ein homophober Ausfall des katarische WM-Botschafters und und früheren Fußball-Nationalspielers Khalid Salman scheint diese Befürchtungen zu bestätigten. Salman hatte in einem Interview in der ZDF-Dokumentation „Geheimsache Katar“ Homosexualität als „geistigen Schaden“ bezeichnet. Statements wie dieses dürften nicht dazu beitragen, die internationale Reputation des Emirats zu verbessern. Dass die FIFA-WM einen solchen Effekt habe könnte, glaubten aber auch schon vor Bekanntwerden des Vorfalls nur 19 Prozent der Befragten.

Diejenigen, die glauben, die Menschenrechtslage in Katar würde sich durch die WM verbessern, dürften anteilsmäßig, nicht unbedingt in Form derselben Menge, in etwa mit jenen übereinstimmen, die an den Weihnachtsmann oder wahlweise daran glauben, dass Wladimir Putin ein guter Mensch ist, der leider aufgrund der aussichtslosen historischen Lage, in der sich sein Land befindet, gezwungen wurde, die Ukraine anzugreifen. Wir haben anhand unseres Briefings 55, das sich mit der Revolution im Iran befasst, nicht zum ersten Mal darauf hingewiesen, dass solche Ereignisse eher bestehende Regime stärken und damit auch deren repressive Tendenzen, als dass sie zu Veränderungen führen. Der Nationalstolz wird geweckt, wenn ein so kleines Land eine Fußball-WM ausrichtet, zumindest der Stolz jener, die in so einem kleinen Land etwas zu sagen haben, also der einheimischen, ölgetriebenen Oberschicht. Interessanterweise haben Sanktionen eine ähnliche stabilisierende Wirkung wie dieses Pushing, nur ist der Spin der Herrschenden eben ein andere. Einerseits: seht her, die Welt erkennt uns an und begrüßt unseren Weg. Andererseits: Seht, wie die Welt mit uns umgeht und uns ungerecht behandelt, weil wir unseren eigenen Weg gehen, da müssen wir nun, koste es, was es wolle, den Widerstand aufrechterhalten. Kuba ist wohl das exemplarische Land für letztere Variante. Im Grunde wäre, sofern es nicht um geopolitisch überragende Länder und Vorgänge geht, Neutralität, gerne auch Missachtung, die beste Variante, also weder Anhebung noch Niederdrückung. Die Effekte beider Eingriffe sind kaum vorhersehbar und Interventionen haben schon sehr oft zu ganz und gar unerwünschten Ergebnissen geführt. Es sei denn, man denkt immer um die Ecke und deklariert das, was auf den ersten und sogar auf den zweiten Blick unerwünscht scheint, um Gegenteil, wie die Verschwörungstheoretiker das gerne tun. In Katar aber geht die Weltgemeinschaft sehenden Auges mal wieder in den moralischen Bankrott, das ist das Problem, besonders für die Demokratien. Zum Glück können sie es in diesem Fall weitgehend auf die FIFA schieben, denn es war ja keine supranationale Entscheidung, Katar eine Fußball-WM ausrichten zu lassen.

Wirklich nicht? In der FIFA sitzen viele vor allem alte weiße Männer, welche die Interessen der nationalen Fußballverbände vertreten und der Sport ist oft sehr eng mit der Regierungspolitik verbunden. In manchen Ländern, wo der Sport mehr dem nationalen Prestige dient als bei uns, etwas enger als hierzulande. Dennoch, uns ist nicht bekannt, dass aus der hiesigen Politik sehr viele kritische Stimmen zu Katar gekommen sind. Außerdem ist der Fußball ein Riesengeschäft, mehr als fast alle anderen Sportarten. Mehr als alle anderen, wenn man die speziell in den USA favorisierten Event-Mannschaftssporte wie Baseball, Basketball und American Football extrahiert. Was damit passiert, hat aber nicht den weltweiten Signalwert wie Olympische Spiele als das Hauptereignis des Sports oder, wie an zweiter Stelle, die Weltmeisterschaften in einer Sportart, die fast überall auf der Erde die Nr. 1 ist und in manchen Ländern sogar identitätsbildend. Wir erinnern uns noch gut daran, wie es in Brasilien angesichts des Titelgewinns von 1994 hieß: Bei uns ist zwar gerade alles ziemlich Scheiße, aber, gottlob, der Fußball! Ob diese Einstellung ebenso schädlich ist wie die politische Instrumentalisierung der Religion, sei dahingestellt, aber es handelt sich ja auch um eine Art Religion für die Massen – und um ein Konsumprodukt. Beides zusammen sorgt dafür, dass nicht groß hinterfragt wird, ob es wirklich angängig ist, eine Fußball-WM in Katar durchzuführen.

Manchmal geht es auch ein wenig ins Lächerliche. Sorry, dass wir das so empfinden:

Reise beginnt: Fußball-Nationalmannschaft auf dem Weg zur WM | WEB.DE

#Fanhansa #DiversityWins.

Ist das nur naiv oder Marketing, verbunden mit Selbstbeweihräucherung? Schon die Funktion des Fußballs als Förderer der Diversität wurde häufig genug kritisch hinterfragt, aber in dem hier gegebenen Rahmen dürfte das Ganze eher eine Beruhigungspille für die deutschen Aktiven und ihren Trainerstab sein. Und natürlich für den DFB als größten Einzelverband innerhalb der FIFA. Haben Sie mitbekommen, dass man den Dänen verboten hat, mit einem Diversity-Look der Trikots aufzulaufen? Dabei hat die WM noch gar nicht angefangen. Für uns ist sie, das Angucken von Spielen betreffend, bereits zu Ende. Wir hoffen trotzdem, dass #DiversityWins nicht deshalb ins Negative gedreht werden kann, weil die deutsche Mannschaft z. B. vorzeitig aus dem Utnier fliegt. Jetzt merken Sie mal, was geschicktes Markteing ist. Man drückt die Daumen mehr, als man es eigentlich vorhatte.

Wir denken trotzdem darüber nach, die einzige bisher postulierte Ausnahme von der Abstinenz zu streichen, nämlich eine Endspielteilnahme der deutschen Mannschaft. Um ehrlich zu sein, diese Statement-Politik ist uns zu affig. Besser vielleicht, als weiterhin ein Klima aufrechtzuerhalten, in dem sich Sportler nicht outen können, aber gibt es da nicht auch immer noch eine Diskrepanz? Es bewegt sich ein bisschen was. Aber nur, weil mutige Einzelpersonen vorangehen, nicht, weil in den Vereinen aus Überzeugung an mehr Akzeptanz aller geschlechtlichen Ausrichtungen gearbeitet wird.

Wir erwähnen das deshalb wegen des Eklats, den auch Statista nicht unerwähnt lässt und zu dem wir im Briefing 54 einen Artikel verlinkt haben. Wenn es nicht immer mehr Länder geben würde, die genau in die falsche, intolerante, antidiverse Richtung tendieren würden, könnte man ja noch sagen: es ist das Bohren dicker Bretter. Irgendwann werden alle gleich behandelt und glücklich sein. Aber gerade jetzt, wo so viele Staaten Probleme damit zeigen, die Qualität ihrer Demokratien aufrechtzuerhalten, ist es umso wichtiger, Katar auch als Symbol für eine ziemlich große Leichtfertigkeit in dieser Hinsicht anzusehen und nicht als kleinen Betriebsunfall in der im Ganzen großartigen Geschichte der Vergabe sportlicher Großereignisse.

Noch ein unerlässlicher Absatz zur Verbesserung derMenschenrechte durch Sport: Wo fanden 1936 die Olympischen Sommerspiele statt? Wurde es nach diesem Schaufenster-Event in jenem Land, in dem sie ausgerichtet wurden, besser oder schlechter mit den Menschenrechten? Hatte es langfristig positive Auswirkungen, dass die USA erstmals in der Geschichte der Spiele mit einem Boykott drohten, wenn für das Gastgeberland keine jüdischen Sportler:innen starten dürfen? Worauf hin dies geändert wurde. Wir kennen den weiteren Verlauf der Geschichte. Sport macht sehr selten nachhaltige Politik im positiven Sinne. In der Regel kann er nur davor bewahrt werden, von rigiden Regimen als Booster für ihre Reputation missbraucht zu werden. Das hat die FIFA nicht interessiert, als sie die Spiele nach Katar vergab. Deswegen werden wir uns auch mit der FIFA in einer weiteren Fortsetzung dieser Beitragsreihe etwas mehr befassen.

TH

Briefing 56 (hier zu Nr. 55, „Frauen, Leben, Freiheit“)

Dieser Beitrag ist eine Fortsetzung des Briefings 54 zur Fußball-WM in Katar. Heute stellen wir eine Petition vor, die sich mit dem Fußballereignis des Jahres inhaltlich auseinandersetzt und zum Boykott aufruft. Viel dazu erklären müssen wir nicht mehr, es ergibt sich aus den bisherigen Artikeln, dass wir diesen Aufruf unterstützen und bereits unterschrieben haben.

Da wir den Aufruf als Fotografie abgebildet haben, hier der Link zur Unterschrift:

 

 

Da wir den Aufruf als Fotografie abgebildet haben, hier noch einmal der Link zur Unterschrift

Auf ein Argument möchten wir noch kurz eingehen, weil es bisher in unserer Katar-Berichterstattung nicht besprochen wurde: Der Sport als Motor für Verbesserungen der Menschenrechtslage in einem Land. Das ist leider kompletter Unsinn. Wurden in China oder Russland die Menschenrechte nach sportlichen Großereignissen der letzten Jahre mehr berücksichtigt? Verbesserte sich die Pressefreiheit? Im Gegenteil. Eher liegt der Verdacht nah, dass autoritäre Staaten den Gewinn an Renommee, den sie durch solche Ereignisse erzielen, ausnutzen, um im Inneren noch rigider zu werden und, im Fall dieser Imperien, sich nicht davon abhalten lassen, nach außen immer aggressiver aufzutreten. Selbstverständlich gilt diese Ignoranz von Fairplay geopolitisch auch für westliche Staaten, aber die Menschenrechtslage ist allgemein doch (immer noch, mit Tendenz in Richtung „es wird schwieriger“) um entscheidende Stufen besser. Wenn man die Maßstäbe ganz eng setzen würde, dürften höchsten noch in Skandinavien internationale Sportveranstaltungen ausgetragen werden. Deswegen muss man eine Grenzziehung vornehmen, die sogenannte vollständige Demokratien einschließt und als berechtigt und befähigt zur Ausrichtung von Ereignissen der gegebenen Größenordnung deklariert.

Bisher in der Reihe innerhalb des Briefings erscheinen:

TH

Briefing 55, #IranRevolution2022 1, hier zu Briefing 54

Für uns begann das, was vielleicht als zweite iranische Revolution in die Geschichte eingehen wird, am 22.10.2022. An jenem Tag versammelten sich in Berlin offiziell 80.000 Menschen, um unter dem Motto „Frau, Leben, Freiheit“ gegen das Mullah-Regime von Teheran zu protestieren. Heut trendet auf Twitter #IranRevolution2022. Der richtige Moment, um diese Artikelserie zu starten.

Berlin, Straße des 17. Juni, 22.10.2022

Es war die größte Kundgebung für die Menschen im Iran, die bisher in Europa stattgefunden hat und wir waren dabei. Es sollte nur ein „Beifang“ sein, wir wollten schnell von „Solidarischer Herbst“ rübermachen, vom Brandenburger Tor zur Siegessäule gehen, weil es hieß: „Da drüben, da kämpfen Menschen, unterstützt sie.“ Wir marschierten also von einer, hoch angesetzt, 5.000-Menschen-Demo zu einer, die tatsächlich wohl die 100.000er-Marke geknackt hat, um ein wenig mit Solidarität auszuhelfen. Wir kamen uns ziemlich albern dabei vor, nachdem wir gemerkt hatten, mit welcher Wucht und Verve hier Menschen tatsächlich wegen einer Herzensangelegenheit und wegen des Kampfes auf Leben und Tod dicht an dicht auf die Straße gingen. Man kann diese Kämpfe aber nicht gegeneinanderstellen, sie dienen alle demselben Zweck: Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Man kann höchstens, auf deutsche Verhältnisse bezogen: Das geht besser und muss besser gehen.

Es war so eng, dass wir für einen Moment ein seltenes Gefühl von Herzrasen hatten, wir wurden geradezu mitgespült und haben Fotos und Videoschnipsel von der Demo gemacht. Es war so laut, wie wenn Gefangene und Gefolterte zu einem mächtigen Freiheitschor anheben und so war es auch. Aus ganz Europa kamen sie nach Berlin, Exil-Iraner:innen und Unterstützer:innen, wie die Kennzeichen der Busse, die in einer langen Reihe abgestellt waren, belegten. Die hiesige iranische Community dürfte ohnehin fast komplett auf den Beinen gewesen sein. Nachdem es in Berlin die Love Parade nicht mehr gibt, die WM 2006 stattfand, als wir noch nicht hier wohnten und wir bei „Unteilbar“ nicht dabei waren, wurden wir also Augenzeugen und irgendwie auch Mitmacher der bisher größten Massenveranstaltung seit den 1980ern, als es um Frieden und Abrüstung ging und des größten Events, seit wir in Berlin wohnen.

Berlin, Siegessäule, 22.10.2022

Wie beeindruckend und emotional das war, werden wir in der Bilderserie darstellen, die wir dem Bericht über die Revolution beifügen. Wir wollen daraus ein kleines Dossier machen, das wir immer wieder mit neuen Entwicklungen und Aspekten ergänzen. Wir widmen es dem gegenwärtig nach dem Krieg in der Ukraine wohl größten Freiheitskampf, den mutigen Frauen und auch Männern, die ihn führen, einer Kultur, die wir schätzen, einem Zweck, der über allen anderen steht: die Erlangung von Menschenwürde. Ein großer Kampf, der von Teilen der Linken übrigens totgeschwiegen wird. Aus dem simplen und gemeinen Grund, weil das Mullah-Regime einer der letzten wertvollen Verbündeten von Wladimir Putins Regime ist. Iranische Kampfdrohnen gegen die Ukraine und gegen die Freiheit? Zunächst war es eine Vermutung, mittlerweile ist es belegt und wird von der iranischen Regierung zugegeben. Es handelt sich hier um ein Regime, das so weit von links entfernt ist, wie ein Regime nur sein kann, deswegen haben wir uns auch darüber gefreut, dass Teile der Demo dieses linke und sogar stellenweise antikapitalistische Gepräge hatten. Das hat auch mit der Genese von „Frau, Leben, Freiheit“ zu tun, ursprünglich ein Spruch der kurdischen Arbeiter:innenbewegung.

Eine freiheitlichere Regierung im Iran würde sich unweigerlich mehr am Westen orientieren, für die Freunde von Autokratien im günstigsten Fall den halbdemokratischen und neutralen Weg gehen, wie Indien, sich aber gewiss nicht an Wladimir Putin ketten. Wir werden durchaus kritisch beleuchten, dass es auch Aspekte gibt, die man hinterfragen oder beleuchten muss, wie bei jeder großen Bewegung, die viele Strömungen vereint. Uns sind zum Beispiel auf der Demo am 21.10. viele Fahnen aufgefallen, die bis 1979 die offizielle Staatsflagge des Iran waren, also die es Schah-Regimes, mit dessen verdientem Ende sich damals durchaus große Hoffnungen auch von Menschen verknüpften, denen das alte Regime schon zu reaktionär war und deren Angehörige nicht selten von der berüchtigten SAVAK traktiert wurden, der Geheimpolizei des Schah. Der Film „Persepolis“ aus dem Jahr 2007 gibt die Haltung eines bestimmten Teils der intellektuellen Mittelschicht im Iran gut wieder und ist für uns einer der besten politischen Animationsfilme überhaupt.

Viele Iraner:innen, die damals in den Westen flohen, waren auch klare Anhänger:innen dieses Regimes, daher ist es ebenfalls logisch, dass sie Gegner:innen des Islamischen Staates sind. Ausgeglichen wurde das für uns durch die erwähnten linken Gruppierungen.

Doch gerade das Beispiel der erwähnten SAVAK klärt darüber auf, wie komplex Geschichte ist und wie einfach doch, wenn man sie auf institutionelles Recht oder Unrecht herunterbricht. Schon Mohammed Mossadegh, der mit Hilfe des Westens gestürzte Premierminister, der durch den vom Westen alimentierten Schah ersetzt wurde, fing an, diese berüchtigte Geheimpolizei aufzubauen und es gibt sie unter dem Namen VEVAK noch heute. Sie hat, bar aller rechtsstaatlichen Grundsätze operierend, also drei Regierungsformen überstanden. Und dies in einem Land, das eine große Kultur der gesellschaftlichen Verantwortung der Gebildeteren kennt. Dabei bedingt dies einander: Eine wache Schicht von Intellektuellen muss immer bespitzelt und bedroht werden, wenn Regime zwar Verantwortungsbewusstsein fordern, aber Freiheit nicht zulassen. Es gibt in dieser Hinsicht durchaus Parallelen beispielsweise zur DDR. Das Mullah-Regime im Iran besteht nun übrigens schon länger, als es die DDR gegeben hat. Es ist zählebig, keine Frage, und wie die aktuelle Situation sich entwickelt, nach unserer Ansicht noch vollkommen offen. Bis auf einen Punkt: Einen friedlichen Übergang wird es nicht geben, das zeigt sich bereits zu deutlich.

Die permanente gesellschaftliche Reibung zwischen nach wie vor vergleichsweise modernen Städter:innen und dem Religionsstaat hatte nach der iranischen Revolution von 1979 für kurze Tauwetterphasen, für das Aufkommen der Idee eine Kooperation von geistlicher und weltlicher Elite zum beiderseitigen Gewinn gesorgt. Doch dann kam stets die konservative Gegenbewegung, kamen die sogenannten Sittenwächter und dadurch ist im Iran so viel gesellschaftlicher Druck unter den Deckel gekommen, dass dieser jetzt, ausgelöst durch einen Todesfall, hochfliegt und Menschen sich in Lebensgefahr begeben, um auf der Straße Veränderungen zu fordern.

Das Fanal für eine aufstandsähnliche Situation war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in Polizeigewahrsam im September 2022. Sie wurde eingesperrt, weil sie sich nicht dem Kopftuchzwang beugen wollte.

Iran: Tote bei Protesten um Mahsa Amini – ZDFheute

So stellte sich also die Situation einen Monat vor dem großen Protestzug in Berlin dar, diesem tatsächlichen heißen Herbst, bei dem es um alles ging, was das Leben von Menschen lebenswert macht. Seitdem ebbt die Gewalt im Iran nicht ab und es soll bereits zu mehr als 300 Toten gekommen sein.

Berlin, Straße des 17. Juni, 22.10.2022

Die meisten Frauen auf dem Protestzug vom 22. Oktober in Berlin trugen keine Kopfbedeckung und wer uns noch mal mit dem Spin daherkommen möchte, das alles sei nicht politisch und repressiv ins Weltliche, ins Politische, wie ein Keil in eine verfassungsrechtlich gesicherte freiheitliche Ordnung hineinragend, wer reaktionäre, repressive  Gesellschaftsbilder auch bei uns ganz okay findet und alle, die das kritisch sehen, am liebsten in die rassistische Ecke stellen würden, der soll sich anschauen, wie ein solches Weltbild im Iran gehandhabt und als gesellschaftliches Druckmittel eingesetzt wird. Wir kontern: Wer das durchwinkt oder gar gut findet, ist zutiefst frauenfeindlich.

Der Unterschied zu einzelnen sozialen Systemen hierzuland ist bisher, dass das gesamte Staatssystem dort auf diesem Druck aufbaut. Dass familien- und gruppeninterner, nichtstaatlicher Zwang, wie häufig bei uns der Fall, ebenfalls schwerwiegende individuelle Folgen insbesondere für Frauen haben kann, ist kein Geheimnis. Deshalb hören wir genau hin, wenn insbesondere Frauen nach Leben und Freiheit rufen, ihr Leben aufs Spiel setzen und die Freiheit vielleicht niemals gewinnen werden, während hierzulande wohlfeile Relativierungen und eiskaltes Schweigen gerade im linken Spektrum um sich greifen.

Wir schließen diesen einleitenden Artikel mit dem Spruch, der die Herzen von vielen Millionen Menschen auf der Welt bewegt:

Frau, Leben, Freiheit – Wikipedia

Frau, Leben, Freiheit (kurdisch ژن، ژیان، ئازادی Jin, Jiyan, Azadîenglisch Woman, Life, Freedom) ist ein politischer Slogan aus der Arbeiterpartei Kurdistans, der darauf abzielt, die Bedeutung von Frauen hervorzuheben.[1][2]

Während der Proteste, die auf den Tod von Mahsa Amini folgten, wurde der Slogan von Demonstrierenden weltweit verwendet, sowohl in der ursprünglichen kurdischen Form als auch auf Persisch (زن زندگی آزادی Zan, Zendegi, Azadi). Laut Hamid Hosravi, Dozent und Lektor für Persisch am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich, ist der Slogan die zentrale Parole der Proteste und ein Zeichen, dass die Bewegung ein feministisches Bewusstsein zum Ausdruck bringe: „Mittlerweile haben auch die Männer gemerkt, dass ihre Freiheit erst durch die Freiheit der Frauen ermöglicht wird.“[3]

TH

Briefing 53 (Briefing 52)

Dieses Mal ist Civey etwas spät dran mit der passenden Umfrage, dernn der Mauerfall war schon gestern vor 33 Jahren. Aber nach so langer Zeit kommt es auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht an, wenn man eine Bilanz der Mauer und ihres Wegfalls aufstellen möchte.

Hatte der Mauerfall eher einen positiven oder einen negativen Einfluss auf Ihr Leben?

Der Begleittext von Civey: 

Von 1949 bis 1990 gab es mit der DDR und der BRD zwei deutsche Staaten und die Berliner Mauer trennte die Hauptstadt 28 Jahre in Ost und West. Am 9. November 1989 hatte die damalige DDR-Führung nach einer großen Ausreisewelle und massiven Demonstrationen die Grenzen zur Bundesrepublik geöffnet und allen DDR-Bürgern und -Bürgerinnen das Reisen erlaubt. Am 3. Oktober 1990 folgte die deutsche Vereinigung.

Berlins Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) nennt den Mauerfall den „Glücksfall des letzten Jahrhunderts in der deutschen Geschichte”. Der Berliner Morgenpost sagte sie am Sonntag, stolz darauf zu sein, was seither alles geschafft wurde. Gestern wurden daher auf zahlreichen Events die Menschen gewürdigt, die zum Sturz des SED-Regimes, in dem es u.a. keine Meinungs-, Reisefreiheit oder freie Wahlen gab, beitrugen. Zudem wurde den Opfern der Teilung gedacht.

Obschon die Ostdeutschen mit der Wiedervereinigung mehr Freiheiten erlangt haben, war die Wende ein großer Umbruch für ihre Werte und Identität. Viele fühlten sich entwurzelt. Und noch heute sind die Löhne der Beschäftigten im Osten niedriger als im Westen. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), verwies jüngst darauf, dass gerade Ostdeutsche stark unter der Inflation leiden. Umso wichtiger sei es, die Regionalentwicklung voranzutreiben. Er selbst bezeichnet sich laut dpa als Gewinner der Wende, obschon er ein gutes Leben in der DDR geführt habe.

Für Karrierist:innen mit zweifelhafter Moral wie Franziska Giffey war der Mauerfall ganz sicher ein glück. Und zwar für solche auf beiden Seiten der früheren Grenze. So viele, die in der BRD zum Beispiel schon aussortiert waren, bekamen im Osten noch einmal eine Chance. So viele Charaktere aus dem Osten, die wissen, wie man sich perfekt so bemäntelt, dass vor allem das eigene Vorankommen gesichert ist, gehen uns heute im Politikbetrieb auf die Nerven. Zum Beispiel Franziska Giffey. Wir haben mit „unentschieden“ gestimmt. Als die Mauer noch stand, war es für uns eine Selbstverständlichkeit, dass das Grundgesetz die Wiedervereinig als Ziel beinhaltete. Nachdem sie gefallen war, begann erst einmal eine sehr emotionale und hoffnungsvolle Zeit, aber nicht nur im Osten kann man desillusioniert sein über das, was sich im Laufe der Jahre eher vertieft als verringert hat: Die Spaltung. So viele Spaltungen, und dann auch noch diese. Also eine mehr, als andere Länder in dieser schwierigen Zeiten bewältigen müssen.

Die 40 Jahre Demokratiedefizit der DDR wiegen schwer und sorgen anhaltend für Verdruss. Aus linker Sicht war sowohl die Existenz der DDR eine Hypothek als auch das Ende. Wenn wir sehen, dass aktuell Linke ihr Heil darin suchen, sich mit der AfD um die im Osten zu balgen, die gar nicht im Hier und Jetzt ankommen wollen, dreht sich uns schon mal der Magen um. Ein solches Problem gibt es nirgends sonst im Westen und in den anderen Ländern des früheren Ostblocks sind wenigstens alle zusammen und sich einigermaßen einig. Nicht immer zum Besseren, siehe Demokratiedefizit.

Und dann ist da die wirtschaftliche Seite. Niemals war Gesamtdeutschland noch einmal wirtschaftlich so gut aufgestellt wie die BRD. Niemals erreicht Deutschland beim BIP pro Kopf noch einmal so gute Werte in Relation zu anderen Nationen. Es gab schon während der 1980er Verschleißerscheinungen, aber die hätte man relativ günstig korrigieren können. Doch was kam, war ein Desaster und wir teilen ganz eindeutig nicht den Ost-Spin, dass die Wirtschaft dort vom Westen quasi bewusst zerstört wurde. Sie war einfach nicht konkurrenzfähig, in weiten Teilen, und es gab Fehler und es gab logische Konsquenzen. Und wer Augen im Kopf hatte und 1990 im Osten unterwegs war, der musste sich denken: dann gieß mal schön, Helmut, als Kanzler Kohl von blühenden Landeschaften sprach. Das hat er auch gemacht und im Westen wurde gekürzt. Mit fatalen Folgen bis heute.

Viele politische Schweinereien, die heute für ganz normal gehalten werden, waren im Zeitalter der Blockbildung nicht durchsetzbar, dazu musste erst das Ende der Geschichte ausgerufen werden können. Das ist nicht die Schuld der Menschen im Osten oder im Westen, aber die Wiedervereinigung war auch der Auftakt zu einem Wettlauf neuer Art: Nicht mehr, wer gewinnt die Systemkonkurrenz, sondern welches Land steht an der Spitze des neoliberalen Aufmarsches. In Deutschland war man zunächst zögerlich, aber in den 2000ern wurden die Weichen endgültig zulasten der Mehrheit in Ost und West gestellt. Und was passiert? Im Osten wollen politische Kreise, die progressiv sein sollten, die Ostalgie pflegen, weil sie wohl glauben, es gibt neben den AfD-Wähler:innen noch Potenzial. Ja, vielleicht ist das sogar so. Aber wo sind diejenigen, die die Zukunft wagen wollen? Dass politische Parteien  durchweg zu konservativ sind, egal in welchem Teil des Spektrums, ist zwar eine allgemeine, nicht nur dieses Land betreffende Erscheinung, hat aber auch mit der Wiedervereinigung und den Widerständen zu tun, die daraus erwachsen sind. 

Dabei hatte der doch der Mauerfall für uns erhebliche Konsequenzen. Ohne hin wären wir wohl nicht nach Berlin gezogen. Wir waren gar keine Fans der eingemauerten Stadt. Viele erzählen uns noch heute davon, wie schön und kuschelig es damals war. Ganz klar, die jetzigen Zustände in Berlin sind gruselig und das ist eine Folge der früheren Teilung. Vom Arbeitsmarkt bis zum Zustand der Infrastruktur, alles ist hier unter dem westdeutschen Durchschnitt, obwohl dieser auch nicht mehr das ist, was er mal war, siehe oben. Es gilt demnach auch für den Westen der Stadt, seit er nicht mehr durchsubventioniert wird. Viele neue Gebäude können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Berlin bezüglich der Kaufkraft seiner Einwohner sehr schwach abschneidet, für eine Hauptstadt, dass mittlerweile aber Hauptstadtpreise verlangt werden, auf allen Ebenen. Dort, wo die Mauer stand, ist noch unendlich viel Aufholarbeit zu leisten und wir kriegen dafür von führenden Parteien das Personal, das bundespolitisch nicht mehr tragbar ist. Während der Teilung kamen führende Köpfe aus Berlin oder machten hier ihren Weg, die bis heute die Demokratie des Westens geprägt haben. Das waren wirklich noch Zeiten.

Keine Spur mehr davon, die Verzwergung ist noch dramatischer als allgemein in der Politik. Hier, wo die Wiedervereingiung genäht und gestrickt wurde, wo Ost und West immer noch ganz dicht nebeneinander besichtigt werden können, sehen wir beim besten Willen keinen Grund zur Euphorie über die Wiedervereinigung. Wir wollen nicht alles nur schrecklich finden, deswegen haben wir mit „unentschieden“ gestimmt. Mehr war nicht drin. Die Mehrheit sieht das anders, immer noch. Freut uns irgendwie auch. Wir brauchen positiv denkende Menschen. Wir sind aber derzeit auf dem realistischen Novembertrip und wir registrieren auch, wie unterschiedlich Menschen in Ost und West bezüglich der aktuellen politischen Weltlage ticken.

Jeder so, wie er sozialisiert wurde, es gibt da kein „besser“ oder „schlechter“, sofern es nur um Völkerfreundschaft, nicht um die Einstellung zur Demokratie geht. Aber der Riss wird eben immer wieder sichtbar und letztlich verfestigt sich doch der Verdacht, dass wir Gück haben damit, dass das Grundgesetz bestimmte Grenzen für die Aushebelung der Demokratie zieht. Es ist heute wieder so wichtig, daran stets zu erinnern. Die Nazi-Vergangenheit wirkt immer noch und die Trennungszeit ist bei Weitem noch nicht aufgearbeitet. Mit diesen Hypotheken Zukunftspolitik zu machen, während andere Länder sich voll auf die anstehenden Aufgaben konzentrieren können, ist eine Riesenherausforderung. Sicher kann man all diese Erfahrungen nutzen, gerade dafür. Aber haben Sie den Eindruck, das geschieht? Die Politik und die Gesellschaft haben verstanden? Hat die Erfahrung mit der Mauer und hat ihr Fall die Menschen besser gemacht? 

Die Mauer ist schon fast so lange weg, wie die DDR und die BRD getrennt bestanden haben und länger, als sie selbste gestanden hat. Die Welt hat sich in den letzten Jahren aber bei allem, was es an Krisen gab, insgesamt nicht mehr so stark verändert wie in den Jahrzehnten zuvor, als Imperien entstanden und zusammenfielen und aus den Trümmern der großen Kriege eine neue Ordnung entstand. Das Gefühl ist eher, dass alles viel, viel zu langsam geht und Deutschland besonders lahm wirkt. Dieser Mangel an Agilität in Bezug auf die Herausforderungen der Zukunft ist auch ein Ergebnis der mangelnden inneren Einheit und der Gründe für diesen Mangel.

Nein, mehr als eine neutrale Haltung können wir gegenüber dem Mauerfall unter Berücksichtigung dieser Beobahtungen nicht einnehmen. Gerade diejenigen, die so sehr jubeln, sollte man sich genauer anschauen bezüglich ihrer Rolle: Sind sie Profiteure der inneren Unordnung, der Abwesenheit eines politischen Kompasses und des resultierenden Unwillens, die Zukunft beherzt anzugehen, zählen sie zsogar zu den aktiven Chancenvernichtern, welche die großen Zukunftsängste in diesem Land ausnutzen für ihre persönlichen Strategien? Wir werden die weitere Entwicklung beobachten und kommentieren, aber man muss bei allem, wofür man sich engagiert, bedenken, dass die Zeit der Illusionen vorbei ist. 32 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Ansprachen fast noch die gleichen wie kurz nach der Wende, wie man an den Einlassungen des Ostbeauftragten der Bundesregierung sieht. 

Was zu tun ist, muss immer mit einem „trotzdem“ versehen sein, sonst kommt man mental nicht mehr hinter den Ball, in diesem unserem einen, aber nicht vereinten Land.  

TH

Briefing 52 (Briefing 51)

Wissen Sie, wodurch sich das Briefing zum Wochenstart auszeichnet? Dadurch, dass es wirklich kurz ist. Es ist ein Schlaglicht und es geht um die Fußball-WM 2022 in Katar. 

WM-Boykott ist nicht mehrheitsfähig

Statista Grafik

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Am vergangenen Wochenenden haben sich die Fanszenen vieler Bundesligisten für einen Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar 2022 ausgesprochen. Ein gutes Beispiel ist die Partie Hertha BSC gegen Bayern München, bei der beide Fanszenen folgendes Banner zeigten: „15.000 Tote für 5760 Minuten Fußball. Schämt euch!“ Die Dortmunder Südkurve war sogar regelrecht mit Protestbotschaften gepflastert, wie ein Tweet von Faszination Fankurve zeigt. Mehrheitsfähig ist ein WM-Boykott aber nicht. Einer aktuellen Erhebung des Statista Global Consumer Surveys zufolge will etwas mehr als ein Viertel der Befragten das Turnier nicht am Fernsehbildschirm verfolgen. Etwas mehr sprechen sich für einen Boykott der Weltmeisterschaft durch die Fans (31 Prozent) oder die DFB-Elf (30 Prozent) aus. Am niedrigsten ist der Boykott-Anteil bei den Sponsoren. 17 Prozent sagen, dass sie Marken boykottieren wollen, die beim Turnier werben.

Viele von Ihnen, die uns heute lesen, werden nicht wissen, dass der erste Wahlberliner im Jahr 2011 einen ersten Höhepunkt an Zugriffen durch Sportberichterstattung erreichte. Es ging um unsere Liveticker zur Frauen-Fußballweltmeisterschaft, die in Deutschland stattfand. Für die deutschen Fußballfrauen verlief das Turnier eher enttäuschend, aber die Berichterstattung hat uns trotzdem vie Spaß gemacht. Davon, heute wieder so viel Aufwand für Sportbeiträge zu treibtn, sind wir weit entfernt, zumal bei einem Männerturnier, das wieder einmal Heerscharen von Journalist:innen und Kommentator:innen anlocken wird.

Werden diejenigen, die über die Spiele schreiben oder sie live kommentieren, etwas zu den Umständen dieser WM sagen und standhaft wiederholen, dass man sie niemals hätte in dieses Land vergeben dürfen? Wir glauben, es wird sich in Grenzen halten mit der Kritik. Schon deswegen, damit eine ungestörte Ausstrahlung möglich ist. Mini-Update: Mittlerweile gab es einen Mini-Skandal, weil ein katarischer Sportfunktionär sich vor laufender ZDF-Kamera homophob geäußert hat. Da hat sie uns schon wieder, die Wirklichkeit.

Und die Bevölkerung will es so: Brot und Spiele oder auch Spiele, wenn das Brot bereits knapp wird. Die Fußballgladiatoren steigen in die grüne Manege und alle ethischen Aspekte sind vergessen. 

Das hat tiefgreifendes Nachdenken zur Folge, zumindest bei uns. Dürfen wir beispielsweise die Demokratie einer ignoranten Mehrheit überlassen? Es wird diejenigen, die mit der deutschen Geschichte vertraut sind, nicht überraschen, wenn wir an dieser Stelle festhalten: Das Grundgesetztsagt eindeutig nein. Das dürfen wir nicht. Deshalb sind in ihm einige Eckpunkte, unverrückbare Säulen einer besseren Nachkriegsordnung nach dem NS-Regime, festgeschrieben, die auch durch noch so große Mehrheiten nicht geändert werden können. Art. 1 GG (Menschenwürde) und die Staatsprinzipien (die Demokratie selbst, der Sozialstaat, die föderale Ordnung und einige weitere Punkte) dürfen nicht angetastet werden. 

In den letzten Jahren verdichtet sich wieder der Eindruck: Was für ein Glück. Wir möchten nicht wissen, was eine sogenannte direkte Demokratie in Deutschland für Verwüstungen in dieser Gesellschaft anrichten würde. Die 27 Prozent die sich die WM in Katar nicht ansehen wolle, tun das möglicherweise gar nicht überwiegend aus ethischen Gründen, sondern, weil sie sich einfach nicht für Fußball interessieren. Solche Menschen gibt es. Wir werden uns keine Spiele anschauen, es sei denn, Deutschland erreicht das Finale. Für den Fall behalten wir uns eine Ausnahme vor, das geben wir auch zu. Ansonsten verbieten wir uns selbst erstmals jedes Reinglotzen in eine Manege, in welcher vor allem etwas fehlt, was im Sport doch so wichtig sein soll: Fairness, ein Fest der Völker, heute auch -nachhaltigkeit und Werteorientierung.

Es gab schon viele zweifelhafte Austragungsorte, aber ein Scheichtum in der Wüste, wegen der Hitze müssen die Spiele in den Winter verlegt werden und trotzdem ist der Energieverbrauch für die klimatisierten Stadien ein Wahnsinn, das zum Beispiel bei der Pressefreiheit auf ca. Rang 120-130 der Welt zu finden ist, war bisher nicht dabei. Sicher, auch in China dürften nach demokratischen Maßstäben keine internationalen Sportereignisse stattfinden, ganz gerecht ist also auch diese Betrachtungsweise nicht, zumal die Katarer nicht irgendwelche Fangruppen in Deutschland haben, wie so viele andere  Staaten, die keinerlei Anforderungen an die Wahrung der Menschenwürde gegenüber ihrer Bevölkerung erfüllen.

Über die katarische Regierung könnte man also hier viel Negatives schreiben, ohne dass man gleich von mächtigen Interessengruppen in die Zange genommen wird. Die Lage ist einerseits weltweit zu ernst, um mit ihnen Wertepolitik zu üben, weil es weniger Widerstand gibt als von einigen Staaten, von denen wir zu sehr abhängig sind, aber keine Kritik zu üben, kann ebenfalls nicht angehen. 

Es ist uns insgesamt nicht schwergefallen, den Verzicht auf die WM zu deklarieren, von ode rerwähnten Ausnahme abgesehen. Auch wenn diese Ausnahme auf das Gegenteil deuten könnte: Wir sind in den letzten Jahren immer skeptischer geworden bezüglich jener Turniere, in denen Nationen gegeneinander antreten und der Nationalismus sich im Fantum versteckt. Fan kommt von Fanatiker, das darf man nicht vergessen, auch wenn der Begriff sehr extensiv verwendet wird. Ein bisschen was davon steckt aber in den meisten von uns und es kommt auf das Maß an. Es ist für uns ein riesiger Unterschied, ob wir uns ein Endspiel anschauen, weil es Hansi Flicks Buben bis dorthin gepackt haben oder ob wir in anderen Ländern herumziehen und dort den schlechten Eindruck hinterlassen, der leider eine permanente Begleiterscheinung der hiesigen „Fankultur“ oder Unkultur ist. Zum Beispiel. Und dann  noch die Verteidiger der WM, darunter der verurteilte Straftäter Uli Hoeneß, die über Kritiker herziehen, als ob ihr eigenes Verhalten nie zu fundamentaler Kritik Anlass gegeben hätte. Und als ob Katar ein Ort wäre, dessen Fußballkultur durch alle Zeiten hinweg herzhaft verteidigt werden müsste.

Eigentlich sind wir froh, dass es Katar geworden ist. Wir hätten wieder schwierige Entscheidungen bezüglich unseres Zeitbudgets treffen müssen, wenn wir uns entschlossen hätten, die WM in einem super schönen, demokratischen Land zu verfolgen. Was auch wir, wie die meisten, nicht tun werden: sämtliche Firmen, von denen wir irgendein Produkt kaufen, daraufhin abzuklopfen, ob sie diese WM gesponsert haben oder nicht. Das ist nicht nur aufwendig, sondern auch nicht unbedingt zielführend: Wichtig ist, wie diese Unternehmen sich ingesamt in diesem Spätkapitalismus verhalten – und da sieht es unabhängig von Katar oder Nicht-Katar eher bescheiden aus. Trotzdem können wir sie nicht alle permanent boykottieren, das würde unsere Kasse nicht aushalten, denn echte Ethik, die sich im Konsum ausdrückt, ist sehr teuer. Aber der Versuchung widerstehen, auch noch Sportfernsehen zuzubuchen, das  gelingt uns locker. Das war bisher so und wird auch nach der WM so bleiben. Es ist eh alles nicht sauber, aber bis zu einem gewissen Ausmaß an Verschmutzung des Lebens durch die Auswüchse dieses Systems kann man mit dem inneren Cleaning noch nachkommen und allzu viel ethischen Müll von sich fernhalten. Beim Cleaning hilft das Grundgesetz: Nicht immer hat die vergnügungssüchtige und den Menschenrechten gegenüber gleichgültige Mehrheit recht. Das wussten schon dessen Väter und Mütter.

TH

Briefing 51 (Briefing 50)

Auf den ersten Blick liegen die Themen des Briefings 51 recht weit entfernt von der vorausgehenden Ausgabe. Am Ende und weil Sonntag ist, denken Sie aber bitte ein wenig darüber nach, was das eine mit dem andern zu tun haben könnte. Falls Sie Zeit und Lust haben.

Wirtschaft am Sonntagmorgen? Aber ja. Die Zeiten sind lange vorbei, in denen die meisten Männer zum Fühschoppen (nicht zu verwechseln mit Frühshoppen) gingen, während die Hausfrau das Essen zubereitete. Damals war die Welt der Wirtschaft und der Familie noch in Ordnung. Letzteres vor allem dann, wenn man außerhalb der Blackbox lebte. Mittlerweile ist die Welt der Wirtschaft so anders und es gibt so viele Nachrichten, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Beim Frühschoppen hat man sich vor allem über Sport unterhalten, nehmen wir an. Über Fußball und so.

Beim heutigen Früh- und Rund-um-die-Uhr-shoppen geht es oft um Finanztransaktionen, von denen die meisten Menschen früher nicht nur nie etwas gehört hatten, es gab sie einfach nicht. Vieles davon wird unter dem Namen Fintech zusammengefasst. Dabei sind einige nützliche Dienstleistungen, aber, weil die Finanzindustrie sich auf einer hypertrophe Weise und trotz der Bankenkrise von der Realwirtschaft entkoppelt hat, viele Unternehmungen, die, sagen wir es mal vorsichtig, viele Bullshit-Jobs kreieren, die in Krisen schnell in Gefahr sind, wieder verlorenzugehen, denn in Krisen schauen die Leute eher auf das, was man wirklich zum Leben braucht als auf Nice to Haves, für die dann manchmal kein Geld, oft auch schlicht kein Nerv vorhanden ist. Wenn der Nerveknkitzel ins Stresslager wechselt, weiß man in der Regel, dass es an der Zeit ist, ein paar Justierungen vorzunehmen. Und das passiert gegenwärtig schnell. Zum Beispiel, weil die Wertpapiermärkte nicht mehr so flutschen und das Betongold auch nicht mehr so glänzt.

Ganz logisch, dass dann die Investments der Kapitageber in den Bereich „Fintech“ zurückgehen:

Infografik: Einbruch bei Fintech-Investments | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Fintechs weltweit haben es in diesem Jahr deutlich schwerer Venture-Kapital für ihre Unternehmen zu gewinnen als im Vorjahr. Aufgrund der krieg- und Inflationsbedingten schlechten Wirtschaftslage, sehen viele Kapitalgeber momentan von Investments ab.

Im dritten Quartal 2022 haben die Gesamtinvestitionen in Fintechs laut CB Insights etwa 12,9 Milliarden US-Dollar betragen – ein Rückgang von rund 64 Prozent gegenüber der sehr starken Vorjahresperiode. Damit liegen die Investitionen in junge Finanzunternehmen wieder auf dem Niveau von 2020. Das Jahr 2022 hatte zunächst vielversprechend angefangen; knapp 30 Milliarden US-Dollar gingen im ersten Quartal an Fintechs weltweit, im darauffolgenden Quartal kam es dann schon zu einem deutlichen Einbruch, wie die Statista-Grafik zeigt.

Die Folgen der Ausbleibenden Investments sind bei den Unternehmen deutlich zu spüren. So musste beispielsweise Klarna sich mit Massenentlassungen retten und einen Bewertungsabschlag akzeptieren. Auch der deutsche Neobroker Trade Republic aus Berlin musste einen Teil der Belegschaft gehen lassen. Und das, obwohl die Geldgeber bei diesen Unternehmen in der Vergangenheit geradezu Schlange gestanden haben.

Klarna sagt uns sogar etwas, weil wir schon damit bezahlt haben. Ein Fintech ist das also. Meistens, wenn wir nicht auf klassischem Weg überweisen oder Daueraufträge angelegt haben, nutzen wir PayPal, das demnach auch ein Fintech sein muss. Nach eigener Auskunft ist es sogar einer der am meisten vertikal integrierten Konzerne dieser Art und anerkanntermaßen ein herausragendes Beispiel für globales, in der Tat technikbasiertes Finanzdienstleistungswesen.

Was uns immer erstaunt, auch bei der Quelle, die der Grafik zugrundeliegt, dem Report von CB Insights, ist die kurzfristige Betrachtungsweise. Das Quartal ist das Ding, nicht die Nachhaltigkeit über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg. Deswegen fällt erst auf den zweiten Blick auf, wie außergewöhnlich hoch die Investitionen im Jahr 2021 waren und dass ein Rückgang auf „normal“ im Jahr 2022 eigentlich kein Krisenzeichen ist, sondern nur belegt, dass im Vorjahr außergewöhnlich viele große Fintech-Deals über den Tisch gegangen sind. Aber das Reporting ist ähnlich wie die Branche selbst immer stark am Maximum ausgerichtet, auch wenn dieses Maximum klar ein Ausnahmetatbestand ist und nicht eine organische Entwicklung über viele Jahre spiegelt. Es tut uns leid, aber wir werden uns sicher nicht in Richtung „wo um Himmels willen soll man jetzt noch anlegen“ entwickeln, sondern weiterhin mit kritischer Distanz auf Auswüchse des Kapitalismus schauen, zu denen auch und insbesondere einige Fintechs gehören. In Deutschland haben wir außerdem oft kein gutes Händchen für solche Firmen, wie man am Fintech WireCard sehen kann, das einmal als eines jener Einhörner angesehen wurde, die sich in den letzten Jahren so auffällig vermehrt haben, dass man nicht mehr von einer gefährdeten oder gar legendären Spezies sprechen kann.

Und damit zu den Einhörnern, von denen sich die meisten im Fintech-Stall tummeln, hier sehen wir die europäische Situation im Jahr 2022:

Infografik: Wer hat die meisten Einhörner im Stall? | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Mit 47 Einhörnern liegt das Vereinigte Königreich im europäischen Vergleich deutlich vorne, obwohl sich die Wachstumsrate der nicht börsennotierten Unternehmen mit einem Marktwert von einer Milliarde US-Dollar oder mehr in den vergangenen Monaten aufgrund steigender Preise und des Krieges in der Ukraine verringert hat. Dennoch könnte der bisher Zweitplatzierte in den nächsten Monaten seinen Platz abtreten müssen, wie unsere Grafik zeigt.

Nach sechs Neuzugängen im deutschen Einhornstall im ersten Halbjahr 2022 konnte seit Mai kein weiteres Startup die nötige Marktbewertung erreichen. In Frankreich traten allein im Januar fünf Unternehmen dem Club der Einhörner bei, noch im Juni folgten zwei weitere. Damit hat die französische Wirtschaft das von Präsident Emmanuel Macron gesteckte Ziel, bis zum Jahr 2025 25 Einhörner hervorzubringen, drei Jahre früher als geplant eingelöst. Der erste Platz auf der Liste der Länder mit den meisten Einhörnern dürfte jedoch in naher Zukunft unangefochten bleiben. Mit 47 Start-ups im Wert von mehr als einer Milliarde US-Dollar liegt das Vereinigte Königreich deutlich in Führung.

Das Investieren in Fintech-Startups ist nicht neu, entwickelte sich allerdings erst 2021 zum echten Trend, der dieses Jahr aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Lage einen Dämpfer bekommen dürfte. Laut Daten von CB Insights überschritt die Anzahl der Mitglieder im Einhorn-Club im Februar 2022 die 1.000er-Marke, Stand jetzt sind über 150 Firmen dazugekommen. Der größte Teil, knapp 70 Prozent der vertretenen Unternehmen, stammt aus China und den USA, während etwa die Hälfte aller Einhörner weltweit aus den Sektoren Fintech, Internet-Software und -services sowie E-Commerce stammen.

Man glaubt es kaum, in Europa gibt es Länder, die sich strategische Wirtschaftsziele setzen, pro Einwohner hat Frankreich nun also mehr Einhörner als Deutschland und der Brexit scheint sich für Großbritannien zumindest in diesem Bereich nicht unbedingt vernichtend ausgewirkt zu haben. Allerdings ist das UK auch sehr finanzdienstleistungslastig und uns würde als Einwohner eines klassischen Industriestandorts auch interessieren, wie es mit langfristig überlebensfähiger neuer Industrie aussieht, die mal nicht der Finanz-„Industrie“ angehört. Eigentlich sind Finanzen keine Industrie, sondern alles, was hier läuft, zählt zu den Dienstleistungen, aber der Begriff wird eben so verwendet, als ob es um die Herstellung wertvoller Produkte und nicht nur um den Umschlag von Unsummen von Geld ginge. Sorgen müssen wir uns in Deutschland vor allem dann machen, wenn die Basis der „tatsächlichen Industrie“ wegbrechen sollte, die mehr als in anderen großen europäischen Ländern das Rückgrat der Wirtschaft bildet. Bei den Finanzdienstleistungen hat sich nämlich  herausgestellt, dass die Deutschen es nicht können. Das beginnt beim Abstieg der einst mächtigen Deutschen Bank, geht weiter über den wirklich blamablen WireCard-Skandal und endet noch nicht bei den Cum-Ex-Cum-Cum-Geschäften, die ein führendes Land der echten Industrie finanzseitig wirken lassen sie eine verfaulte Bananenrepublik, in der kein billiger Trick schändlich genug ist, um von einem im Grunde debilen Club aus Banken, die Gesetze schreiben und Politikern, die sie durchdrücken, nicht ausprobiert zu werden. Der Finansektor ist hierzulande in jeder Hinsicht unterentwickelt, Deutschland betreibt nicht einmal eine eigene Steueroase, anders als gewisse führende europäische Länder im Einhornbusiness, die von ihren in jede Richtung, sowohl regional wie in Sachen ethischem Zerfall ausbaufähigen Finanzplätzen profitieren.

Gehen wir noch ein paar Monate zurück, dann finden wir z. B. diese Grafik:

Infografik: Das Jahr der Fintech-Einhörner | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Der NFT-Hype mag abgeklungen sein und die Kurse für Bitcoin und Ethereum mögen schwanken, aber Unternehmen aus der Blockchain-Branche gelten weiterhin als lukrative Investitionsmöglichkeiten für Risikokapitalanleger:innen. Das wurde in der aktuellsten Finanzierungsrunde des NFT-Marktplatzes OpenSea bestätigt. Nach Aufnahme von weiteren 100 Millionen US-Dollar gilt die Firma jetzt als Einhorn, also als privates, nicht börsennotiertes Unternehmen, dessen Marktwert über einer Milliarde US-Dollar liegt. Damit liegt OpenSea voll im Trend: Die Statista-Grafik zeigt, dass knapp ein Viertel der 2021 als Einhörner eingestuften Start-ups aus dem Fintech-Segment stammen.

Bis zum 8. Juli 2021 wurden 253 neue Einhörner in den „Global Unicorn Club“ von CB Insights aufgenommen. Das entspricht einem Zuwachs von 532 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 60 der 253 Firmen sind im Fintech-Sektor tätig, 52 im Bereich Internet-Software. Weitere wichtige Sparten sind Cybersecurity, Künstliche Intelligenz und E-Commerce.

Insgesamt führt CB Insights 750 Firmen auf seiner Einhorn-Liste. Davon stammen 16 aus Deutschland, darunter das Softwareunternehmen Celonis mit einem Marktwerkt von 11 Milliarden US-Dollar und der Online-Broker Trade Republic, deren Marktwert 5,3 Milliarden US-Dollar beträgt. Den ersten Platz der wertvollsten Einhörner belegt die TikTok-Mutterfirma Bytedance mit 140 Milliarden US-Dollar.

Sie haben es oben gelesen: Mittlerweile sind es über 1.000 Einhörner, das Einhorn für jeden kommt also näher. Selbstverständlich haben wir zu den Kryptowährungen auch eine Meinung: Es ist verrückt, dass Zahlungsmittel, die von irgendwelchen Privaten geschaffen und per Computereinsatz generiert werden können, mittlerweile von vielen Firmen als Zahlungsmittel anerkannt werden, auf diese Weise in die reale Wirtschaft eingeschleust werden und damit die Geldmenge weiter aufblähen, die ohnehin von einer zu  lockeren Finanzpolitik zu sehr gesteigert wurde. Das Ganze ist rein virtuell und wenn der Kurs dieser Währungen einbricht, werden einige, die sich auf immer weitere Steigerungen verlassen haben, schlecht aussehen, denn sie haben dann auch keinen institutionellen Schutz vor Verlusten und keine Notenbank wird gegen den Totalzerfall ansteuern können. Tendenzen in diese Richtung gibt es schon, der Bitcoin hat sich von seinem Höchststand aus bereits halbiert. Sicher, wer am Anfang dabei war, konnte gigantische Gewinne einfahren, aber trotzdem zeigt allein die Tatsache, dass das jenseits eines halbwegs geordneten Marktes möglich war, wie schadhaft dieses Finanzsystem ist. Es mangelt an Kontrolle, man hat aus der Bankenkrise des Jahres 2008 so gut wie nichts gelernt, es wurden sogar neue Risiken geschaffen wie etwa das Hineinwuchern der Kryptowährungen in das Finanzsystem und der nächste Crash ist nur eine Frage der Zeit.

Doch auch jenseits von Fintech ist so vieles mehr als fragwürdig. Schauen wir uns dazu die Liste der deutschen Einhörner an, wie sie Anfang 2022 von Statista erstellt wurde:

Infografik: Deutsche Einhörner und wo sie zu finden sind | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

elonis ist der Spitzenreiter unter den höchstbewerteten deutschen Unternehmen vor Börsengang. Das Software-Unternehmen aus München ist mit einer Bewertung von elf Milliarden US-Dollar das wertvollste Einhorn Deutschlands. Damit übertrifft Celonis die zweitplatzierte Online-Bank N26 (9,23 Mrd. US-Dollar) oder den Neo-Broker Trade Republic (5,3 Mrd. US-Dollar) – zwei Unternehmen aus der FinTech-Elite Europas. Personio (6,3 Mrd. US-Dollar) aus München und die Berliner Firma Mambu (5,5 Mrd. US-Dollar) folgen auf den Plätzen drei und vier.

Laut Daten von CB Insights gibt es derzeit 25 Start-Ups mit einer Marktbewertung von mindestens einer Milliarde US-Dollar in Deutschland. Die meisten dieser Einhörner haben ihren Sitz in der Hauptstadt oder anderen deutschen Metropolen. Nur einige wenige hält es in kleineren Städten wie Duderstadt oder Unterföhring. Die neuesten Mitglieder in den Top 10 der Einhörner sind der Schnelllieferdienst Gorillas und der Konkurrent Flink. Das Unternehmenskonzept hat sich in den vergangenen Monaten als sehr erfolgreich erwiesen, sodass es mehr und mehr Wettbewerber auf diesem Gebiet entstehen und um Kunden buhlen.

Im Vergleich zu Überfliegern aus den USA wie beispielsweise SpaceX (100,3 Mrd. US-Dollar) und Stripe (95 Mrd. US-Dollar), sind die deutschen Unternehmen relativ gering bewertet. Die US-Firmen werden nur noch von Tech-Giganten aus China in den Schatten gestellt. Das mit Sage und Schreibe 140 Milliarden US-Dollar wertvollste Einhorn weltweit ist Bytedance, ein auf Künstliche Intelligenz spezialisiertes Unternehmen aus Peking.

Wir lernen nicht nur, dass deutsche Einhörner eher einer Zwerg-Unterspezies angehören, sondern fragen uns auch, was Firmen zu dieser Bezeichnung qualifiziert, die vor allem negativ von sich reden machen, wie etwa Gorillas. Dieses sogenannte Einhorn ist längst in den Strudel seines unsagbaren Umgangs mit Mitarbeitern geraten, Flink-Kurieren begegnen wir in Berlin aber täglich, besonders, seit wir vermehrt auf dem Rad sitzen. Aber was bitte soll an diesen Firmen avantgardistisch sein? Es sind ganz schlichte Low-Tech-Firmen, wenn man von den elektronischen Bestellsystem und Navis ihrer Fahrer absieht.

Wer, wie wir, während des Studiums als Kurier (mit dem Auto) unterwegs war, der erkennt sofort, dass es sich bei diesen Einhörnern und ein Business handelt, das fast so alt sein dürfte wie die Menschheit und in dem Mitarbeitende alles andere als moderne Arbeitsbedingungen antreffen. Wenn die deutsche Einhornlandschaft vor allem solche Wesen hervorbringt, dann haben wir aufgehört, in High-Tech-Dimensionen denken zu wollen, von „guter Arbeit“ ganz zu schweigen. Bei „Flink“ ist es schon ein hervorhebenswerter Tatbestand, dass die Kuriere tatsächlich angestellt sind und nicht scheinselbstständig und natürlich ist die Liefergeschwindigkeit hoch. Dass alles innerhalb von zehn Minuten zugestellt werden kann, halten wir trotzdem für unmöglich. Wie es mit den Gehältern aussieht, kann man hier einsehen: Flink Fahrer:in Gehalt | kununu. Dafür, dass Radkurier sein in Berlin ein sehr gefährlicher Job ist, eindeutig zu wenig und je länger wir hier schreiben, desto mehr nutzt sich auch der Begriff „Einhorn“ ab. Genau das ist unser Ziel: herauszustellen, dass viele elitär klingende Begrifflichkeiten much ado about nothing sind.

Wir haben nun ca. 90 Minuten am Entwurf dieses Artikels geschrieben, die Publikation wir ebenfalls noch einmal 15 Minuten in Anspruch nehmen. Schluss für heute mit dem Briefing, aber speziell zu diesem Thema der modernen Investements, der Einhörner etc. wird es eine Fortsetzung in einem der kommenden Briefings geben. Bis dahin: denken Sie über das nach, was wirklich wertvoll und nachhaltig ist, wenn Sie möchten. Wenn die aktuellen Krisen zu etwas nützlich sind, dann dazu, dieses in weiten Teilen eklektische Business, das hier unendlich gehypt wird, zu hinterfragen und ein wenig mehr auf Distanz zu alldem zu gehen. Vielleicht ist es sogar ein Ausweis von Standortqualität, dass Deutschland bei diesen „Einhörnern“ nicht führend ist, sondern dass es hier viele Marktführer gibt, die kaum jemand kennt. Natürlich gibt es auch für sie einen zeitgeistigen Begriff: „Hidden Champions.“ Dass sie so „hidden“ sind, liegt vor allem daran, dass sie oft nicht im BtC, sondern im BtB-Bereich tätig sind. Ach ja: „BtC“ = Business to Consumer, „BtB“ = Business to Business. Sprich, es handelt sich um Unternehmen, die andere Unternehmen z. B. mit Ausrüstungsgegenständen beliefern und daher bei Verbrauchern eher wenig bekannt sind. Diese wirklichen Champions sind übrigens durch den immer stärkeren Zugriff Chinas auf die deutsche Wirtschaft besonders gefährdet. Auch dazu wieder mehr in einem der kommenden Briefings.

TH

Briefing 50 (Briefing 49)

Unser heutiges Briefing schließt an die Klima-Energie-Reporte an, aber da es keine Statistiken zu diesem Thema enthält, belassen wir es bei der Eingliederung in die Rubrik des „überwiegend täglich aufgegriffenen Themas“. Sie kennen FFF und Sie kennen mittlerweile sicherlich auch LG. Wir meinen nicht die Elektrogeräte-Firma aus Südkorea, sondern, ausgeschrieben, die „Last Generation“, die Aktivist:innen, die der Ansicht sind, die jetzt junge Generation sei die letzte, die den Klimawandel noch zu einigermaßen erträglichen Konditionen stoppen könne.[1]

Sowohl die Aktivist:innen von Fridays For Future als auch diejenigen der „Last Generation“eint der Will, den Kampf für den Klimaschutz so zu führen, dass Menschen darauf aufmerksam werden, dass die Gesellschaft, dass Eltern, Regierungen, die Wirtschaft Stellung beziehen müssen. Beide haben auch gemeinsam, dass ihnen anfänglich eine Wutwelle seitens der Konservativen entgegenschlug. Bei „Last Generation“ ist das noch immer der Fall, während die protestierenden Schüler:innen u. a. durch Corona geradezu dadurch integriert wurden, als teilweise nicht nur freitags, sondern monatelang gar keine (Präsenz-) Schule stattfand. Die Aktionen der „LG“ sorgen auch deshalb immer wieder für Aufsehen, weil sie nicht ungefährlich für die Aktivist:innen selbst sind, weil es zu handfesten Auseinandersetzungen vor allem mit Autofahrer:innen kommt, die behindert werden – und nun soll eine der Straßenbesetzungen in Berlin dazu geführt haben, dass eine Radfahrerin nicht rechtzeitig notfallversorgt werden konnte, die einen Unfall mit einem Baustellenfahrzeug hatte. Der Vorgang ist hier bereits dargestellt:

Am 31. Oktober 2022 führten Aktivisten von „Letzte Generation“ an mehreren Stellen in Berlin Straßenblockaden durch, was zu Verkehrsstaus führte. Ein Rettungsfahrzeug der Feuerwehr geriet in einen Stau und traf erst verspätet an einem Unfallort mit einer lebensgefährlich verletzten Radfahrerin ein. „Letzte Generation“ teilte mit, dass man bestürzt sei. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisierte die Straßenblockaden scharf. Die Aktivisten nähmen in Kauf, dass Menschen in Not länger auf die Hilfe von Polizei und Feuerwehr warten müssen.Die Radfahrerin wurde am 3. November 2022 für hirntot erklärt und verstarb am selben Tag. Die Berliner Polizei ermittelt aufgrund der Blockade auf der A 100 wegen unterlassener Hilfeleistung beziehungsweise der Behinderung Hilfe leistender Personen gegen zwei Aktivisten.[58][59] Im Raum steht die Frage, welchen Anteil die Aktion oder andere Faktoren wie eine fehlende Rettungsgasse für das verspätete Eintreffen der Rettungskräfte hatten.

Nun hat die Süddeutsche Zeitung einen Artikel veröffentlicht, in dem die zuständige Notärztin gesagt haben soll, dass die Rettungs- / Bergungsarbeiten nicht durch die in Rede stehende „LG“-Aktion konkret behindert worden seien: Bericht: Klimablockade behinderte laut Notärztin Bergung von Radfahrerin nicht | WEB.DE

Dieser Vorgang schlug hohe Wellen, besonders natürlich bei uns in Berlin, wo Unfälle von Radfahrer:innen mit Autofahrer:innen leider zum Alltag gehören und wo außerdem die Menschen von „LG“ ihre Aktionen, vor allem die gegenwärtige Hauptform der Straßenbesetzungen,[2] konzentrieren. Da kommt einiges an Emotionen zusammen. Aber nicht nur solche Fälle stehen in der Diskussion, sondern auch, natürlich wieder gerne in Berlin, die Beschädigung von Kunstwerken durch „LG“-Aktivistinnen. Zu dieser Aktionsform wiederum hat Civey eine Umfrage aufgesetzt, Sie dürfen abstimmen:

Der Erklärungstext der Meinungsforscher dazu:

Civey-Umfrage: Haben Sie Verständnis für neue Klima-Protestformen (z.B. Kunstwerke mit Essen beschütten) als Alternative zu herkömmlichen Protestformen? – Civey

Im Oktober wurde ein Gemälde von Claude Monet mit Kartoffelbrei im Barberini-Museum in Potsdam überschüttet. Da das Bild verglast ist, sei es laut Museum nicht beschädigt worden. „Ganz im Gegensatz zu dem unermesslichen Leid, das Fluten, Stürme und Dürren als Vorboten der drohenden Katastrophe schon heute über uns bringen“, schrieb das verantwortliche Aktivistenbündnis Letzte Generation auf Twitter als Begründung.

Da Deutschland bei den Klimazielen stark hinterherhinkt, fordern Klimaschutzgruppen von der Regierung Nachbesserungen bei der Klimapolitik. Weltweit mehren sich derzeit ähnliche Protestaktionen. Am Sonntag klebten sich zwei Aktivistinnen im Berliner Museum für Naturkunde an Metallstäbe unter Dinosaurierskeletten. Politik und Ausstellende reagieren mit Empörung und hinterfragen den Zusammenhang von Kunst und Klimaschutz.

Der Potsdamer Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) nannte die Aktionen auf Twitter „Kulturbarbarei und keine politische Meinungsäußerung“, die dem eigentlichen Ansinnen nur schaden. Das Naturkunde-Museum will sich laut rbb weiter für den gemeinsamen Dialog zum Schutz der Natur einsetzen – aber unter Einhaltung von Gesetzen. Grünenpolitikerin Renate Künast sieht zwar auch klimapoltischen Nachholbedarf, kritisiert die Proteste aber, weil diese Debatten über den Klimaschutz erschweren.

Noch nie waren wir mit unserem Abstimmungverhalten bei einer so kleinen Minderheit wie in diesem Fall. Wie wir das meinen? Schauen Sie selbst nach, indem Sie abstimmen. Wir mussten erst einmal nachschauen, ob ein Schaden an den betreffenden Kunstwerken aufgetreten war, denn auch solche Aktionen gab es in Berlin schon und da ist für uns die Grenze klar überschritten, wie auch immer diese Beschädigungen motiviert gewesen sein mögen. Aber ein bisschen Essen auf Schutzglas? Künstler:innen, die unwiderbringliche Werke geschaffen haben, können nichts für die Klimakrise, Kulturschätze machen jede Zukunft erst lebenswert, finden wir. Deswegen spielt für uns der Aspekt des Schadens eine entscheidende Rolle. Kein Schaden, keine Ablehnung der Aktionsform, um es knapp auf den Punkt zu bringen.

Man kann über die Ästhetik, sogar über den Sinn solcher Vorgänge streiten, man kann auch die Berufspendler:innen in Schutz nehmen, die zum Stillstand kommen, weil sich „LG“-Aktivist:innen an der Straße festgeklebt haben. Man kann aber auch sagen, komischerweise regt sich niemand darüber auf, dass der Stau im Berliner Berufsverkehr der Normalfall ist, dass während dieser Zeit sowieso kein Rettungsfahrzeug die Autobahn ohne massive Zeitverzögerung benutzen kann und auch auf den größeren Ausfallstraßen riskiert, blockiert zu werden und es zu vielen hier so was von wurscht oder sie sind sogar dagegen, dass die Stadt seit vielen Jahren die Verkehrswende versäumt. Jetzt hat sie auch noch eine Populistin zur Regierenden Bürgermeisterin, die sich ihre Stimmen vor allem aus den konservativen Randbezirken geholt hat, in denen viele Leute schlicht zu ignorant sind, um den ÖPNV zu benutzen. Innerhalb von Berlin kann man das nämlich immer tun und ist damit in der Regel auch schneller am Ziel.

Wir klammern die Menschen mal aus, die von außerhalb reinfahren, aber auch hier: Sie fallen nicht nur durch ihr oft wüstes Fahrverhalten besonders auf, sondern es ist auch aus Gründen einer besseren Lebensqualität für alle, die hier wohnen, dringend erforderlich, dass am Stadtrand genug Möglichkeiten zum stressfreien Umsteigen auf die BVG und die S-Bahn geschaffen werden. So wird ein Schuh draus, den man in den Zeiten des Klimawandels ohne schlechtes Gewissen tragen kann. Wir unterstützten auch die Initiative „Berlin autofrei“.

Mittlerweile schon aus dem schlichten Grund, dass wir als Radfahrer gerne etwas länger leben würden, und das ist angesichts dessen, was hier seitens vieler Autofahrer:innen abgeht, keineswegs gewährleistet. Wir nehmen die Mehrheit wieder ausdrücklich aus, aber es reicht schon, wenn eine irre Minderheit rast, schneidet, abbiegt, blockiert, Dooring verursacht, widerrechtlich parkt, als ob das Leben anderer nichts zählen würde. Von der StVO gar nicht zu reden. Das klimapolitische Argument stand für uns lange im Vordergrund, leider ist es aufgrund persönlicher Alltagserfahrungen auf Rang zwei zurückgefallen.

Aber all dies gilt nicht nur für Berlin, es gilt nicht nur für die Verkehrswende. Mit welchen Aussagen die Politik, aber auch irgendwelche Spezialist:innen fürs Gesellschaftliche die Akvist:innen überziehen, ist bodenlos. Demokratiefeindlich oder gar in Gefahr, die nächste RAF-Generation zu werden, all das kann man nachlesen und staunt nur noch, angesichts der Gefahren des Klimawandels. Wir haben den warmen Oktober genossen, auch zum draußen sein verwendet, aber uns ist jederzeit klar, dass wir alle mit dem Feuer spielen, wenn wir nicht solche Erscheinungen kritisch hinterfragen und uns endlich aktiv für eine Wirtschaftswende einsetzen, die einen Klimawende erst möglich macht, und auch das nur auf lange Sicht.

Warum auch die Grünen die neuen Aktivist:innen kritisieren, obwohl sie selbst mit der Blockade-Politik in Sachen Atomkraftwerke sozialisiert wurden? Es ist zu offensichtlich geworden, dass auch die Grünen einen regelrechten Fail in Sachen zukunftsgerichteter Politik hinlegen, aber von ihrem schlechten Gewissen vielleicht doch geplagt werden als die Rechten und Scheinlinken, die ernsthaft FFF und jetzt auch LG mit „Law and Order“ begegnen wollen.

Bei den Straßenblockaden muss man bedenken, dass aus einer abstrakten Gefährdungslage, wie sie von den Aktivist:innen geschaffen wird, eine konkrete werden kann. Man kann auch nicht, wie wir das oben getan haben, die Sache nur relativ bewerten, indem man sagt: Was sind die Gefahren und Kosten dieser Aktionen gegen das, was unsere eigene Ignoranz uns kostet? Gegen die vielen unnötigen Verkehrstoten, gegen die anhaltend zu hohen CO2-Emissionen beispielsweise? Deswegen nun das Folgende. Wir treffen uns mit Forderungen der LG wieder, wie Tempo 100 auf Autobahnen (jedenfalls überwiegend) oder der Fortsetzung des 9-Euro-Tickets. Letzteres gibt es nicht, das ist längst klar, Ersteres in diesem Land wohl erst, wenn keine Einwohner mehr da sind, denen Raserei jetzt wichtiger ist als die Zukunft, also dann, wenn wir längst alle Opfer einer Umweltkatastrophe geworden sind.

Grundsätzlich befürworten wir die Aktionen von „LG“, die außerdem darauf hinweisen, dass diese so ausgefasst sind, dass Rettungseinsätze nicht behindert werden. Das kann bei zusätzlichen Staus nicht gewährleistet werden, ist unsere Ansicht dazu, aber es geht wohl mehr darum, dass nicht die Akvisti:nnen das direkte Hindernis bilden.

Jede Protestform, die in dieser dauerignoranten Gesellschaft und angesichts der zu dieser passenden Politik noch irgendetwas bewirken soll, muss eine gewisse Radikalität aufweisen, das ist die Essenz aus allem. Wählen gehen reicht nicht aus. Oder haben Sie den Eindruck, dass sich durch Regierungswechsel wirklich etwas bewegt? Und, ganz ehrlich, wollen Sie das überhaupt oder gehören Sie zur ultrabequemen Mehrheit, die erst dann laut wird, wenn ihr sprichwörtlich das Wasser bis zum Hals steht? Wir sind natürlich ein wenig beeinflusst durch die Mietenbewegung in Berlin, die immer wieder für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft vernichtende Niederlagen einfährt, weil sie sich auf friedliche Proteste beschränkt und die dadurch marginalisiert wird, dass das Kapital mit krudesten Mitteln, auch gewaltsam, von der Staatsmacht gegen Menschen, die nicht verdrängt werden wollen und deren Würde verteidigt wird. Das ist in dieser Stadt der Alltag. Das „Wunder von Berlin“ in Form einer von der Politik und den Bewegungen gemeinsam organisierten fairen Lösung eindeutig die Ausnahme.

Selbstverständlich haben wir uns wegen der Erkenntnisse, die aus solchen Beobachtungen folgen, auch damit befasst, dass diese Wirtschaftsform nicht grüngewaschen werden kann. Damit sind wir wieder bei den Grünen: Ihre Distanz zu „LG“ und oft und besonders zu Beginn auch zu „FFF“ ist Ausdruck von deren Wandlung hin zu einer politischen Kraft, die in vieler Hinsicht nicht mehr progressiv ist. Über die anderen Parteien brauchen wir   nicht erst viele Worte zu verlieren: die Aussagen von deren Vertretern zeigen allzu deutlich, dass es nicht um Menschen generell und nicht um unser aller Morgen geht. Widerstand hat sehr wohl eine ethische Komponente und muss in der vorliegenden Form auch von aktiver Gewalt gegen Menschen getrennt werden, die nach unserem Wissen von Angehörigen der „LG“ nicht ausgeübt wird.

Wir müssen aber festhalten, dass alles, was wir bisher geschrieben haben, keinen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund darstellt, wenn es zu Straftaten gegen das Leben anderer kommt: Ist der Fall zu bewerten, dass jemand während, aber auch wegen einer Blockade der „LG“ verstirbt, weil z. B. ein Rettungsfahrzeug nicht rechtzeitig am Unfallort ankommt, dann gilt, wie immer, der Grundsatz der Kausalität im Einzelfall in Form einer unabdingbaren Voraussetzung dafür, dass der Tod eingetreten ist und dass eine strafrechtliche Handlung sowie eine tatbestandliche Erfüllung infrage kommen. Ob und zu welcher Strafe das führt, muss dann vor Gericht verhandelt werden, wie bei jeder anderen Straftat, unabhängig vom motivischen Hintergrund. Dieses Risiko gehen die „LG“-Angehörigen also ein, wenn sie eine Lage nicht komplett überschauen können, die sie mit ihren Blockaden schaffen, aber wissen, dass so etwas passieren kann. Es wird zu Fällen kommen, in denen sie sich bedingten Vorsatz werden zurechnen lassen müssen. Sie haben dann so viel oder wenig wie jeder andere, der eine konkrete Straftat gegen das Leben begeht, mit der Schuldfrage zu leben und die Konsequenzen zu tragen.

Alles andere, wie die Ablehnung jeder aufsehenerregenden Aktion aufgrund ihrer formalen Rechtswidrigkeit, hier meist mit dem Tatbestand der Nötigung verknüpft, aber ist politisch motivierte Augenwischerei und das übliche reflexartige Anbiedern der Politik bei einer Mehrheit, die noch immer nicht verstanden hat, worum es geht: darum, dass auch diese Mehrheit eine Zukunft auf diesem Planeten hat.

TH

[1] Letzte Generation ist ein Bündnis von Aktivisten aus der Umweltschutzbewegung mit dem erklärten Ziel, durch Mittel des zivilen Ungehorsams Maßnahmen der deutschen und der österreichischen Bundesregierung gegen die Klimakrise zu erzwingen. Es bildete sich 2021 aus Teilnehmern des Hungerstreiks der letzten Generation. Ihre Anfang 2022 einsetzenden Aktionen bezeichnen die Aktivisten des Bündnisses als Aufstand der Letzten Generation. Der Begriff wurde von ihnen gewählt, weil die Überschreitung von Kippelementen im Erdklimasystem drohe und sie der letzten Generation angehörten, die verhindern könne, dass die Erde unbewohnbar wird. (Wikipedia)

[2] In dem Wikipedia-Artikel können Sie auch die wesentlichen Aktionen des Bündnisses bis zum 2. November 2022 nachlesen.

Briefing 49 (Briefing 48)

Unser 49. Briefing ist nach dem schweren Thema „Wagenknecht-Partei“ wieder ganz schlicht und Basis-Wissen Wirtschaft und Social Media, wie es sich für einen Donnerstagnachmittag gehört – bevor wir alle zum Wochen-Schlussspurt ansetzen.

Apropos – wie viel Zeit verbringen Sie eigentlich auf oder mit Twitter? Bei uns war es eine Zeitlang ziemlich viel, weil wir alle unsere Beiträge auch dort veröffentlichen und es während der Hochzeit unserer Berichterstattung zum Thema #Mietenwahnsinn auch einiges an Reaktionen gab. Was wir dabei unter anderem gelernt haben: uns ökonomischer zu verhalten. Das Engagement für andere hat Grenzen, wenn Support in den sozialen Medien nicht das Mindestergebnis seitens derer ist, die wir dort unterstützt haben. Mittlerweile ist alles viel intrinsischer und wir lassen uns kaum auf Diskussionen ein. Mögliche Ansätze dazu gibt es ohnehin nur noch dann und wann beim Thema Corona. Aber nicht erst, seit Elon Musk Twitter erworben hat und offenbar noch nicht versteht, wie die Community tickt, ist diese Plattform ins Gerede gekommen. Mehrere Politiker:innen haben sich beispielsweise mittlerweile von ihr distanziert.

Kleine Überraschung: Wir halten das für falsch. Wie man damit umgeht, ist entscheidend. Lieber eine:n Mitarbeiter:in mit der Führung des Accounts beauftragen, der Angriffe nicht persönlich nimmt und cool kontern kann, als gar nichts machen. Nach wie vor ist unser Eindruck, dass Twitter viel wirksamer ist, als es seiner Repräsentation in der Bevölkerung entspricht. Anders ausgedrückt: Viele Meinungsmacher:innen und solche, die es gerne wären, setzen dort ihre Markierungen und werden überproportional stark wahrgenommen. Im politischen Raum, aber auch für dieses Blog, halten wir Twitter nach wie vor für unverzichtbar. Auch, weil vergleichbare Angebote es nicht schaffen, sich gegen dieses Gezwitscher durchzusetzen. Falls es mal so kommt: Ist doch eh das Gleiche in Grün, Rosa oder welche Farbe die Alternative auch immer tragen würde. Twitter funktioniert u. E. auch in weiten Teilen anders als Facebook und wer auf der einen Plattform präsent ist und die andere weglässt, versteht nicht, dass erst diese beiden, mittlerweile wohl ergänzt durch Instagram oder bestimmte Chatmodule, einen professionellen Internetauftritt darstellen oder abrunden. Bei uns ist es eher das Abrunden, weil wir uns zurücknehmen und Zeit und Nerven sparen, siehe oben.

Was uns am unter der Grafik folgenden Text überrascht hat: Namen von Diensten, die wir noch nie gehört haben. Und dass Tumblr und Twitter als eine Kategorie von Social Media angesehen werden. Wir haben Tumblr bisher näher am Picturestore Flickr als an Twitter verortet, denn das Microblogging steht u. E. bei Tumblr nicht im Vordergrund. Dass Twitter selbst nicht so riesig ist, wie man annehmen könnte, sagt die Zahl der täglich aktiven Nutzer:innen aus, zu denen wir uns ebenfalls rechnen. Wir hätten diese Zahl weitaus höher eingeschätzt.

Infografik: Twitter-Alternativen weit abgeschlagen | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Seit dem 28. Oktober ist Tesla-CEO Elon Musk Besitzer des sozialen Netzwerks Twitter. Kaum eine Woche später hat Musk weitgreifende Änderungen an Teamzusammensetzungen und Strukturen des 2006 gegründeten Microblogging-Diensts entweder angekündigt oder direkt durchgeführt. Das Moderationsteam besteht laut übereinstimmenden Medienberichten mittlerweile nur noch aus 15 Personen, der gesamte Vorstand wurde entlassen und die Verifikation von Personen oder Institutionen öffentlichen Interesses wie Politiker:innen, Journalist:innen oder Marken in Form eines blauen Hakens soll in Zukunft allen Nutzer:innen im Rahmen des Abodiensts Twitter Blue für acht US-Dollar im Monat zugänglich sein.

Sich eher dem liberalen, progressiven oder linken Spektrum zuordnende Nutzer:innen befürchten zudem eine deutliche Zunahme von Hassrede und Diskriminierung, die je nach Auslegung unter Musks weithin bekannte Auffassung von Meinungsfreiheit fallen könnten. Wer allerdings nach ähnlich gut besuchten Alternativen im Microblogging-Bereich sucht, wird derzeit kaum fündig.

Wie unsere Grafik auf Basis von Unternehmensangaben zeigt, hatte Twitter im Juli 2022 beispielsweise 238 Millionen täglich aktive User:innen. Der 2007 gegründete Blogging-Dienst Tumblr, der 2013 für 1,1 Milliarden US-Dollar von Yahoo gekauft und 2019 für drei Millionen US-Dollar an den Blog-Hoster WordPress verkauft wurde, hat in den vergangenen zwei Jahren einen deutlich Beliebtheitsschub erfahren. Obwohl der Dienst mit 135 Millionen aktiven Accounts nicht an Twitter heranreicht, ist er derzeit die am stärksten genutzte direkte Alternative.

Kaum relevant sind die explizit als Twitter-Alternativen aufgefassten Dienste Mastodon und Cohost. Obwohl es bei ersterem am Tag nach der Übernahmeankündigung Musks laut Medienberichten 70.000 neue Account-Registrierungen gab, beteiligen sich Angaben von fediverse.party zufolge nur 1,3 Millionen Menschen aktiv an dem 2016 gegründeten Dienst. Eine genaue Zahl abzubilden ist allerdings schwierig. Mastodon besitzt keine globale Homepage, sondern ist in sogenannten dezentralen Instanzen organisiert, die von Einzelpersonen oder Teams betrieben werden und oft keine detaillierten Statistiken erheben. Mitglieder unterschiedlicher Instanzen können zwar untereinander kommunizieren, aber die jeweiligen Administrator:innen haben beispielsweise die Möglichkeit, bestimmte Instanzen auf Blacklists zu setzen, was die Darstellung von Inhalten und Kommunikation mit Nutzenden aus den entsprechenden Instanzen unmöglich macht.

Der Twitter-Tumblr-Mix Cohost, der sich seit 2020 in Entwicklung befindet und im Februar 2022 einem kleinen Kreis an User:innen zugänglich gemacht wurde, weist laut eigenen Angaben derzeit etwa 9.000 aktive User:innen auf. Der Dienst will eine werbe- und trackingfreie Alternative zu gängigen Social-Media-Portalen und chronologische statt algorithmisch bestimmte Timelines bieten. Ob Portale wie Cohost, Mastodon oder Tumblr auf Dauer eine Alternative zu Twitter darstellen können, bleibt weiter fraglich.

Ein wenig hatte das aktuelle Briefing auch den Charakter von „in eigener Sache“. Womit werden wir uns als Nächstes befassen? Vielleicht damit, das eine oder andere Thema doch geschlossener in Form eines Dossiers weiterzuentwickeln, das stets aktualisiert und ergänzt wird. Wir schreiben zu häufig das Gleiche, anstatt einfach auf das verweisen zu können, was wir zu einem Gegenstand bereits geschrieben und gesammelt haben.

TH

Briefing 48 (Briefing 47)

Unser 48. Briefing befasst sich mit der deutschen Parteienlandschaft. Speziell mit einer Politikerin, die jeder kennt und deren Verhalten so kontrovers diskutiert wird wie gegenwärtig bei sonst niemand in der Bundespolitk.

Vielleicht sollte man einschränken: Bei sonst niemandem, der keine Verantwortung trägt. Dass die „Macher“, also die Politiker:innen der Ampelkoalition ebenfalls die Gemüter erregen, in diesen Zeiten, versteht sich von selbst. Vielleicht wäre es ja auch besser gewesen, diese Politikerin irgendwann in die Verantwortung zu nehmen. Das hätte ihr die Möglichkeit genommen, sich gegen alle anderen zu stellen, auch gegen die politische Kraft, die immer noch ihre eigene Partei ist. Sie werden es sich schon gedacht haben, es handelt sich um Sahra Wagenknecht. Wie würde sich die politische Landschaft verändern, wenn sie eine eigene Partei gründen würde, der verschiedene Medien auf Anhieb zweistellige Ergebnisse bei Wahlen zutrauen würden?

Civey-Umfrage: Wie würden Sie es bewerten, wenn Sahra Wagenknecht (Linke) eine neue Partei gründen würde? – Civey

Der Begleittext von Civey dazu:

Sahra Wagenknecht (Linke) polarisiert. Im September erhitzte sie parteiübergreifend die Gemüter, als sie der Bundesregierung vorwarf, durch Sanktionen einen Wirtschaftskrieg mit Russland „vom Zaun zu brechen.” Es folgten Hunderte Parteiaustritte. Kürzlich sprach sie bei Bild TV von dem Wunsch einer neuen Partei, „die die Politik der Regierung verändern kann“.

Trotz anhaltender Dispute scheinen die Linken von ihr abhängig zu sein. Der Bild nach ist Wagenknecht derzeit die beliebteste Politikerin Deutschlands. Sollte sie die Linke verlassen, wäre die Partei der ARD zufolge „den Fraktionsstatus und damit Geld für Ressourcen und Personal los.” Denn danach könnten weitere Austritte folgen. Die nzz hält eine neue Partei aufgrund der mangelnden „Teamplayer“-Qualitäten der Gründerin indes für „unwahrscheinlich”.

Wagenknechts Beliebtheit hängt auch mit der Krisenpolitik der Bundesregierung zusammen. Der Spiegel verwies jüngst darauf, dass v.a. Geringverdienende unter den „unzureichenden Schutzmaßnahmen” und der sozialen Ungerechtigkeit leiden. Wagenknecht scheint viele daher mit ihrer direkten, gesellschaftskritischen Art abzuholen. AfD-Parteichefin Alice Weidel sprach kürzlich bei t-online von Wagenknecht als direkte Konkurrentin. Es wird vermutet, dass Wagenknecht viele Stimmen aus der AfD-Wählerschaft erhalten würde.

Wenn man sich über Jahre mit der Linken und Wagenknecht in der Linken so intensiv befasst hat wie wir, kann man das, was Civey oben geschrieben hat, nur als unterkomplex empfinden. Seit 2016 haben wir uns dem Thema und der Person gewidmet und als sie „Aufstehen“ mitinitiiert hatte, schrieben wir: Nur als Partei, die man wählen kann, würde diese „Bewegung“ funktionieren, etwa nach dem Vorbild des nationalistischen Linkspopulisten Jean-Luc-Mélenchon in Frankreich, der in der Tat für Wagenknecht und ihren Mann Oskar Lafontaine Vorbildfunktion hat oder zu jener Zeit hatte.

Andererseits: Die Frage muss auch für Menschen offen sein, die nicht, wie wir, die Linke von innen studiert haben und zu mittlerweile äußerst ernüchternden Ergebnissen gekommen sind. Auf der Demo „Solidarischer Herbst“ sprach uns ein sehr netter Genosse aus Zehlendorf an, der gemäß seinem dem Logo auf seinem Mund-Nasenschutz der KPF (der kommunistischen Plattform in der Linken) angehören sollte. Ich fragte ihn, er bestätigte mir das. Wir kamen is Gespräch und überein: Die einen können keinen Klassenkampf mehr, die anderen verfahren sich in schrägen Spins etwa zum Ukrainekrieg. Wagenknecht könne Ersteres übrigens auch nicht, tue sich aber bei Letzterem stark hervor, darüber waren wir uns ebenfalls einig. Ob ich nicht den Ortsverband wechseln bzw. wiedereintreten will. Es ist bekannt, dass mein Heimatbezirk Tempelhof-Schöneberg sehr wagenknechtlastig ist. Aber die Lage ist heillos verfahren, denn sozialistische Aufbauarbeit mit der „Gesellschaftslinken“ käme uns genauso wenig produktiv vor, wie Wagenknecht auf ihrem mittlerweile falschen Weg zu folgen. Allerdings war der Genosse auf der Demo auch ein Sonderfall, denn wir waren in einem wichtigen dritten Punkt d’accord: Antiimperialismus benötigt Äquidistanz, und das sehen führende Kräfte der KPF anders.

Haben Sie alles verstanden? Wenn Sie die Linke begreifen wollen, wie sie sich gegenwärtig zeigt, müssen Sie das leider und noch viel mehr als das. Wenn Sie Sahra Wagenknecht begreifen wollen, müssen sie bloß einen destruktiven, das nationale Großkapital hypenden Scheinsozialismus mit Putinfreundlichkeit verbinden können und schon haben Sie das Wesentliche beisammen. Leider. Das war nicht immer so, nicht so einseitig, so dominant, aber die Zeitenwende hat diese Tendenz entweder verstärkt oder für alle sichtbar gemacht.

Es ist für uns absolut kein Wunder, dass Alice Weidel Sahra Wagenknecht als Konkurrentin ansieht. Wagenknecht würde der AfD viele Stimmen wegnehmen, vor allem im Osten. Ob eine von ihr ins Leben gerufene Partei im Westen auf zweistellige Ergebnisse käme? Wir sind skeptisch, aber viele ihrer Anhänger:innen begreifen sich ja auch als Sachwalter:innen des Ostens. Eine Gemeinsamkeit mit der AfD, die sich dort beheimatet sieht. Obwohl kaum eine:r ihrer führenden Politiker:innen aus dem Osten stammt. Bei Wagenknecht ist das anders. Die Menschen dort finden sie authentisch, obwohl sie sozusagen emigriert ist und am Südwestrand der Bundesrepublik sehr gutbürgerlich lebt. Zusammen mit einem Mann, der nie ein Klassenkämpfer war, sondern ein Sozialdemokrat, der in der SPD vor der Ära Schröder nur knapp links des Mainstreams angesiedelt, und, das vergessen viele gerne, auch mal deren Vorsitzender war.

Dass sich heute viele Kommunisten in der Linken gerne solidarisch mit Wagenknecht zeigen, hat mit deren Putinfreundlichkeit zu tun. Es ist der Teil in der Linken, der aktuell auch dröhnend zur Revolte im Iran schweigt. Aus dem schlichten Grund, weil bei einem Abdanken des Mullah-Regimes einer der letzten wichtigen Verbündeten Putins verlorengehen könnte. Frau, Leben, Freiheit? Einem gewissen Cluster in der Linken ist das egal. Hauptsache, der Feind meines Feindes (der USA in dem Fall) ist mein Freund. Haben Sie schon gehört, dass Sahra Wagenknecht sich zu diesem größten und beeindruckendsten Freiheitskampf geäußert hat, der aktuell weltweit stattfinden? Wir nicht.

Wer Wagenknecht wählen will, muss wissen, dass er seine Stimme keiner Menschenfreundin gibt und keiner bewegungsorientierten oder klasenkämpferischen Sozialistin, das ist für uns ein wichtiges Ergebnis langjähriger Beobachtung und Analyse. Was immer sie ist, die NZZ hat einen wichtigen Punkt gemacht, als sie schrieb, es wird an ihrer Fähigkeit zum Teamplay fehlen, wenn es um den Aufbau von etwas ganz Neuem geht.

Allerdings auch hier eine Einschränkung: Sofern ihre Partei aufgebaut wäre, wie Parteien in der BRD nun einmal aufgebaut sind, nämlich als Sammlungen für politische ähnlich Denkende, dann wäre ihre Persönlichkeitsstruktur ein großes Hindernis. Wenn wir jedoch sehen, wie sich z. B. die erwähnte französische Demokratie entwickelt hat, wie es in Italien läuft oder vor einiger Zeit in Griechenland gelaufen ist, der muss berücksichtigen: Eine politische Kraft, die ganz auf eine Person zugeschnitten ist, kann sehr wohl etwas bewegen, wenn diese Person genug Gefolgsleute und Fans hat, die ihr den Rücken freihalten und es nicht zulassen, dass es innerhalb dieser Bewegung Meinungskämpfe geben kann, wie sie gerade unter Linken hinlänglich bekannt sind.

Allerdings: Regierungswirksam wurde auf diesem Weg vor allem das Mitte-Rechts-Lager, wie etwa der Neoliberale Emmanuel Macron in Frankreich, und im Hintergrund droht immer das Rassemblement National, die LePen-Bewegung, damit, eines Tages die Regierung zu bilden. Personenkult kann auch links sein, aber ganz tief im Inneren sind Linke dieser Art von Kult abhold und sie wissen, warum: Weil er anti-egalitär und anti-partizipativ, anti-emanzipativ und im Kern undemokratisch ist. Deswegen waren wir in besseren Zeiten Sahra Wagenknecht zwar gewogener als jetzt, aber nie unkritische Fans oder Gefolgsleute von ihr.

Wir sehen jedoch nicht, warum es in Deutschland prinzipiell nicht möglich sein sollte, eine Art personalisierter Bewegung zu schaffen. Um das böseste Beispiel nicht wegzulassen: Ein geewisser Adolf Hitler hat es vorgemacht. Auch die heutige „Die Linke“ war einmal stark an wenigen Führungspersönlichkeiten orientiert, als sie ihre beste Phase hatte. An Oskar Lafontaine aus dem Westen und Gregor Gysi aus dem Osten. Mit dieser Konstellation, etwas langfristig Unvereinbaren, war allerdings der Niedergang schon angelegt. Viele sind heute noch dankbar, dass Sahra Wagenknecht diesen Niedergang mit einem respektablen Wahlergebnis im Jahr 2017 aufzuhalten schien. Heute wissen wir, dass es sich um eine Scheinblüte handelte und dass ihre Popularität die Probleme überdeckte, die in ihrer Person, aber auch in einer Partei angelegt sind, die nicht zu ihr passt. Schon damals waren wir der Meinung, es hätte angesichts der zunehmenden sozialen Probleme ein zweistelliges Ergebnis für die Linke geben müssen. Es war aber nicht so und die Analyse dieses Gaps zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit wurde versäumt. Besonders bitter: Nach der Halbierung der Linken bei der Bundestagswahl 2021 findet dei Analyse ebenfalls entweder nicht statt oder keine Abnehmer:innen unter den linken Politiker:innen.

Mittlerweile ist wohl auch dem Letzten, insbesondere Sahra Wagenknecht klar, dass die Linke keine Chance mehr auf gute Ergebnisse hat und dass sie selbst dazu beiträgt, denn das sehen wir auch so: Ein guter Teil ihres Wählerpotenzials ist bei der AfD gebunden, solange Wagenknecht nicht unter eigener Flagge antritt.

Deswegen haben wir auch mit „sehr positiv“ gestimmt. Ja, wenn sie denn das Format respektive den Mut hat, soll sie es machen. Das würde eine Klärung des Kuddelmuddels in der Linken bewirken, die Querfront zwischen AfD und vielen Wagenknecht-Anhänger:innen offenlegen und die Linke könnte sich als Kleinpartei erneuern. Sie wäre dann gezwungen, wirklich links zu sein, um nicht wiederum von der SPD und den Grünen marginalisiert zu werden, während sich die AfD und die Wagenknechtianer:innen um eine Wählerschicht balgen können, zu der wir zum Beispiel nicht zählen. Die Gefahr für die Demokratie, die wir immer im Blick haben, wenn sich neue politische Entwicklungen ergeben, sehen wir hingegen als eher gering an. Niemals wird eine Wagenknecht-Partei die Wucht entwickeln, die Demokratie in Gefahr zu bringen. Vielmehr wird in der Tat die von Beobachtern prognostizierte Spaltung des rechten Lagers eintreten. Manche Menschen spalten eben, egal, wo und wie sie auftreten.

Ein Opfer wird auch die Linke sein. Auf den ersten Blick. In Wirklichkeit bekommt sie die Chance, es mal wieder mit profundem Sozialismus zu versuchen. Und vielleicht kommt jemand daher, der links wieder zum Strahlen bringen kann, ohne dass es dabei Ausfransungen nach rechts gibt. Vielleicht treten wir dann auch wieder ein. Man soll niemals nie sagen. Der Grund für unseren Austritt war nicht nur Wagenknecht, sondern auch die andere Seite, die sich in einem gesellschaftspolitischen Klein-Klein verheddert. Doch es gibt Restbestände echter Linker, mit denen man vielleicht etwas anfangen könnte. Wie jenen sympathischen Genossen, mit dem wir auf der Demo vor einer Woche gesprochen haben.

Das Herz an der richtigen Stelle und haben und wissen, dass man sowohl mit Wagenknecht wie auch mit ihren parteiinternen Gegner:innen dem Sozialismus keinen Schritt näher kommt, das ist eine Grundvoraussetzung für das Wiedererstehen von Solidarität und Gerechtigkeitssinn. Das ist für uns wichtiger als alle ideologischen Positionen. Diese sind vor allem deshalb so unvereinbar, weil ihre Vertreter:innen verbiesterte Typen sind, denen es vor allem ums Recht haben, nicht um die Menschen geht. Zu diesen Typen zählt leider auch Sahra Wagenknecht. Soll sie sich diejenigen holen, die ähnlich ticken wie sie selbst und die jetzt verblendet der AfD nachlaufen. Sie wird sich dabei auch einige handfeste Nazis einfangen, die versuchen werden, Wagenknecht für sich zu instrumentalisieren, aber das ist dann ihr Problem, nicht unseres.

Wir müssen nicht mehr das Gefühl haben, vielleicht eine Partei zu unterstützen, in der einige antidemokratische Geostrateg:innen alter stalinistischer Schule  zu viel, einige verkappte Nazis, dafür aber zu wenige Menschenfreund:innen unterwegs sind. Insofern: Soll Sahra Wagenknecht, wie in letzter Zeit häufig, das Richtige im Falschen tun und eine Partei gründen, die endlich die unerträglichen Zustände im linken bzw. pseudolinken Lager, die unendliche Reibungsverluste beendet und klar hervorbringt, wer welchen Geistes ist.

TH

Damit nicht ein Briefing nach dem anderen sich nur mit China befasst, heute zu etwas vollkommen anderem. Keine Angst, es geht noch am selben Tag oder spätestens morgen weiter mit diesem wichtigen Thema.

Heute fangen wir mit Wirtschaft an und enden mit Dingen, die man wirklich leicht ändern könnte, um die Menschen mental etwas zu entlasten, wenn die Politik sich einfach nur der Mehrheit anschließen würde, ohne Minderheiten tatsächlich zu diskriminieren. 

Die Inflation beherrscht wie kein anderes Thema derzeit das Denken:  

Das neue Maß der Dinge ist 57/33/50. Die Zeiten werden schlechter, warum sollen nicht die Realmaße unterhalb der Idealmaße liegen? 57 Prozent haben in einer aktuellen Umfrage die Inflation als wichtigste Sorge bezeichnet, ein Drittel muss sich beim Kauf „nicht existenzieller“ Konsumgüter bereits einschränken, die Hälfte hat am Monatsende kein Geld mehr übrig, um z. B. Vermögen zu bilden oder für noch schlechtere Zeiten zu sparen.

Nur 18 Prozent hingegen sehen derzeit den Ukrainekrieg als Hauptsorge an, ganz abgeschlagen der Klimawandel mit 6 Prozent und Corona mit drei Prozent. Das erklärt auch die Ignoranz gegenüber der Pandemie und leider auch gegenüber der ökologischen Katastrophe, an deren Relevanz sich nichts geändert hat: Themen, die nicht direkt das eigene Leben zur Hölle machen, werden beiseite geschoben. Es ist ganz natürlich und sogar gesund, in Krisenzeiten erst einmal die Prioritäten zu verschieben und sich neu ein- und auszurichten. Aber diese Verschiebung wird langfristig zu einer Verschärfung der Probleme führen, die jetzt in den Hintergrund treten, das muss uns klar sein.

Private Personen handeln durchaus richtig, wenn sie erst einmal schauen, wo sie jetzt sparen können, außerdem ist die kognitive und psychische Kapazität des Einzelnen begrenzt, daher verengt sich sein Fokus, wenn die Lage brenzlig wird. Dieser Schutzmechanismus ist überlebenswichtig. Doch die Politik muss vorausschauender denken, dafür hat sie unzählige Fachleute, die trotz der aktuellen Lage die Szenarien für eine bessere Zukunft weiterentwickeln können. Das ist ihr Job und der Job der Politiker:innen ist es, in Zusammenhängen zu denken und zu reden, damit die Bevölkerung nicht panisch nur noch ein Thema im Fokus hat, sondern auch die Chancen erkennt, die in im mehr oder weniger aufgezwungenen Wandel dieser vogelwilden Jahre liegen können.

Vielleicht sollte man mit den einfachen Dingen anfangen, den Zwang zu Vernunft und Wandel ernst zu nehmen? In der kommenden Nacht wird ja auch die Uhr wieder einmal umgestellt. In welche Richtung? Es gibt mindestens zehn Methoden, um sich das zu merken: Zeitumstellung: Vor oder zurück? Die besten Eselsbrücken | WEB.DE. Wohl dem, der diese Methoden in dem Moment abrufen kann, in dem sie gebraucht werden. Und es gibt eine Umfrage zum Thema:

Civey-Umfrage: Empfinden Sie die halbjährliche Zeitumstellung persönlich als belastend? – Civey

Der Erklärungstext dazu:

Am morgigen Sonntag wird hierzulande die Zeit von Sommer- auf Winterzeit (MEZ) umgestellt. Dann werden die Uhren von drei auf zwei Uhr um eine Stunde zurückgestellt. Theoretisch gewinnen wir so also eine Stunde Schlaf. Die Zeitumstellung ist weltweit umstritten. In Mexiko wurde die Sommerzeit gerade offiziell abgeschafft, da der gewünschte Energiespareffekt ausgeblieben sei.

Eigentlich sollte die Zeitumstellung nach einem Beschluss des Europäischen Parlaments von 2019 auch hier längst abgeschafft sein. Jedoch konnte sich die EU bisher nicht darauf einigen, ob die Sommerzeit oder die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) in Zukunft gelten soll. Den Mitgliedsländern ist es zwar freigestellt, für welche Zeit sie sich entscheiden. Allerdings soll ein Flickenteppich verhindert werden, der etwa Chaos bei internationalen Fahrplänen im Zug- und Flugverkehr erzeugen könnte.

Zeitumstellungen wurden eingeführt, damit die Menschen mehr Tageslicht nutzen können und Strom sparen. Allerdings hat sich gezeigt, dass die Menschen früh morgens mehr heizen. Zudem fühlen sich viele Menschen müde und schlapp nach der Zeitumstellung. Dies zeigt sich auch an erhöhten Krankmeldungen von Beschäftigten am Montag danach. Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin plädiert für die Winterzeit aufgrund des Tageslichts und des Blauanteils im Sonnenlicht.

Genau so sehen wir es auch: Weg mit der Zeitumstellung und bitte auf Winterzeit umstellen. Die Mehrheit ist zumindest bei uns, wenn es darum geht, ob die Zeitumstellung als störend empfunden wird. Wir haben aber nicht mit „eindeutig ja“, sondern mit „eher ja“ geantwortet. Denn morgen werden wir uns über die geschenkte Stunde freuen. Sie ist natürlich nicht wirklich geschenkt, sondern wurde uns im Frühjahr entwendet, es handelt sich also um eine Rückgabe. Wenn man diesen Vorgang als sich wiederholend innerhalb eines Jahres betrachtet, hat man auch schon einer der zehn Brücken, über die man gehen kann, ohne bei der Zeitumstellung in Not zu geraten: Was uns im Frühjahr geklaut wird, wir uns im Herbst zurückgegeben.

Im Herbst kommt auch wieder ein Thema auf, das uns am 31.12. jedes Jahr ebenso sicher beschäftigt wie im April und im Oktober die Zeitumstellung: Wie haltet ihr’s mit der Böllerei? Wir fangen dieses Jahr früh damit an, uns dagegen zu positionieren. Unterstützt durch diesen Artikel:

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Canan Bayram sagte dem Redaktionsnetzwerk dazu: „Ein Böllerverbot in Städten halte ich für unausweichlich.“ Sie unterstütze die Bundesländer in dem Wunsch, rechtssichere Verbote für Feuerwerkskörper einzuführen. „Klar ist, dass es unter Umwelt- und Gesundheitsschutzaspekten möglich und geboten sein sollte.“ Böllerverbot in Deutschland? Die Mehrheit ist dafür – WELT

Bayram ist in Berlin-Kreuzberg tätig. Sie weiß, wovon sie redet und wir wissen es als Bewohner des Nachbarbezirks auch. 57 Prozent der Befragten haben sich für ein Böllerverbot ausgesprochen, am höchsten war die Ablehnung in unserer Alterskohorte, am geringsten interessanterweise nicht bei den sehr jungen Menschen, die es gerne fetzig lieben, sondern in der nächstjüngeren Gruppe, die offenbar mit der Böllerei besonders stark sozialisiert wurde. Im Osten ist die Ablehnung eines Böllereverbots geringer als im Westen und besonders gering bei AfD-Anhänger:innen, von denen es wiederum im Osten besonders viele gibt und wodurch sozusagen der Kreis sich schließt.

Eine Mehrheit der Brandenburger hat sich in einer Umfrage gegen ein Böllerverbot zu Silvester ausgesprochen. In einer repräsentativen Umfrage des Instituts Insa-Consulere im Auftrag der Verbraucherzentrale Brandenburg sprachen sich 50 Prozent der Befragten gegen ein Verbot aus, nur 45 Prozent stimmten dafür. 5 Prozent der Befragten antworteten mit „weiß nicht“ oder machten keine Angabe. Bundesweit stimmte dagegen eine Mehrheit von 53 Prozent für ein Böllerverbot, 39 Prozent waren dagegen. (…) Große Zustimmung für ein Verbot gab es bei den Wählern von Grünen, SPD und Linke – dagegen stimmten fast zwei Drittel der Anhänger der AfD und 71 Prozent der Wähler von BVB/Freie Wähler. Die Anhänger von CDU und FDP zeigten sich mit Werten von 47 bis 49 Prozent in beiden Lagern gespalten.

Eindeutig: Je mehr Empathie Menschen haben, desto eher sind sie für ein Böllerverbot, daher überrascht der hohe Ablehner-Anteil bei AfD-Anhänger:innen keinesfalls. Mehrheit in Brandenburg gegen Böllerverbot zu Silvester (bz-berlin.de) und freie Wähler haben ja oft dieses Verständnis von Frieheit: Die Freiheit ist stets meine Freiheit, nie jene der anderen.

In Berlin dürfte es, anders als in Brandenburg, aufgrund der Erfahrungen mit Krach, Gefährdung und Müll eine deutliche Mehrheit für ein Böllerverbot geben. Aber solange die hiesige SPD gegen den Willen ihrer eigenen Wähler die Knallerei zum Nachteil aller, manchmal auch der Beteiligten, als eine Art Volksgut ansieht und mit der gegenüber ihrem Vorgänger deutlich populistischeren Franziska Giffey als Regierende Bürgermeisterin werden wir auch dieses Jahr vermutlich wieder im wörtlichen Sinne nicht erhört werden.

Dabei wird nun sogar der Ukrainekrieg als zusätzliches ethisches Argument gegen die Böllerei ins Feld geführt. Klappen wird es wohl nur dann, wenn die meisten einfach kein Geld mehr für solchen Quatsch haben und das heißt, es wird dauern und dauern. Denn die Leute, die ebenjenen Quatsch für unverzichtbar halten, essen lieber weniger und schlechter, dem Motto „Freier Quatsch für freie verarmte Bürger“ folgend, als freiwillig vernünftig zu sein. In anderen Ländern bzw. deren Großstädten ist man da schon viel weiter, aber dort wird auch nicht, wie besonders im Osten der Republik und mehr als 30 Jahre nach der Wende, Freiheit immer noch als Freiheit, andere ungehindert belästigen und gefährden zu dürfen, ausgelegt. Es ist vieles, zum Beispiel der Wert der Rücksichtnahme, auch eine Frage der Bildung, und mit der geht es in Deutschland bekanntlich abwärts.

Wir möchten wetten, dass der Knallereibefürworter:innenanteil unter den Querdenker:innen (wir meinen damit nicht speziell und ausschließlich jene in Sachen Corona) besonders hoch ist. Kommt das daher, dass diese Spezies dazu tendiert, einen Knall zu haben? Oh je, wieder ein offenes Fass.

TH

Damit nicht ein Briefing nach dem anderen sich nur mit China befasst, heute zu etwas vollkommen anderem. Keine Angst, es geht noch am selben Tag oder spätestens morgen weiter mit diesem wichtigen Thema.

Heute fangen wir mit Wirtschaft an und enden mit Dingen, die man wirklich leicht ändern könnte, um die Menschen mental etwas zu entlasten, wenn die Politik sich einfach nur der Mehrheit anschließen würde, ohne Minderheiten tatsächlich zu diskriminieren. 

Die Inflation beherrscht wie kein anderes Thema derzeit das Denken: 

Aber in der kommenden Nacht wird ja auch die Uhr wieder einmal umgestellt. In welche Richtung? Es gibt mindestens zehn Methoden, um sich das zu merken: Zeitumstellung: Vor oder zurück? Die besten Eselsbrücken | WEB.DE. Wohl dem, der diese Methoden in dem Moment abrufen kann, in dem sie gebraucht werden. Und es gibt eine Umfrage zum Thema:

Civey-Umfrage: Empfinden Sie die halbjährliche Zeitumstellung persönlich als belastend? – Civey

Der Erklärungstext dazu:

Am morgigen Sonntag wird hierzulande die Zeit von Sommer- auf Winterzeit (MEZ) umgestellt. Dann werden die Uhren von drei auf zwei Uhr um eine Stunde zurückgestellt. Theoretisch gewinnen wir so also eine Stunde Schlaf. Die Zeitumstellung ist weltweit umstritten. In Mexiko wurde die Sommerzeit gerade offiziell abgeschafft, da der gewünschte Energiespareffekt ausgeblieben sei.

Eigentlich sollte die Zeitumstellung nach einem Beschluss des Europäischen Parlaments von 2019 auch hier längst abgeschafft sein. Jedoch konnte sich die EU bisher nicht darauf einigen, ob die Sommerzeit oder die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) in Zukunft gelten soll. Den Mitgliedsländern ist es zwar freigestellt, für welche Zeit sie sich entscheiden. Allerdings soll ein Flickenteppich verhindert werden, der etwa Chaos bei internationalen Fahrplänen im Zug- und Flugverkehr erzeugen könnte.

Zeitumstellungen wurden eingeführt, damit die Menschen mehr Tageslicht nutzen können und Strom sparen. Allerdings hat sich gezeigt, dass die Menschen früh morgens mehr heizen. Zudem fühlen sich viele Menschen müde und schlapp nach der Zeitumstellung. Dies zeigt sich auch an erhöhten Krankmeldungen von Beschäftigten am Montag danach. Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin plädiert für die Winterzeit aufgrund des Tageslichts und des Blauanteils im Sonnenlicht.

Genau so sehen wir es auch: Weg mit der Zeitumstellung und bitte auf Winterzeit umstellen. Die Mehrheit ist zumindest bei uns, wenn es darum geht, ob die Zeitumstellung als störend empfunden wird. Wir haben aber nicht mit „eindeutig ja“, sondern mit „eher ja“ geantwortet. Denn morgen werden wir uns über die geschenkte Stunde freuen. Sie ist natürlich nicht wirklich geschenkt, sondern wurde uns im Frühjahr entwendet, es handelt sich also um eine Rückgabe. Wenn man diesen Vorgang als sich wiederholend innerhalb eines Jahres betrachtet, hat man auch schon einer der zehn Brücken, über die man gehen kann, ohne bei der Zeitumstellung in Not zu geraten: Was uns im Frühjahr geklaut wird, wir uns im Herbst zurückgegeben.

Im Herbst kommt auch wieder ein Thema auf, das uns am 31.12. jedes Jahr ebenso sicher beschäftigt wie im April und im Oktober die Zeitumstellung: Wie haltet ihr’s mit der Böllerei? Wir fangen dieses Jahr früh damit an, uns dagegen zu positionieren. Unterstützt durch diesen Artikel:

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Canan Bayram sagte dem Redaktionsnetzwerk dazu: „Ein Böllerverbot in Städten halte ich für unausweichlich.“ Sie unterstütze die Bundesländer in dem Wunsch, rechtssichere Verbote für Feuerwerkskörper einzuführen. „Klar ist, dass es unter Umwelt- und Gesundheitsschutzaspekten möglich und geboten sein sollte.“ Böllerverbot in Deutschland? Die Mehrheit ist dafür – WELT

Bayram ist in Berlin-Kreuzberg tätig. Sie weiß, wovon sie redet und wir wissen es als Bewohner des Nachbarbezirks auch. 57 Prozent der Befragten haben sich für ein Böllerverbot ausgesprochen, am höchsten war die Ablehnung in unserer Alterskohorte, am geringsten interessanterweise nicht bei den sehr jungen Menschen, die es gerne fetzig lieben, sondern in der nächstjüngeren Gruppe, die offenbar mit der Böllerei besonders stark sozialisiert wurde. Im Osten ist die Ablehnung eines Böllereverbots geringer als im Westen und besonders gering bei AfD-Anhänger:innen, von denen es wiederum im Osten besonders viele gibt und wodurch sozusagen der Kreis sich schließt.

Eine Mehrheit der Brandenburger hat sich in einer Umfrage gegen ein Böllerverbot zu Silvester ausgesprochen. In einer repräsentativen Umfrage des Instituts Insa-Consulere im Auftrag der Verbraucherzentrale Brandenburg sprachen sich 50 Prozent der Befragten gegen ein Verbot aus, nur 45 Prozent stimmten dafür. 5 Prozent der Befragten antworteten mit „weiß nicht“ oder machten keine Angabe. Bundesweit stimmte dagegen eine Mehrheit von 53 Prozent für ein Böllerverbot, 39 Prozent waren dagegen. (…) Große Zustimmung für ein Verbot gab es bei den Wählern von Grünen, SPD und Linke – dagegen stimmten fast zwei Drittel der Anhänger der AfD und 71 Prozent der Wähler von BVB/Freie Wähler. Die Anhänger von CDU und FDP zeigten sich mit Werten von 47 bis 49 Prozent in beiden Lagern gespalten.

Eindeutig: Je mehr Empathie Menschen haben, desto eher sind sie für ein Böllerverbot, daher überrascht der hohe Ablehner-Anteil bei AfD-Anhänger:innen keinesfalls. Mehrheit in Brandenburg gegen Böllerverbot zu Silvester (bz-berlin.de) und freie Wähler haben ja oft dieses Verständnis von Frieheit: Die Freiheit ist stets meine Freiheit, nie jene der anderen.

In Berlin dürfte es, anders als in Brandenburg, aufgrund der Erfahrungen mit Krach, Gefährdung und Müll eine deutliche Mehrheit für ein Böllerverbot geben. Aber solange die hiesige SPD gegen den Willen ihrer eigenen Wähler die Knallerei zum Nachteil aller, manchmal auch der Beteiligten, als eine Art Volksgut ansieht und mit der gegenüber ihrem Vorgänger deutlich populistischeren Franziska Giffey als Regierende Bürgermeisterin werden wir auch dieses Jahr vermutlich wieder im wörtlichen Sinne nicht erhört werden.

Dabei wird nun sogar der Ukrainekrieg als zusätzliches ethisches Argument gegen die Böllerei ins Feld geführt. Klappen wird es wohl nur dann, wenn die meisten einfach kein Geld mehr für solchen Quatsch haben und das heißt, es wird dauern und dauern. Denn die Leute, die ebenjenen Quatsch für unverzichtbar halten, essen lieber weniger und schlechter, dem Motto „Freier Quatsch für freie verarmte Bürger“ folgend, als freiwillig vernünftig zu sein. In anderen Ländern bzw. deren Großstädten ist man da schon viel weiter, aber dort wird auch nicht, wie besonders im Osten der Republik und mehr als 30 Jahre nach der Wende, Freiheit immer noch als Freiheit, andere ungehindert belästigen und gefährden zu dürfen, ausgelegt. Es ist vieles, zum Beispiel der Wert der Rücksichtnahme, auch eine Frage der Bildung, und mit der Bildung geht es in Deutschland bekanntlich bergab.

Wir möchten wetten, dass der Knallereibefürworter:innenanteil unter den Querdenker:innen (wir meinen damit nicht speziell und ausschließlich jene in Sachen Corona) besonders hoch ist. Kommt das daher, dass diese Spezies dazu tendiert, einen Knall zu haben? Oh je, wieder ein offenes Fass.

TH

Briefing 46 (hier zu Briefing 45)

Liebe Leser:innen, wir haben es geschafft. Die Bundesregierung hat auf uns gehört und den 24,9-Prozent-Deal mit China über ein Hamburger Hafenterminal abgeschlossen – und ist somit unterhalb der Sperrminorität von 35 Prozent geblieben. Das war tatsächlich unser Vorschlag im 44. Briefing. Selbstverständlich war unser Vorschlag nicht kausal für das Handeln der Regierung, aber wir dürfen uns trotzdem darüber freuen, dass eine sinnvolle Idee, die wir schon hatten, bevor öffentlich darüber diskutiert wurde, dass ein vernünftiger und konstruktiver Mittelweg mögliciherweise Realität werden wird. 

Den anderen Teil, eine Überkreuzbeteiligung am Hafen von Schanghai, haben wir nicht wirklich ernst gemeint, nicht für hier und jetzt, denn so etwas muss wachsen. Das Verständnis, dass Wirtschaftsbeziehungen ausgeglichen gestaltet werden müssen, muss wachsen. Die Einsicht in Europa, dass man China nicht durch Uneinigkeit und dumpfen Egoismus Tür und Tor öffnen darf, muss wachsen. Eine strategische Politik geht nicht von heute auf morgen, nur, weil Journalist:innen es fordern, sondern muss wachsen. Ebenso wie eine neue strategische Ausrichtung Russland gegenüber und im laufenden Krieg und den Auseinandersetzungen, die kommen werden.

Wir haben erstmals bei Markus Lanz vorgestern Abend gehört, dass nun tatsächlich eine abgespeckte Version des Deals in Rede steht, als Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD, befragt wurde. Er hat übrigens gut erklärt, was Scholz vorhat und warum der Mittelweg aktuell der Beste ist, aber Lanz bleibt Lanz, da kann man nichts machen. Lassen Sie sich von seinen Behauptungen nicht manipulieren, die Darstellung des SPD-Manns war so logisch und präzise, wie sie in einem solchen Format sein kann.

Es wäre falsch gewesen, dem chinesischen teilstaatlichen Unternehmen COSCO die Nase vor der Tür zuzuknallen und es geht auch nicht darum, mit China keinen Handel mehr zu treiben. Sondern um eine umsichtige und vorsichtige Neuorientierung, die unfassbare Deals wie etwa den Verkauf des Industrieroboterherstellers KUKA komplett nach China vor einigen Jahren künftig verhindert. Dieses Geschäft war auch nur die Spitze des Eisbergs, der deutsche Maschinenbau, der Industrieunternehmen in aller Welt mit Investitionsgütern ausrüstet, ist schon in einem viel zu hohen Maße mit China liiert.

Die angesprochene Firma war insofern besonders, als sie Meta-Wissen über hiesige Industrieabläufe besitzt. Doch die Merkel-Regierung hat dies und mehr einfach laufen lassen. Ihr Nachfolger Olaf Scholz und das Kanzleramt haben mit ihrem ersten vorsichtigen Schritt in Richtung Grenzen setzen alles richtig gemacht, was man in der aktuellen Lage richtig machen konnte. Gleichwohl waren auch die Warnungen der „Dienste“ und der Fachministerien richtig und hoffentlich sind sie nicht umsonst gewesen. Und vor allem darf die Beteiligung nicht in einem weiteren Schritt, der vielleicht schon vereinbart ist, ohne dass die Öffentlichkeit davon weiß und vorgenommen wird, wenn gerade keiner so genau hinschaut – nein, sie darf nicht einfach so erhöht werden, egal, ob die übrigen Europäer ihr Tafelsilber komplett verscherbeln. Einige tun dies nicht und lassen es auch nicht zu, dass Deutschland sich bei ihnen breit macht, wie man vor einiger Zeit am geplatzten Siemens-Alstom-Deal sehen konnte. Es gibt in dieser Richtung viele weitere Einseitigkeiten.

Auch innerhalb Europas muss endlich Reziprozität eintreten, da muss und darf Kanzler Scholz sich mehr ins Zeug legen, als seine Vorgängerin dies getan hat. Dass gewisse Nachbarn im Westen ihre Märkte abschotten, in Deutschland aber ungehindert Zugang erhalten, das war eine Blaupause für das zu einseitig verlaufende China-Geschäft und ist seit Jahrzehnten schädlich für die deutsche  Industrie. Die Marktliberalen hierzulande haben mit ihrer Ideologie der Nichteinmischung des Staates selbst in hochgradig systemrelevante Geschäfte erheblich dabei geholfen, das Land abhängiger von anderen zu machen. Dass sie jetzt den China-Deal bezüglich des Hafenterminals mit besonders markigen Worten kritisieren, ist lächerlich bis zum Mond und zurück und da ist eine frivole Form von Unehrlichkeit drin, die wir ihnen nicht durchgehen lassen dürfen.

Es wird sich nicht vermeiden lassen, auch mit Diktaturen Handel zu treiben, vor allem dann nicht, wenn sie so groß sind wie China, sonst wird Deutschland wirklich abgehängt werden. Aber nur eines wird die Unabhängigkeit wirklich sichern: Technologisch wieder hinter den Ball zu kommen und mehr anzubieten als den Ausverkauf der hiesigen Industrielandschaft. Zum Beispiel jene Autarkie, die Wahlmöglichkeiten eröffnet. Jene Nachhaltigkeit, die Vorbildfunktion haben kann. Darin liegt eine Riesenchance, denn China ist dermaßen auf weiteres quantitatives Wachstum angewiesen, dass es in Sachen Transformation nicht mit der europäischen Wirtschaft mithalten kann, deren hoher Sättigungsgrad es ermöglicht, nicht wahllos und auch nicht strategisch durch Aufkaufen der Welt, sondern für eine bessere Welt zu investieren. Es ist möglich, den Trend zu wenden, aber man muss beherzt an der richtigen Stelle Geld in die Hand nehmen.

Dass das nur zusammen mit den Partnern in der EU und den USA geschehen kann, ist aus Gründen der Größenordnung klar, aber im Notfall muss auch der eine oder andere Alleingang erlaubt sein, wenn es um die Entwicklung einer strategischen Wirtschaftspolitik geht, die wir seit vielen Jahren fordern und von der wir dank der ignoranten Merkel-Regierungen, an denen auch die SPD dreimal beteiligt war, weit entfernt sind.

Es war zum Haare raufen, wie dämlich die hiesige Politik sich diesbezüglich angestellt hat. Vielleicht, so stand es kürzlich in einem Kommentar, hat der Hafendeal immerhin den Vorteil, dass jetzt eine breitere Öffentlichkeit wach zu werden scheint. Bisher haben wir uns mit unseren Forderungen nach einer strategischen Wirtschaftspolitik oft ziemlich alleine gefühlt. Dabei lag es klar auf der Hand, wie gefährlich dieses Den-Kopf-in-den-Sand-Stecken ist. Für die Wirtschaft, auf lange Sicht, aber auch für die Demokratie, die uns besonders am Herzen liegt.

Hat die chinesische Seite dem etwas downgesizten Hamburg-Deal eigentlich schon zugestimmt? Falls sie das nicht tut, sollten umso mehr die Alarmglocken schrillen und es darf keine weiteren Zugeständnisse geben. Jetzt ist der Moment, einen leisen, aber konsequenten Turnaround einzuleiten. Und hier ist die Symbolik eines Unterschieds von nur 10 Prozent Beteiligung elementar: Die Sperrminorität bei Entscheidungen einer Firma liegt bei 25 Prozent und über sie zu verfügen oder nicht, macht einen erheblichen Unterschied. Dieses Sinnbild, das im Hafendeal erkennbar ist, werden die Chinesen sofort verstehen, weil sie sich auf Symbolik verstehen. Das, was wir hier sehen, muss eine Prämisse für alles werden, was künftig bei großen China-Deals zu entscheiden ist. Handel ja, Einfluss aber nur bis zu einer Grenze, die Deutschland im Krisenfall nicht wieder einmal handlungsunfähig macht. Wenn es läuft, wie es derzeit vorgesehen zu sein scheint, haben beide Seiten das Gesicht gewahrt. Die deutsche Politik ist häufig viel zu rudimentär, um diesem Aspekt eine Bedeutung beimessen zu können, für die chinesische Politik gilt das aber nicht. Wir hoffen, alle haben verstanden und wir sehen in den kommenden Jahren endlich wieder etwas wie Gestaltungspolitik, die vorausschauend ist und aktiv den Herausforderungen in der Welt begegnet.

Unsere heutige Grafik befasst sich notabene wieder mit den deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen. Wir haben im letzten Briefing schon angedeutet, dass die Handelsbilanzungleichheit für uns nicht das Hauptproblem darstellt, aber warum nicht auch sie mal zeigen, hat man sich bei Statista wohl gedacht und eine entsprechende Grafik erstellt:

Infografik: Deutsche Wirtschaft so abhängig von China wie nie | Statista

 

Die deutsche Wirtschaft war noch nie so abhängig von China wie im vergangenen Jahr. Das zeigt der Blick auf den deutschen Handelsbilanzsaldo mit China: Er hat 2021 mit rund 39 Milliarden Euro einen neuen Allzeit-Negativrekord aufgestellt. Die Handelsbilanz bezeichnet den Wert der Warenexporte minus dem Wert der Warenimporte. Ein positiver Wert bedeutet einen Handelsbilanzüberschuss, ein negativer Wert ein Handelsbilanzdefizit. Deutschland importiert also Waren mit einem deutlichen höheren Wert aus China, als es selbst dorthin exportiert.

Hierzulande wird nicht erst seit der geplanten Cosco-Beteiligung am Hamburger Hafen darüber diskutiert, ob und wie die deutsche Wirtschaft ihre hohe Abhängigkeit von China reduzieren soll. Sollte China den Konflikt mit Taiwan eskalieren lassen, gelten internationale Wirtschaftssanktionen gegen China als wahrscheinlich. Das hätte entsprechende negative Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft.

Wie diese Statista-Grafik zeigt, ist China längst der wichtigste Player im Hamburger Hafen. So liegt der Anteil Chinas am dortigen Containerumschlag bei rund 30 Prozent. Erst mit großem Abstand folgen die USA, Singapur und Russland. In Containern gemessen wurden im vergangenen Jahr im Hamburger Hafen 2,56 Millionen Standard-Container aus und nach China umgeschlagen.

Noch ein Schlusswort muss sein: Die Journalist:innen, die jetzt, ähnlich wie im Ukrainekrieg, „Eskalation!“ bzw. „Eine Schande, wir haben uns reinlegen lassen!“ kreischen, aber sich jahrelang nicht mit dem Thema China befasst haben, sollten mal etwas auf dem Teppich bleiben. Denn sie hatten ebensowenig wie die Merkel-Regierungen, denen sie immer affirmativ zur Seite standen, einen Plan davon, wie eine tatsächlich umsetzbare Strategie gegenüber China aussehen könnte.  

TH

UPDATE 2. Briefing 45 (hier zu Briefing 44, Update): Liebe Leser:innen, das Briefing wächst sich gegenwärtig zu einer Aktionsfolge aus und zu einem monothematischen Infoblock mit immer neuen Dante. Das liegt am brandaktuellen Thema, zu dem es fast im Stundentakt Neues gibt:

Hallo Thomas Hocke,

Teile des Hamburger Hafens nicht an das chinesische Regime verscherbeln: Du und mehr als 200.000 Menschen haben unseren Eil-Appell an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterschrieben. Morgen bei der Kabinettssitzung im Kanzleramt kommt das Hafen-Geschäft auf den Tisch. Es droht ein brandgefährlicher Deal: Wenn der chinesische Staatskonzern Cosco Teile des größten deutschen Hafens übernimmt, treibt das unsere Wirtschaft noch mehr in die Abhängigkeit des autoritären Herrschers Xi Jinping. Das darf Scholz nicht zulassen!

Mit einem Banner, Schildern und lauten Sprechchören stehen wir morgen ganz früh direkt vor dem Kanzleramt und zeigen: Wir Bürger*innen sind gegen den Hafen-Ausverkauf! Auch die Presse ist eingeladen. Unter den Augen der Öffentlichkeit kann Scholz sein Klüngeln mit dem Despoten in Peking nur noch schwer rechtfertigen. Er soll den Hamburger Hafen sichern und den China-Deal stoppen.

Ort: Kanzleramt, Willy-Brandt-Straße 1, 10557 Berlin

Zeit: Mittwoch, 26.10., 7.30 Uhr

Wenn Du kommst, teile uns das doch bitte in einer kurzen Mail an aktion@campact.de mit. Dann können wir besser planen. Und bringe gerne eine selbst gestaltete Fahne oder ein Plakat mit. So wird die Aktion noch bunter.

Herzliche Grüße

Lara Eckstein, Campaignerin

PS: Dieses Mal ist es besonders knapp. Um möglichst viele Menschen morgen früh vors Kanzleramt zu mobilisieren, brauchen wir Deine Hilfe: Leite die Mail bitte an Freund*innen und Bekannte weiter.

So viel Alarm ist selten, sogar in dieser Zeit der Krisen. Aber wir finden die Aktion gut, denn es gilt, die Politik so nach wie möglich an ihren Ausübungsorten zu stellen. Nachdem wir im Ausgangsartikel des Briefings etwas umfassender informiert und argumentiert und den EIl-Appell von Campact unterzeichnet haben (untenstehend), empfehlen wir denen, die es können, morgen früh schon vor dem Kanzleramt zu stehen. Denn morgen ist der letzte Tag, an dem der China-Hamburg-Deal in seiner bisher vorgesehenen Form gestoppt werden kann. Wenn Kanzler Scholz hier nicht auf alle sechs beteiligten Fachministerien hört und nicht auf die Bürger:innen, wird er sich wieder mehr Fragen stellen lassen müssen. Wir haben ihn zuletzt deutlich unterstützt, weil er im Ukrainekrieg eine Position vertritt, die Möglichkeiten in alle Richtungen offen lässt. Aber nun die nächste Abhängigkeit verstärken? 

Wir haben hier eine aktuelle Statista-Grafik, die belegt, wie weit die chinesische Staatsfirma Cosco bereits in Europa vorangekommen ist.

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die Bundesregierung setzt sich laut Medienberichten weiter für einen Teilverkauf des Containerterminals Tollerort (CTT) an COSCO ein. Statt 35 Prozent soll der chinesische Staatskonzern aber nur 24,9 Prozent des CTT von der Hamburger Hafen und Logistik AG übernehmen dürfen. Als Minderheitsaktionär hätte die Reederei keinen Einfluss auf die Geschäftsführung. Bereits jetzt hält COSCO Beteiligungen an vier der fünf größten EU-Containerhäfen, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt. Insgesamt ist das Unternehmen an acht europäischen und sieben weiteren internationalen Häfen vertreten. Während die sechs Ministerien, die bislang gegen den COSCO-Einstieg in Hamburg waren, überwiegend ihren Widerstand aufgegeben zu haben scheinen, zeigen sich andere Kritiker:innen weiterhin beunruhigt. „So wenig, wie es in der Natur ein bisschen schwanger gibt, so wenig gibt es bei dem Hafendeal in Hamburg ein bisschen chinesisch. Entweder man lässt sich auf das Geschäft ein oder man lässt es“, so die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

MASZ ist ja immer für eine Pointe gut, siehe Ukrainekrieg, aber es gäbe sehr wohl die Möglichkeit, an der konkreten Gestaltung des Deals etwas in der Richtung zu ändern, dass der chinesische Einfluss weniger massiv wäre.

Der Hamburger Hafen  ist der letzte der Big Five im Containergeschäft, an sie noch nicht beteiligt ist. Das alles war für uns in Deutschland bisher kaum ein Matter of Interest, es wurde höchstens in Fachzeitschriften darüber publiziert und es ist höchste Zeit, dass sich das ändert, denn diese Häfen gehören zu kritischen und systemrelevanten Infrastruktur. Das überdurchschnittliche Wachstum der niederländischen Wirtschaft in den letzten Jahren ist vor allem zwei Faktoren zu verdanken: Der nicht neuen, aber immer wirkungsvollen Idee, mit günstigen Steuerkonditionen Firmensitze aus aller Welt buchstäblich an Land zu ziehen und sich damit fragwürdige Wettbewrbsvorteile zu verschaffen, und den China-Deals, die den Top-Hafen der Niederlande gestärkt haben (ebenso den größten belgischen Hafen Antwerpen). Über den Fall Piräus haben wir mehrfach berichtet,  zunächst, als 2016 der Deal zustandekam.

Nun fragen wir uns: Was ist, wenn zwischen der EU und China die Interessenkonflikte zunehmen und wichtige Branchen so starkvon diesem Land achängig sind? In Deutschland sind es noch nicht die Häfen, wohl aber die Autoindustrie. Das enorm wichtige China-Geschäft ist auch einer der Gründe, warum Deutschland und die Niederlande wirtschaftspolitisch oft an einem Strang ziehen. Aber Wertepolitik lässt sich durch die einseitige Gestaltung dieser Beziehungen eben nicht durchsetzen. Es wird ohnehin ein sehr langwieriger Prozess ein, so gegenzusteuern, dass niemand das Gesicht verliert und alle Interessen berücksichtigt werden, ohne dass man China weiterhin einfach machen lässt. 

Das Dilemma zwischen einer Abkehr von der Verscherbelungspolitik und einer mittlerweile sogar durch Drohungen von chinesischer Seite unterstützte Lesart, die besagt, dass man sich ansonsten unweigerlich starke Nachteile im Wettbewerb einhalt, ist leider nicht von der Hand zu weisen und ein weiterer Fail der ignoranten Merkel-Politik. Aber die ersten Zeichen gegen das ungebremste und nicht reziproke Wachstum Chinas in Europa müssen jetzt langsam gesetzt werden. Die EU hat diesbezüglich ein Koordinationsforum geshafffen. Viel zu spät natürlich wieder und wir sind schon gespannt, ob am Ende nicht doch wieder die nationalen Eigeninteressen alle Ansätze einer strategischen WIrtschaftspolitik zunichte machen werden. Genau darauf setzt China, dass die Vielfalt und auch der Egoismus in der EU nichts ausrichten werden gegen ein zentral gesteuertes Wirtschaftsimperium, das eine Binnenbevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen für den Kampf der Systeme zur Verfügung hat. Im Grunde müsste der gesamte Westen inklusive den USA ganz eng koordiniert arbeiten, um die daraus erwachsende Gefahr abzuwehren. Derlei ist nicht in Sicht, also muss eben doch erst einmal national operiert werden. Möglicherweise auch um den Preis eines geringeren Wirtschaftswachstums in den nächsten Jahren, aber mit Freiheit für die eigenständige Gestaltung der Zukunft.

Morgen früh vor dem Kanzleramt, das wird bei uns leider nicht funktionieren, wegen eines wichtigen Termins schon recht früh. Wir waren dort erst am Wochende, anlässlich der Demo #SolidarischerHerbst, auch Camapct-Geschäftsführer Christoph Bautz war dabei und hat eine der Einführungsreden gehalten. Wir wünschen uns, dass so viele Menschen wie möglich laut werden gegen den Ausverkauf Europas und werden selbstverständlich weiter berichten.

TH

ZUM UPDATE: Liebe Leser:innen,

wenige Stunden, nachdem wir gestern unseren China-Artikel im Briefing 44 veröffentlcht hatten, kam von Campact eine Petition zu uns, die wir Ihnen unbedingt zur Unterschrift empfehlen. Wir haben uns zur Lage aus Einsicht und die Entwicklung der letzten Jahre bedauernd etwas differenzierter geäußert und in einer Civey-Umfrage nur mit „eher nein“ gestimmt, was die chinesische Beteilidung an einem Terminal des Hamburger Hafens angeht.

Doch prinzipiell hat Campact-Geschäftsführer Christoph Bautz recht und vor allem: Wenn nicht ganz schnell noch etwas passiert, wird der Deal in der bisher vorgesehenen Form, ohne jede Korrektur durch die Politik, über die Bühne gehen, und das wäre grundfalsch. Wir hatten die Petition schon gestern am späten Abend unterzeichnet. Die ursprünglich angezielten 100.000 Stimmen waren da bereits überschritten, aktuell sind es bereits 181.000. Man sieht also, das Thema Abhängigkeit von Diktaturen ist in der Bevölkerung angekommen. Wir haben aus Zeitgründen und um bei dieser wichtigen Angelegenheit die authentische Original-Optik zu erhalten, den Eil-Appell von Campact als Foto eingestellt, die dortigen Links funktionieren also nicht.  Unterzeichnen können Sie bereits hier. Lesen Sie im Anschluss oder zuerst auch unseren nachfolgenden Artikel von gestern!

Hier noch einmal zur Unterschrift!

Und hier zum Briefing 44,in dem wir uns der Sache etwas ausführlicher gewidmet und auf weitere Informationen verwiesen haben, u. a. auf den Tagesschau-Artikel, der auch von Campact erwähnt wird.

Liebe Leser:innen,

wir müssen reden bzw. informieren. Unser 44. Briefing befasst sich, wie die Nr. 43, mit Wirtschaftsthemen. Genauer, mit einem Thema, nämlich ausschließlich mit China und unseren wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Land. Es ist mittlerweile Deutschlads größter Handelspartner und steht für fast 10 Prozent des gesamten Außenhandels. Und es ist eines der wenigen Länder, die gegenüber Deutschland einen deutlichen Handelsbilanzüberschuss ausweisen.

Letzteres ist traditionell so und wäre nicht besorgniserregend, würde nicht gleichzeitig das Volumen geradezu explodieren. Besonders das Jahr 2021 zeigt ein deutlichen Anstieg der China-Importe. Noch viel wichtiger aber ist der chinesische Einfluss in Deutschland und Europa, der immer mehr wächst. China ist aber nicht irgendein großes Land, mit dem man gute Geschäfte machen kann, sondern die größte und eine der rigidesten Diktaturen der Welt. Und diese Diktatur hat bereits mehrfach nach den Versorgungslinien Europas gegriffen. Gut in Erinnerung ist uns noch der Verkauf des griechischen Hafens Nr. 1, Piräus, an China im Jahr 2016. Auch die Niederlande profitieren derzeit von massiven chinesischen Investments in ihren Hafen Rotterdam, der Hamburg mittlerweile locker abgehängt hat. Da liegt es geradezu auf der Hand, diesem Rückstand einen Einstieg des chinesischen Konzerns Cosco entgegenzusetzen, oder? Es handelt sich um ein halbstaatliches Unternehmen, in dem Funktionäre der KPCh das Sagen haben, mithin um eine eng an die China-Strategie der maximalen Expansion angebundene Firma.

Es ist noch nicht lange her, da wollte Kanzler Scholz uns einreden, Nord Stream 2 sei unpolitisch. Diese Sichtweise haben wir damals schon abgelehnt, mittlerweile wissen wohl alle, wie hochpolitisch dieses deutsch-russische Projekt ist. Es hat aber, wie der gesamte Russland-Handel bei Weitem nicht die Dimensionen wie die Verflechtungen mit China. Um es auf den Punkt zu bringen und gleich eine Meinung in den Ring zu werfen: Wir werden uns viel eher von russischem Gas befreien können als von der Umklammerung durch das Riesenreich der Mitte, die immer beängstigender wird.

Wir beginnen die Faktendarstellung mit einigen allgemeinen Zahlen:

Infografik: Deutschlands wichtigster Handelspartner | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Im vergangenen Jahr vereinbarten der Hamburger Hafenlogistiker HHLA und der chinesische Terminalbetreiber Cosco Shipping Ports Limited eine 35-prozentige Beteiligung der Chinesen am HHLA-Terminal Tollerort in der Hansestadt, über das Cosco seine Fracht abwickelt. Die zweitgrößte Container-Reederei der Welt will im Gegenzug bevorzugt mit seinen Schiffen anlaufen und sich damit stärker mit dem Wirtschaftsstandort verzahnen. Die Bundesregierung könnte dem Geschäft allerdings den Riegel vorschieben, denn die Beteiligung eines chinesischen Staatsunternehmens an kritischer Infrastruktur könnte Deutschland in erneute Abhängigkeiten manövrieren, die wie im Fall Erdgas aus Russland schwerwiegende Folgen haben können.

Schon jetzt ist die Bundesrepublik gewissermaßen abhängig von China. Wie die Statista-Grafik zeigt, ist die asiatische Volksrepublik der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Laut vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamtes hatten Importe aus China im vergangenen Jahr einen Rekordwert von rund 142,3 Milliarden Euro. Dabei importiert Deutschland vor allem Datenverarbeitungs- und Nachrichtentechnik. Ins Reich der Mitte wurden von hier aus rund 103,7 Milliarden Euro Warenwert exportiert – Über 25 Milliarden Euro entfallen dabei auf Kraftfahrzeuge sowie entsprechende Teile und Zubehör. China hält momentan einen Anteil von rund 9,5 Prozent am Gesamtvolumen des deutschen Außenhandels – vor zehn Jahren lag dieser noch bei 7,4 Prozent.

 

Einst waren europäische Staaten Deutschlands größte Handelspartner, regelmäßig die Niederlande vor Frankreich. Dann übernahmen die USA die Spitzenposition, nun ist sie an China übergegangen. Donald Trump hatte den Tatbestand der engen Verflechtung mit den USA genutzt, um Deutschland erheblich unter Druck zu setzen. Aber er konnte dabei nicht den strategischen Durchgriff erzielen, wie China es kann. Das geht eben in einer Demokratie so nicht, auch nicht in der angeschlagenen Demokratie der USA und nicht gegenüber einem Land, mit dem man schon so lange aufs Beste kooperiert, zum beiderseitigen Nutzen, nicht so einseitig, wie Trump es mit seinem populistischen Duktus gerne verkauft hat. Er hat aber den deutsch-amerikanischen Beziehungen geschadet und wem kam das zugute? China selbstverständlich. Dem Land, das unter Führung der KPCh noch nie Wirtschaftsbeziehungen auf Augenhöhe zugelassen hat. Seit dem Jahr 2011, als der „erste“ Wahlberliner gegründet wurde, beklagen wir den Mangel an Reziprozität in diesen Wirtschaftsbeziehungen. Dieser Mangel wurde bis heute nicht behoben. Auch diese Fehlentwicklung geht auf das Konto der Merkel-Regierung und deren Weg des geringsten Widerstandes.

Dieses Verhältnis zu China ist sehr komplex und wir müssten aus diesem Artikel ein Dossier machen, um es wenigstens in groben Zügen erfassen zu können. Heute geht es aber erst einmal darum, nicht zu tief zu gehen, auch heute wieder nicht, sondern weiter um Aufmerksamkeit für dieses Thema zu werben. Das ist gerade etwas leichter, wegen des Wunschs der Cosco, sich in ein Hamburger Hafenterminal einkaufen zu wollen. Nun wieder ein paar Infos:

Hafenbeteiligung in Hamburg: Kanzleramt will offenbar China-Geschäft durchsetzen | tagesschau.de

Eine solche Konfrontation ist selten: Obwohl alle Fachministerien den Einstieg von Chinesen beim Hamburger Hafen ablehnen, will ihn das Kanzleramt nach Informationen von NDR und WDR offenbar ermöglichen. (…) Die Blockade des Kanzleramts [gegen die Ablehnung durch die Ministerien] ist bemerkenswert, vor allem zum jetzigen Zeitpunkt. Nach dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich gezeigt, wie verwundbar Deutschland sein kann, wenn ein autokratisches Regime mit einem Mal die eigenen Interessen durchsetzt. Gerade deshalb lehnen die beteiligten Fachressorts – sie werden von SPD, Grünen und FDP geführt – das Geschäft in Hamburg ab. (…) Weniger Scheu vor dem offenen Konflikt [als die Politiker der Ampel-Parteien] könnte die chinesische Regierung haben. Aus Kreisen der deutschen Wirtschaft wird ein schwerwiegender Vorwurf berichtet, nämlich dass die chinesische Botschaft zuletzt deutsche Unternehmen direkt kontaktiert habe. Man solle sich für den chinesischen Einstieg beim Hamburger Hafen einsetzen. Ansonsten drohten Folgen für das eigene Geschäft. Die chinesische Botschaft verwies auf Anfrage auf ein vorheriges Statement der Außenamtssprecherin: Man hoffe, Deutschland werde Prinzipien wie jenen des offenen Marktes treu bleiben, statt normale ökonomische Beziehungen zu politisieren.

Kann man von einem Kanzler, der Nord Stream 2 als unpolitisch bezeichnet hat, dass er jetzt in Bezug auf das China-Geschäft etwas anderes sagt? Er weiß, es stimmt nicht, aber bei Nord Stream waren viele Genoss:innen in die Russland-Connections eingebunden, das wusste auch Scholz. Und hier geht es um seine Heimat: den wirtschaftlichen Anschluss verlieren oder die Chinesen weiter an Einfluss gewinnen lassen? So einfach ist die Entscheidung gar nicht. Sie ist es vor allem deshalb nicht, weil es nie eine strategische China-Politik Deutschlands, geschweige denn eine strategische Wirtschaftspolitik gegeben hat. Jetzt ein Zeichen setzen, kann richtig sein, muss aber nicht. Nach unserer Ansicht könnt der Kompromiss sein, dass China sich auf einen Anteil von 25 Prozent beschränkt und nicht über essenzielle Weichenstellungen der Hafenpolitik mitentscheiden darf. Oder: Nur im Gegenzug zur Übernahme eines florierenden chinesischen Konzerns durch deutsche Firmen. Eine Überkreuz-Verflechtung vielleicht. Aber derlei lehnt die chinesische Regierung eben ab und das macht ihr Handeln so gefährlich.

Nun hängt aber die sogenannte neue Wertepolitik erheblich davon ab, dass man sich nicht in Abhängigkeit von Staaten begibt, deren Menschenrechtsverletzungen man gerne kritisieren möchte, bei China vor allem die Behandlung Uiguren, aber auch der Umgang mit abweichenden Meinungen. Wenn für die Wertepolitik nur noch en paar billige Adressen an kleine, machtlose Länder bleiben, sollte man besser gleich die Wahrheit verkünden: Wir können diese Politik nicht gegenüber wirtschaftlich starken Partnern durchsetzen und schon gar nicht gegenüber solchen, die zusätzlich Atommächte sind, wie eben China.

Darin liegt eine Chance, das darf man nicht vergessen: Sich ehrlich zu machen und Interessenpolitik Interessenpolitik zu nennen, anstatt sie als ethisch intendiert an die Öffentlichkeit vermitteln zu wollen. Der Westen wird noch lange stark genug sein, um seine Interessen gegen China zu bündeln. Aber nur, wenn nicht viele westliche Unternehmen schon in chinesischer Hand sind. In Deutschland sind bereits knapp 30 Prozent der Vorzeigebranche Maschinenbau mit China kooptiert oder gehören gleich ganz chinesischen Firmen. Vor einigen Jahren hat zum Beispiel der Industrieroboter-Bauer Kuka, ein Weltmarktführer, den Besitzwechsel in chinesische Hände vollzogen und auch das war ein ziemliches Politikum, das Wellen über Deutschlands Grenzen hinaus geschlagen hat. Zu Recht, denn dieses Unternehmen besitzt auch die Software für Produktionsprozesse in der zweiten Schlüsselbranche Deutschlands, der Automobilindustrie. Überall in deutschen, euopäischen, asiatischen Hallen werkeln Roboter dieser Firma und geben den Chinesen dadurch Aufschluss über den Stand der Dinge in Sachen Produktivität und manches mehr. Das wiederum führt dazu, dass in China selbst die Aufholjagd beschleunigt vorangetrieben werden kann und europäische und amerikanische Hersteller immer mehr an Einfluss verlieren.

Warum hat man es so weit kommen lassen? Wegen kurzfristiger Interessen der deutschen Industrie und ihrer Lobbys. Man wollte unbedingt auf den riesigen chinesischen Markt und hat sich dafür regelrecht verkauft, fast ohne Bedingungen zu stellen und auf Gleichberechtigung zu achten. Langfristig könnte das ein gigantischer Bumerang werden, in den Ausmaßen nicht vergleichbar mit dem Aufstieg der japanischen Industrie, die jahrelang einfach von den Europäern geklaut hat, um in etwa gleiche Produkte günstiger herzustellen, bis sie in einigen Bereichen selbst innovativ genug war, um als eigenständig zu gelten. Aufgrund seiner Marktmacht muss China diesen Weg gar nicht gehen, es kann einfach sagen: Entweder ihr gebt eure Geheimnisse preis oder ihr kommt hier nicht rein.

Wer angesichts dieser Methode glaubt, die „neue Seidenstraße“ sei so ein friedliches Projekt, hat nichts begriffen oder singt aus naheliegenden Gründen (Hass auf den Westen) das Lied vom friedfertigsten Imperium aller Zeiten. Nach unserer Ansicht wurde schon so vieles falsch gemacht, dass man nicht plötzlich sagen kann: So, und nun ist Schluss. Das ist typisches Habeck-Niveau, und er wird sich abermals eine blutige Nase holen, wenn er Realisten wie Scholz gegenübersteht. Vielmehr muss es um die Entwicklung einer Strategie gehen, die nachhaltig gegen eine allzugroße Ausdehnung des chinesischen Wirtschaftsimperiums wirken kann. Profiteur davon, dass der Westen die Herausforderung endlich annimmt, könnte der globale Süden sein, der nun von zwei Seiten umworben wird. Da dort aber nur wenige vollständige Demokratien existieren, hat China einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Es kann den oftmals nicht demokratisch legitimierten Machthabern versprechen, sie zu stützen. Das Volk hingegen, wenn es wirklich etwas zu sagen hat, stützt sich auch selbst und kann kritisch gegenüber beiden Imperien sein. Es müsste insofern dem Westen zuneigen, aber ist das so, angesichts von Kolonialismus und Wirtschaftsimperialismus seit Jahrhunderten?

Wechseln wir wieder zu Texten Dritter: Sie dürfen nun mitmachen, denn Civey möchte wieder einmal den Puls der Zeit erfühlen und hat die passende Umfrage aufgesetzt:

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie den geplanten Verkauf von Anteilen eines Hamburger Hafenlogistik-Unternehmens an den chinesischen Konzern Cosco? – Civey

Der Begleittext dazu:

Der chinesische Staatskonzern Cosco will einen 35-prozentigen Anteil an dem Hamburger Containerterminal Tollerort übernehmen. Der Kauf von Anteilen des Hamburger Hafens sorgt für Streit in der Bundesregierung, die den Kauf unterbinden könnte. Genau wie Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher ist Bundeskanzler Olaf Scholz für den Deal, entgegen den sechs an der Prüfung beteiligten Bundesministerien.

FDP, Grüne und Teile von Union warnen Scholz vor zu großer Abhängigkeit von China. FDP-Fraktionschef Christian Dürr sagte der Rheinischen Post am Freitag: „Ich halte es für falsch, dass ein autoritäres Regime Einfluss auf unsere kritische Infrastruktur nimmt.” Anton Hofreiter (Grüne) mahnte in den Funke Medien, nicht die gleichen Fehler im Umgang mit China zu machen wie in den vergangenen 20 Jahren mit Russland.

Nun verteidigte SPD-Chef Lars Klingbeil Scholz und warnte vor voreiligen Schlüssen. Es gehe „um eine Minderheitenbeteiligung an einem Terminal“ und „nicht darum, dass man die Chinesen in die kritische Infrastruktur reinlässt“, sagte er im Deutschlandfunk. Mit Blick auf Russland gelte es ähnliche Fehler zu vermeiden. Dennoch sollte man jetzt intensive Gespräche führen, bevor man jahrelange Verhandlungen abbricht, so Klingbeil.

Lesen Sie, bevor Sie entscheiden, wie Sie abstimmen, gerne auch den ARD-Artikel ganz, den wir oben verlinkt haben. Es ist durchaus so, dass auch unternehmerische Entscheidungen bezüglich des Terminals künftig von chinesischen Managern mitbestimmt werden. Aber typischerweise sind mal wieder dort alle am meisten einer Meinung, wo das Thema wirklich kompliziert ist. Wir haben mit „eher nein“ gestimmt, nicht mit „eindeutig nein“, wie derzeit fast 80 Prozent der Abstimmenden. Weil wir das Dilemma sehen, in das man sich mit der bereits weit fortgeschrittenen Abhängigkeit von China gefahren hat. Deshalb plädieren wir für eine abgespeckte und dauerhaft in diesem Zustand verbleibende Beteiligung Chinas an dem bewussten HHLA-Terminal.

Gar nichts wäre ein zu abrupter Wechsel, aber es einfach laufen lassen, wäre nicht nur genau das, was die chinesische Führung wieder einmal als Zeichen von Schwäche interpretieren könnte, sondern in der Tat: es wäre ein Ausdruck von Schwäche. Wenn Cosco hingegen eine etwas reduzierte Beteiligung ablehnt, könnte man darauf verweisen, dass ein fairer Kompromiss von dieser Seite verweigert wurde. Gleichermaßen bei der von uns vorgeschlagenen Variante, wenn sie von der chinesischen Seite abgelehnt wird. Warum nicht mal ein Terminal des Hafens von Schanghai in deutsche Hände übergehen lassen, z. B. zugunsten der erfahrenen Frachtexperten von Hapag Lloyd? China hat so viele riesige Häfen, die allesamt größer sind als jeder Hafen in Europa, da wäre das doch problemlos möglich, ein Plätzchen für dieses renommierte deutsche Unternehmen zu öffnen – und ein Zeichen für die Friedlichkeit der chinesischen Ambitionen.

Bei Correctiv gibt es längst, worüber wir wieder nachdenken und was wir einst auch im Programm hatten: Eine eigene Reihe zu Chinas steigendem Einfluss in der Welt, von dort wurde auch der oben zitierte ARD-Artikel verlinkt: China Science Investigation (correctiv.org). Natürlich mit eigenen Recherchen, während wir nur Fakten wiedergeben und auf ihnen basierend Einschätzungen vornehmen können. So unterschiedlich sind die Ergebnisse aber gerade im Fall China nicht: Wir können nur davor warnen, schon wieder ein Imperium zu unterschätzen, das alles andere als ideologisch neutral ist. Die Behauptung, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, ist ein Märchen. Die Art der Einmischung ist oft ganz simpel: Seit der griechische Hafen Piräus an China verkauft wurde, ist es schwieriger geworden, in der EU eine einheitliche Position in Menschenrechtsfragen zu erreichen. Auch südosteuropäische Staaten sind bevorzugte Ziele für die Erweiterung der eigenen Einflusszone. Und Deutschland? Wir haben es oben in Teilen beschrieben. Es ist höchste Zeit, etwas zu ändern. Aber nicht so, dass die weltweiten Konfrontationen gefördert werden, sondern so, dass kluge Diplomatie dafür sorgt, dass es um berechtigte Interessen geht, ohne mit dem ohnehin nicht sauberen moralischen Finger auf andere zu zeigen.

Als wir vor mehr als 10 Jahren begannen, uns mit Chinas Aufstieg zu befassen, hatten wir im Grunde schon etwas richtig gemacht: Die Gefahren allzu deutlicher Verschiebungen in der Tektonik der Weltökonomie anzusprechen und nicht so zu tun, als hätte Europa die Aufgabe, seinerseits China mit „Werten“ unter Druck zu setzen und sein Modell auch dorthin zu exportieren, wo es nicht gewünscht ist. Sollte es eine indigene Freiheitsbewegung geben, sollten wir sie unterstützen, aber wenn es sie nicht gibt, ist es nicht Aufgabe des Westens, eine solche zu inszenieren oder herbeizuintrigieren.

Wenn diese Regelung eingehalten wird, ist es viel einfacher, dem Einfluss Chinas auf sachlicher Basis und ohne falsche Töne Grenzen zu setzen. Nur so kann ein fairer Ausgleich auch Erfolge geben und nur so werden auch neutrale Länder Vertrauen in den Westen gewinnen, in denen man noch allzu gut in Erinnerung hat, wie die alten Großmächte sich aufgeführt hatten, als sie über die Macht dazu verfügten. Das ist grundsätzlich von einer hierzulande wirklich gewollten Demokratieverteidigung in bereits demokratischen Ländern zu unterscheiden oder in solchen, in denen die Bevölkerung eindeutig in diese Richtung will. Aber machen wir es doch so, wie Scholz es gerne rüberbringt. Der Hamburger Hafen ist ein wirtschaftliches Projekt. Grundsätzlich gibt es keine Notwendigkeit dafür, dass chinesische Firmen deutsche Häfen übernehmen müssen, um hier ihre Waren zu verkaufen. Also reden wir über Interessen: Ihr wollt hier Einfluss, also messen wir eure Absichten daran, ob wir auch Einfluss bei euch bekommen dürfen. Wir riskieren, dass ihr euer System bei uns promotet, ihr dasselbe in umgekehrter Richtung (falls es denn wirklich so ist). Fair ist fair. Und vor den ethischen Maxima als Messlatte wäre es erst einmal notwendig, dass es in der Weltwirtschaft fairer zugeht als bisher.

TH 

Unser 43. Briefing hält wieder wirtschaftliche Informationen für Sie bereit. Was wäre Europa ohne seine Industrie: Gilt dieser Satz noch, in einer Welt der Dienstleistungen? Und ist in Deutschland die Produktion wirklich erst durch die Corona-Krise eingebrochen?

Infografik: Motor der deutschen Wirtschaft stottert seit Jahren | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die deutsche Industrieproduktion befindet sich seit Jahren in einem rückläufigen Trend. Der entsprechende Indikator fällt seit dem Jahr 2018 ab. Zuvor konnte die Industrie seit dem Ende der letzten Wirtschaftskrise beinahe kontinuierlich wachsen. Nach dem Einbruch im ersten Pandemiejahr erholte sich die Industrie zwar recht schnell, der insgesamt rückläufige Trend konnte allerdings nicht gestoppt werden.

Wie diese Statista-Grafik zeigt, ist die Industrie für die deutsche Wirtschaft von großer Bedeutung. Sie trägt zu etwas mehr als einem Viertel zum hiesigen Bruttoinlandsprodukt bei. Damit gehört die Bundesrepublik zu den Ländern, deren Industriesektor einen vergleichsweise großen Anteil an der Wirtschaftsleistung hat.

Der Ökonom Hans-Werner Sinn wies jüngst darauf hin, dass sich in Deutschland eine Rezession der Industrie verfestigt habe. Ein wichtiger Grund für diesen Negativtrend sei eine Schwäche des Herzstücks der deutschen Industrie, der Automobilproduktion. Sie sei durch den Dieselskandal und politische Entscheidungen des Europaparlaments zum Ende des Verbrennermotors starken Belastungen ausgesetzt. Zudem schwächele der Absatz der deutschen Autobauer im wichtigen Markt China.

Auf eines hat der alte Globalist Werner Sinn hier nicht hingewiesen, zumindest erwähnt Statista es nicht: Die deutsche Autoproduktion leidete bis zur Coronakrise weniger, als dass sie verlagert: Im Jahr 2016 war der Zeitpunkt erreicht, ab dem mehr Kraftfahrzeuge mit deutschen Markenlabels und deutscher Konzerne im Ausland als in Deutschland produziert worden sind. Vor allem der Anteil der in den USA und in China hergestellten „deutschen“ Autos wächst sukzessive. BMW betreibt sein größtes Werk in Spartanburg, Alabama und in China ist die Lage auch deshalb kompliziert, weil dort nur verkaufen darf, wer auch Arbeitsplätze schafft. Chinesische Firmen darf ein europäischer Konzern aber nicht übernehmen = keine Mehrheitsanteile an ihnen erwerben.

Es sei denn, sie stehen schlecht da, deswegen wurde, wiederum für BMW, kürzlich eine Ausnahme gemacht, damit sich die Deutschen die Sanierung dieses in die Sackgasse gefahrenen chinesischen Herstellers antun dürfen. BMW ist bekannt für die Neigung zu Himmelfahrtskommandos, siehe die grandiose Fehlinvestition in die Kernstücke der traditionellen britische Autoindustrie vor über 20 Jahren, von der nur Mini und Rolls-Royce übrig blieben – die aber wirklich im UK hergestellt werden. Auch Daimler-Benz hat sich auf ähnliche Weise mehrfach selbst geschwächt, betreibt aber seit einiger Zeit ein Montagewerk in Russland und muss nun überlegen, was mit einer solchen Fertigung passieren soll. Einzig das riesige VW-Konglomerat scheint einigermaßen kohärent zu funktionieren, wobei aber möglicherweise die chronisch defizitäre spanische Marke SEAT aufgegeben werden wird. In den iberischen Werken werden dann wohl vor allem Audi-Modelle produziert werden. Wiederum per Saldo eine Verlagerung weg aus Deutschland.

Richtig ist auf jeden Fall, dass die deutsche Industrie bereits seit 2018 schwächelt. Im Grunde war das Jahr 2019 bereits eines, das auf eine Rezession im folgenden Jahr hindeutete, sie fiel dann durch Corona so deutlich aus, dass man Sondereffekte und strukturelle Schwächen der deutschen Industrie kaum auseinanderhalten konnte. Trotzdem weist Deutschland noch immer einen relativ hohen industriellen Anteil auf, die BIP-Erwirtschaftung betreffend:

Infografik: So wichtig ist die Industrie für Europa | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die deutsche Industrie trägt zu etwas mehr als einem Viertel zum hiesigen Bruttoinlandsprodukt bei. Damit gehört die Bundesrepublik zu den Ländern, deren Industriesektor einen vergleichsweise großen Anteil an der Wirtschaftsleistung hat. Das veranschaulicht die Infografik auf Basis von Daten der World Bank. Neben Irland und Norwegen befinden sich viele osteuropäische Länder im Spitzenfeld.

In Deutschland wird derzeit die Gefahr einer so genannten Deindustrialisierung diskutiert. In Teilen der deutschen Wirtschaft ist die Produktion wegen des rapiden Anstiegs der Gas- und Strompreise in Gefahr. Angesichts der bis Anfang nächsten Jahres erwarteten weiteren Preiserhöhungsrunde fürchten sowohl Betriebe als auch deren Branchenverbände, dass die Produktion in Deutschland dauerhaft unrentabel werden könnte. Das Münchner Ifo-Institut erwartet, dass die Entwicklung der Energiepreise zu vermehrten Investitionen im Ausland führen wird. Länder mit einer weniger stark ausgeprägten Industrie sind von den steigenden Energiepreisen nicht so stark und unmittelbar betroffen.

Der Ökonom Hans-Werner Sinn wies jüngst darauf hin, dass die Industrie als Motor der deutschen Wirtschaft schon seit dem Jahr 2018 ins Stocken geraten ist. Seitdem habe sich in Deutschland eine Rezession der Industrie verfestigt, die sich am Rückgang der industriellen Produktion ablesen lasse. Ein wichtiger Grund für diesen Negativtrend sei eine Schwäche des Herzstücks der deutschen Industrie, der Automobilproduktion. Sie sei durch den Dieselskandal und politische Entscheidungen des Europaparlaments zum Ende des Verbrennermotors starken Belastungen ausgesetzt. Zudem schwächele der Absatz der deutschen Autobauer im wichtigen Markt China.

Das Bruttoinlandsprodukt bezeichnet den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die im betreffenden Jahr innerhalb der Landesgrenzen hergestellt wurden und dem Endverbrauch dienen. Es gilt als wichtiger Indikator für die Wirtschaftskraft eines Landes. Die Wirtschaft eines Landes wird zudem meist in die drei verschiedenen Sektoren Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen eingeteilt. In vielen offiziellen Statistiken werden in der Regel nur diese drei genannten Sektoren unterschieden.

Sie sehen, einige Informationen lassen sich für mehrere Grafiken verwenden. Die hohen Energiepreise in Deutschland standen vor der aktuellen Krise in der Diskussion, obwohl die Industrie nicht das zahlen musste, was uns Verbrauchern schon seit Langem aufgedrückt wird, nämlich die höchsten Energiepreise weltweit. Gleichzeitig erfahren Sie auf diese Weise einen wichtigen Grund dafür, warum Deutschland so sehr an günstigem russischem Gas interessiert war. Der Fehler war nach unserer Ansicht nicht die Idee, sich mittelfristig und durch Nutzung einer Brückentechnologie, die umweltseitig besser ist als Energieträger auf Karbonbasis, Energie zu fairen Preisen zu sichern, sondern die Aufgabe der Priorisierung einer Energiewende als langfristiges Ziel unter der Regierung Merkel.

Man hat also die Beine hochgelegt, mit Nord Stream 2 zudem die Partner in Europa verärgert und Wladimir Putin hat diese phlegmatischen Beine jetzt vom Tisch geschubst. Fair ist das nicht, denn die jetzige Bundesregierung hat diesen Stillstand höchstens in Form der vielen GroKos zu verursachen, an denen auch die SPD beteiligt war. Oder, je nach Lesart, diejenigen, die sich auf den Energiekrieg mit Russland eingelassen oder ihn provoziert haben, und das wäre dann sehr wohl die neue Regierung.

Man hat sich Auseinandersetzung um die Installation von Windkraftanlagen gespart, den Bau teurer Stromtrassen von Nord nach Süd, die Förderung alternativer Energien beim Hausbau, um alles schön günstig und die Baukosten für Bürger:innen sowie den Stress mit einigen von ihnen niedrig zu halten. Doch der Unwille, in die Zukunft zu investieren, rächt sich langfristig, wie so vieles an Angela Merkels opportunistischer Politik. Insofern war es auch ein Fehler, die wichtige deutsche Autoindustrie nicht früher zu einem Wechsel auf andere Antriebstechnologien als die Verbrenner zu „animieren“, während der frühere Ifo-Chef Hans-Werner Sinn ganz gemäß seiner marktliberalen Ideologie in den klimaschutzseitig notwendigen, jedoch viel zu späten und gegen den massiven Widerstand aus Deutschland doch irgendwie zuwege gebrachten Eingriffen der EU in das schadstoffhaltige Werkeln der Autoindustrie das Übel ausmacht.

Was uns überrascht hat: Dass die EU insgesamt das 20-Prozent-Industrieanteil-am-BIP-Ziel einzuhalten scheint, das sie sich selbst gegeben hat. Allerdings mit einem Vorbehalt: Wir sind uns nicht sicher, ob die Zahlengrundlage mit der übereinstimmt, die für die Definition dieses Ziels verwendet wurde, denn wir haben Zahlen im Kopf gehabt, nach denen auch Deutschland schon knapp an dieser 20-Prozent-Marke entlangschrammt, während Frankreich nur noch auf etwa die Hälfte kommt. Dass die osteuropäischen Länder so viel Industrie haben, liegt einerseits daran, dass bei ihnen immer noch günstiger produziert werden kann als in Westeuropa, andererseits, überspitzt formuliert, an der Absenz einer modernen, hochwertigen Dienstleistungsindustrie unter Einschluss der Finanzindustrie, die das westeuropäische BIP ebenso aufbläst wie das amerikanische.

Auch überraschend: Der hohe Industrieanteil Irlands und Norwegens. In Norwegen dominiert nach unserem Bild der primäre Sektor, durch die Nordseeöl- und -gasförderung, in Irland, das für uns eher dienstleistungslastig daherkam, könnte der durch Niedrigsteuern generierte Boom von Unternehmenszentralen eine Rolle spielen, die trotz der niedrigen Steuern erhebliche Einnahmen auf die Insel spülen. Ob aber die Produktionsstätten dort angesiedelt sind, ist eine andere Frage.

Insgesamt ist der oben ausgewiesene Industrieanteil in Europa höher, als wir ihn eingeschätzt haben, aber, siehe oben, die World Bank legt u. U. eine andere Definition zugrunde als andere Stellen, die solche Statistiken erstellen. Ähnliche Schwächephasen hatte die deutsche Wirtschaft schon zwei Mal. Nach dem Ende des Wende-Booms und wenige Jahre später, als die das Land wirtschaftlich als „Der kranke Mann Europas bezeichnet wurde“. Bundeskanzler Schröder hatte dann seine eigene Vorstellung davon umgesetzt, wie man Abhilfe schaffen könnte: Nicht mit massiven Investitionen in Zukunftstechnologien, sondern mit dem „besten Billiglohnsektor Europas“. Auch die damaligen Versäumnisse, die sich mit denen der Regierung Merkel zu einem jetzt kaum aufzuholen Rückstand im Bereich der Spitzentechnologie aufgetürmt haben, wurden in den 2010ern durch billiges Kapital inszenierten Scheinblüte geführt. Das geldpolitisch erzwungene Ende dieser Form von Wirtschaftsförderung, die vor allem konservative Branchen wie die Immobilienindustrie privilegiert hat, lässt nun das gefährliche Ausmaß der deutschen Innovationsschwäche ausgerechnet in der Krise voll zutage treten.

Das Einzige, worauf man nun hoffen kann, ist, dass die derzeit kontraproduktive Schuldenbremse für die nächsten Jahre endlich ohne opernhafte Allüren seitens der FDP ad acta gelegt und dass massiv in Richtung Erneuerung und Sanierung auf allen Gebieten umgesteuert wird. Dort, wo der Staat Anschubfinanzierungen leistet, muss er dann auch von den Früchten profitieren dürfen. Ohne massive Eingriffe in den „Markt“ geht es ohnehin schon lange nicht mehr, aber die Gewinne daraus sind bisher privatisiert worden, währen die Mehrheit der Menschen ärmer wurde. Diesen Kardinalfehler muss man angesichts der historischen Zwangslage, die man auch als Gelegenheit sehen kann, ebenfalls beheben.

TH

Briefing Nr. 42

Liebe Leser:innen, mit der Meinungs- und Pressefreiheit haben wir uns zuletzt hier beschäftigt, denn wir wollen ja nicht so tun, als ob in Deutschland alles perfekt wäre.

„Eine Zensur findet nicht statt“ (Verfassungsblog, Kommentar) | Frontpage | Demokratie in Gefahr – DER WAHLBERLINER

Wir haben dabei auch herausgearbeitet, dass es hierzulande, anders als im Grundgesetz festgelegt, sehr wohl Tatbestände gibt, die man mindestens bezüglich ihrer faktischen Wirkung als Zensur bezeichnen kann. Da im besprochenen Artikel auch ein Beispiel aus der Filmwelt verwendet wurde, ergänzen wir an der Stelle, dass auch freiwillige Selbstzensur, wie sie Filmverleiher hierzulande immer wieder ausüben, problematisch ist. Selbst dann, wenn sie nur dazu dienen soll, das Publikum nicht zu sehr zu konfrontieren, z. B. mit dem Schnitt oder der Wegsynchronisierung von Nazi-Darstellungen in ausländischen Filmen während der 1950er und 1960er, stellt sie eine Verfälschung dar. Auf welch einem vergleichsweise hohen Niveau wir hier aber diskutieren, sehen Sie im Folgenden am Beispiel berüchtigter Diktaturen bzw. Königshäuser im arabischen Raum:

Infografik: So unfrei ist die Presse der arabischen Halbinsel | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Katar schränkt laut Stern die Pressefreiheit während der FIFA-Fußball-Weltmeisterschaft ein. Konkret geht es darum, dass Kamera- und Filmteams eine Liste mit Auflagen unterschreiben müssen, die massive Einschränkungen enthält. Zum Beispiel darf weder bei Privatpersonen, noch in Regierungsgebäuden gedreht werden. Aber auch ohne WM-Einschränkungen ist es um die Pressefreiheit im Emirat eher schlecht bestellt, wie die Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen zeigt. Dort landet Katar auf Rang 119 von 180 Ländern.

Zur Situation im Land heißt es: „Katarischen Medienschaffenden bleibt angesichts der repressiven juristischen Rahmenbedingungen nur sehr wenig Spielraum. So erlaubt das Pressegesetz von 1979 die Vorabzensur von Medien. Ein Gesetz gegen Internetkriminalität verbietet angebliche Verstöße gegen soziale Normen. Medienberichte über die Regierungspolitik, die Königsfamilie und den Islam sind nur in engen Grenzen möglich.“ Indes ist Katar im Vergleich noch dass pressefreundlichste Land der arabischen Halbinsel, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt.

Katar hat sich sogar im internationalen Ranking leicht verbessert, ist aber vor allem deshalb das pressefreundlichste Land auf der arabischen Halbinsel, weil andere, wie der Oman, geradezu eine Rolle rückwärts gemacht haben. Dass das Kopf-Ab-Regime von Saudi-Arabien auch bei der Pressefreiheit keine gute Figur macht, versteht sich beinahe von selbst, das ist man sich sozusagen schuldig. Deutschland steht auf Rang 16, mit „zufriedenstellender Situation“, wie die meisten westeuropäischen Länder. Wirklich gut sieht es in Europa nur in Skandinavien aus – wieder einmal. China steht übrigens auf Platz 175 von 180 Ländern, schlechter als jede der arabischen Feudaldikataturen. So viel dazu, was es bedeutet, wenn der Einfluss dieses Landes in Europa immer größer wird. Zur Bewahrung der Demokratie gehört nicht nur bedingte, sondern unbedingte Abwehrbereitschaft. Dazu muss man keinen Krieg führen. Es reicht aus, diese Länder ohne Freiheit nicht immer weiter wirtschaftlich anzufüttern. Dadurch kommen sie in die Lage, sich in Europa einzukaufen und gerade Deutschland ist diesbezüglich offen wie ein Scheunentor, während in Frankreich wenigstens versucht wird, das Schlimmste zu verhindern (auch zulasten Deutschlands, aber letztlich sollte hier das gemeinsame Interesse überwiegen).

Wenn sich diese Regime und ihre Unternehmen aber erst einmal in den hiesigen Kapitalgesellschaften festgesetzt haben, gewinnen sie natürlich auch politischen Einfluss. Wir schreiben nicht zum Spaß immer wieder über die Lobbyverflechtungen der hiesigen Politik. Und je mehr zum Beispiel chinesisches Kapital in deutschen Firmen akkumuliert wird, desto mehr Einfluss entsteht auch von dieser Seite.

Die Fußball-WM von Katar ist ebenso ein Trauerspiel wie die Tatsache, dass die wirtschaftliche Ausbreitung der autoritären Regime von unter Druck stehenden kapitalistischen Staaten gefördert wird. Oder: Diese WM 2022 ist ein Symbol dafür. Und denken Sie mal, wer sich besonders dafür einsetzt, dass die Kritik bloß nicht zu laut wird. Die FIFA natürlich, die das alles zu verantworten hat, aber auch gewisse deutsche Vereinsbosse, die sich zuletzt vor allem als Straftäter hervorgetan haben. Unrechtsbewusstsein? Ach was:

Katar-Kritiker Michael Ott hat sich nach seinem Redebeitrag bei der Jahreshauptversammlung des FC Bayern München laut eigener Aussage einige „böse Worte“ von Uli Hoeneß anhören müssen. Der 70 Jahre alte Ehrenpräsident ging das Vereinsmitglied Ott im Audi Dome demnach verbal an, wie mehrere Medien berichteten. Hoeneß sagte demnach zu Ott: „Ihr Auftritt war peinlich. Das ist der Fußballclub Bayern München und nicht die Generalversammlung von Amnesty International.“ Ott gab den Wortlaut nach der Veranstaltung am Samstagabend auch so wieder.

Hoeneß wettert gegen Katar-Kritiker Ott – „Kein Amnesty International“ | FC Bayern (chiemgau24.de)

Aber warum sollte der Sport ethischer sein als die Wirtschaft und die Politik? Alles ist doch miteinander verwoben. Dass sich Menschenrechte und Demokratie so nicht schützen lassen, wissen die Protagonisten auch, aber es ist ihnen mindestens egal, vielen von ihnen darf man durchaus unterstellen, dass die Autokratien im Grunde mögen, weil sie selbst autokratische Charaktere sind. Das wird auch nicht dadurch widerlegt, dass jemand sich zu einer demokratischen Wahl stellt, denn das Prozedere ist nun einmal so und man kann es nicht im Alleingang ändern. Sehr wohl aber kann der Druck auf die Demokratie immer größer werden, weil hemmungslos unethisch gedacht wird und selbstverständlich sollte der Sport etwas wie eine Vorbildfunktion haben. An diesem Anspruch, den man sehr wohl formulieren darf, auch unterhalb der Schwelle von Amnesty International, scheitert er immer wieder, sonst würde es diese Katar-WM nicht geben. Solange der Westen mit diesen Regimen dermaßen kungelt, sollte man genauer hinschauen, was „werteorientierte Politik“ wirklich meint, in der es immer nur ein paar Buhmänner und ein paar Leuchttürme gibt, die meisten aber einfach nur Geschäftspartner sind, die sich offenbar einer ethischen Bewertung entziehen.

Dieses Dilemma bekommt eine Politik nicht gelöst, die nicht strategisch auf mehr und mehr Unabhängigkeit und auf die Begrenzung nichtdemokratischer Einflüsse aus allen Richtungen setzt. Dass die Unabhängigkeit dazu führt, dass einige Geschäftschancen ausgelassen werden müssen, ist vollkommen klar, aber hier gilt das Primat der Politik und hier geht es auch um deren Pflicht, die Demokratie selbst etwas ernster zu nehmen (falsche Haltung n dem Zusammenhang: „Mir egal, was meine Wähler zuhause dazu sagen“). Wir brauchen dringend einen anderen, einerseits achtsameren und andererseits widerstandsfähigeren Politikstil gegenüber dem Einfluss von Diktaturen und dem Einfluss von demokratiefeindlichen Rechten und Neoliberalen seitens der aktuellen Regierung. Das wäre wenigstens ein Anfang, für den man auch mal etwas Mut zeigen müsste. Ansagen kommen zwar neuerdings häufiger, aber wenn sie keine Wirkungen nach sich ziehen, weil keine Substanz vorhanden ist, mit der man Druck in Richtung mehr Kooperation und weniger Infiltration aufbauen kann, wirken sie nicht mutig, sondern dilettantisch und kontraproduktiv und fallen zudem durch eine höchst ungleiche Maßstäbe auf. Auch diesbezüglich geht der Blick in Richtung Außenministerium.

TH

Briefing 41

Unser 40. Briefing war wirtschaftlichen Themen gewidmet, das 41. schließt sich an. Doch es wird jetzt viel persönlicher. Die folgende Grafik zeigt, dass in Deutschland bereits im Jahr 2020 fast 40 Prozent der Haushalte nicht mehr in der Lage war, Sonderausgaben problemlos zu stemmen. Wie es jetzt, mitten in der Energiepreiskrise aussieht, dürfte klar sein: Die nächste Auffrischung der Zahlen, die auf einer Eurostat-Tabelle basieren, dürfte noch dramatischere Ergebnisse zeigen. Was auffällt: Wie schwach deutsche Haushalte im EU-Vergleich dastehen.

Infografik: Wo Menschen in der EU Zahlungsunfähigkeit droht | Statista Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Führende deutsche Wirtschaftsinstitute und die Bundesregierung haben für 2023 eine Rezession in Höhe von 0,4 Prozent prognostiziert.

[Anmerkung: Wir haben das im 40. Briefing thematisiert.}

Eine Erholung von den Nachwehen der Krisenmonate der Corona-Pandemie und dem immer noch andauernden Krieg in der Ukraine sei unter anderem aufgrund der drastisch gestiegenen Preise für Energieimporte erst für 2024 zu erwarten. Die Inflationsrate soll laut Herbstprojektion von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von aktuell zehn Prozent im September 2022 auf rund sieben Prozent im Jahr 2023 sinken, auch bedingt durch den 200 Milliarden Euro schweren Abwehrschirm, der Bürger:innen und Unternehmen ab dem Frühjahr hinsichtlich Zahlungen für Strom und Gas entlasten soll. Wie unsere Grafik auf Basis von Daten von Eurostat zeigt, hatten schon 2020 mehr als ein Drittel der deutschen Haushalte nicht genug Geld, um unerwartete Zahlungen begleichen zu können.

Mit einem Anteil von rund 38 Prozent liegt Deutschland damit im EU-Vergleich im oberen Drittel. Noch mehr Haushalte mit Zahlungsschwierigkeiten gibt es vor allem in Südost- und Osteuropa. An der Spitze des Rankings liegt Griechenland. Hier konnten 2020 etwa die Hälfte aller Haushalte potenzielle Mehrzahlungen nicht leisten, auch in Kroatien und Rumänien belief sich der Anteil auf fast 50 Prozent. Deutlich besser stehen einige deutsche Nachbarländer da. In den Niederlanden und Österreich lag die entsprechende Quote beispielsweise nur bei 19 respektive 18 Prozent.

Bei einem genaueren Blick auf die Daten fällt auf, dass vor allem Haushalte mit abhängigen Kindern potenziell häufiger in Zahlungsnot geraten könnten. Im EU-Durchschnitt fielen 32 Prozent der Haushalte ohne Kinder in das entsprechende Raster, bei Haushalten mit Kindern waren es insgesamt 34 Prozent. Isoliert man die Haushalte von Alleinerziehenden, erreicht die Quote sogar 57 Prozent. In Irland, Griechenland und Zypern fallen jeweils mehr als 70 Prozent aller Alleinerziehenden-Haushalte in diese Kategorie. Eine Einschränkung ist bei der Analyse der Daten allerdings zu beachten: Der Indikator bezieht sich laut Eurostat auf das Vermögen der Haushalte, Einkommen und Ausgaben wurden hierbei nicht betrachtet. Entsprechend bilden die Werte finanzielle Sicherheit und nicht etwa Einkommensverhältnisse ab.

Hier die Tabelle von Eurostat, auf der die obige Grafik aufbaut:

Die Einschränkung im letzten Absatz bedeutet was?

Die Statista-Grafik ist im Grunde eine Spiegelung dessen, was wir schon mehrfach angesprochen haben: Deutschland als reich zu bezeichnen, ist ein Witz, den Neoliberale und andre Profaschisten gerne erzählen, um zu verschleiern, dass die Menschen hierzulande mittlerweile zu den Ärmsten im „alten“ (West-) Europa zählen, nur, damit niemand sich fragt, warum das Kapital immer weiter zulasten der Mehrheit akkumulieren und die Ungleichheit immer weiter anwachsen darf. Das Medianvermögen in Deutschland ist erschreckend niedrig und sinkt weiter. Diese Darstellung zeigt, wie sehr dieses Land in Wirklichkeit gestrippt worden ist:

Liste der Länder nach Vermögensverteilung – Wikipedia

Auf den ersten Blick fällt auf, dass das Medianvermögen in Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Italien um ein atemberaubendes Zweieinhalb- bis Dreifaches höher liegt als bei uns. Nicht, dass damit alle reich wären, aber z. B. in den romanischen Ländern würden die Menschen es nicht dulden, zu ihren eigenen Lasten und zugunsten weniger dermaßen von einer gewissenlosen Politik in den Ruin getrieben zu werden wie bei uns. Und das, obwohl die Deutschen doch angeblich so viel sparen. Wo geht es aber hin? Zum Beispiel in die Weginflationierung, derzeit, in die Negativzinsen, schon seit einiger Zeit usw. Der Verfall der Vermögensbasis der Mehrheit in diesem Land ist ein Alarmzeichen auch für die Demokratie.

Der Gini-Index in Deutschland liegt mit über 81 Prozent wirklich sehr hoch. Nur Länder wie Russland und die USA liegen unter den größeren Staaten noch einmal deutlich darüber.

Das zeigt auch ergebnisseitige Ähnlichkeiten zwischen dem hochkapitalistischen US-System und dem russischen Oligarchen-System auf: Wenige profitieren in absurd hohem Maß von den Vielen. Deswegen ist Antikapitalismus für mich untrennbar äquidistant. Wenn ich dann lese, wie ein gewisser Herr Linnemann ein Buch darüber schreibt, wie man die “Vollkaskomentalität“ in Deutschland beheben müsse …

Carsten Linnemann wurde vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz als Leiter der CDU-Kommission eingesetzt, die ein neues Grundsatzprogramm für die C-Partei ausarbeiten soll.

Hier gibt es ein Interview mit ihm. Klingt alles ziemlich verschwurbelt, was er darin sagt, aber am Ende wird es herrlich konkret: Die Armen haben hier noch zu viel Geld. Und es trendet gerade #Eigenverantwortung.

Linnemann: „Mein Ziel ist es, die Vollkasko-Mentalität aufzubrechen“ | WEB.DE

Nicht nur die Wortwahl kennen wir von früher, auch die Ideen sind in Wirklichkeit nicht innovativ, sofern sie aus dem Interview zu entnehmen sind. Nur ist dieser Spin heute noch krasser, wo die Verarmung im Land so weit fortgeschritten ist. Kommt mir vor wie einst bei Roman Herzog: „Ein Ruck muss durch das Land gehen“. Das hat sich Gerhard der Grausame (Ex-Kanzler Schröder) zu Herzen genommen und dafür gesorgt, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Nur gab es damals viel mehr offizielle Arbeitslose als jetzt. Linnemann drischt aber auf eine Chimäre ein, zumindest, wenn die offiziellen Arbeitslosenzahlen stimmen, denn es hat ja fast jeder Arbeit. Da wird wieder ungeniert die neuliberale Keule ausgepackt, und sie ist im Kern antidemokratisch.

Die CDU wird doch mit dieser Politik nach den Erfahrungen der Mehrheit in den letzten Jahren niemals wieder Mehrheiten gewinnen können.

In einer Civey-Umfrage haben viel zu viele Abstimmende gesagt, das Bürgergeld, das 2023 kommen soll, sei ausreichend (oder mehr als das). Viele kapieren es immer noch nicht: In einer wirklich innovativen Gesellschaft, in der einfache Arbeiten weitgehend wegautomatisiert werden können, wird für viele nur noch ein Grundeinkommen übrigbleiben oder jene Bullshit-Jobs, die sich rasant vermehren, aber im Grunde kaum Wertschöpfung erzielen. Das Ziel ist es aber ja, Arbeit aufs Notwendige zu reduzieren, damit das Klima und die Umwelt möglichst wenig zu belasten und dabei so viel Wert zu schöpfen, dass die Menschen, die an diesem Prozess nicht mehr teilhaben können, sich angenehmen, vielfach kreativen Aufgaben widmen können, die das Zusammenleben ganz sicher mehr verbessern als der rechte Quark, der bloß dafür sorgen soll, dass alle aufeinander möglichst neidisch sein sollen. Neid und Hass sind aber die Grundpfeiler des Konkurrenzkapitalismus und des Krieges, der immer mit ihm einhergeht, wie wir gerade wieder sehen. Dafür steht die CDU.

Wenn ich angesichts der Tatsache, dasss man im sogenannten Vollkaskosystem für wirklich alles selbst zahlen muss, sogar für Gesundheitsausgaben Zuzahlungen, die sich bei einem etwas größeren Problem rasch summieren können, das man nicht einmal selbst verursacht hat, kann ich nur noch … ja, was? Den Kopf schütteln oder lachen? Vielleicht abwechselnd, damit der Schädel von so viel CDU-Blödsinn nicht zu sehr brummt. Diese antiquierte Begriffswahl alleine ist eine Frechheit. Sie stammt noch aus der Zeit, als Autos „vollkasko“ auf den Neuwert versichert werden konnten, es also einen kompletten materiellen Schadensersatz auch bei selbstverschuldeten Unfällen gab. Vorwärts, wir marschieren zurück in die frühen 1990er, als Helmut Kohl blühende Landschaften versprach, das ist, wenn man das Innvationsgestreusel per „Entbürokratisierung“ mal weglässt oder als das nimmt, was es ist, nämlich eine Entmachtung des Staates und damit von dessen Schutzfunktion, der Kern von allem. Das passt in seiner geistigen Armut zur materiellen Armut der meisten Menschen in Deutschland.

Nochmals: Wo sollen die Mehrheiten für ein solches Szenario herkommen? Dass etwa 35 Prozent in einer Umfrage sagen, das Bürgergeld sei genug oder sogar zu hoch, bedeutet noch nicht, dass wir wieder eine Politik à la Schröder-Merkel bekommen werden.

Es wird zu einer bundesweiten CDU/CSU-AfD-FDP-Koalition kommen, wenn wir nicht als Zivilgesellschaft höllisch aufpassen. Ich muss nur an Thüringen 2020 erinnern oder an dem, was sich auf Bezirksebene in Berlin abspielt, wo es möglich ist, also in den eher rechten Bezirken. Da sind genau diejenigen zusammen, die der Mehrheit in diesem Land nicht das Schwarze unter dem Nagel gönnen. Okay, das ist auch eine Hygienefrage, aber auch Hygiene als Sinngebung für Einzelpersonen ersetzt nicht ein menschenwürdiges Leben für die Mehrheit. Die Grünen unterstützen diesen üblen Spin auf ihre Weise, indem sie von oben herab Identitätspolitik betreiben, die den Klassenkampf hintertreibt. Das Sich-Einschießen mancher Rechter auf die Politik der formalen Partizipation für Minderheiten durch die Grünen ist reine Augenwischerei, denn so blöd sind sie nun wieder nicht, dass sie nicht merken, wie auch das dem Kapital hilft und nicht denen, die formal, aber nicht sachlich partizipieren können.

Was muss stattdessen?

Das Einzige, was gegen das Desaster hilft, das wir in der Statistik gespiegelt bekommen, ist starke sozialpolitische Gegenwehr. Von mindestens vier von sechs Parteien, die aktuell den Bundestag proppenvoll machen mit ihren zu vielen Abgeordneten, werden wir dazu nichts sehen, von den beiden übrigen viel zu wenig. Also kann es nicht angehen, dass jede Gruppe derzeit ihre eigenen Demos macht, es muss endlich mal zu Zusammenschlüssen kommen. Natürlich unter Ausschluss der Rechten, die vom Kapital nur als Stoßtrupp gegen die Interessen der Mehrheit verwendet werden.

Zurück zum Ausgang: Nur in osteuropäischen EU-Ländern ist in der Tat der Anteil derjenigen höher, die bei Sonderausgaben gefährdet sind.

Nicht, dass ich den Menschen dort nicht auch eine bessere Aufstellung gönne, aber ich schaue natürlich vor allem nach Westen, wo alle nach dem Krieg fast bei null gestartet sind, wo die meisten von uns sozialisiert wurden und wo es in den 1950ern, 1960ern ähnliche Entwicklungen gab, wenn auch mit unterschiedlichem Tempo und unterschiedlicher Wirtschaftspolitik. Das deutsche neoliberale Marktmodell, das einen Trickle-Up-Effekt bewirkt, keinen Trickle-Down-Effekt, ist mittlerweile, auch aufgrund seiner an amerikanischen Ultras der 1980er angelehnten Ausfassung, aber dem mehr interventionistischen französischen Modell klar unterlegen, wenn es darum geht, wie die Bevölkerung dasteht.

Das wird uns von interessierten Lobbys und neoliberalen Wirtschafts-„weisen“ zwar ganz anders verkauft, aber die Zahlen sind eindeutig. In allen westeuropäischen Ländern außer Griechenland, wenn man es denn zu Westeuropa rechnet, sind die Menschen gegen Krisen besser abgesichert als hierzulande. Selbst dort ist das Medianvermögen übrigens nach der obigen Tabelle höher. Verrückterweise hauen die Linkskeynsianer, die wirklich glauben (ich meine eher: vorgeben) sie seien links, in die gleiche Kerbe wie die neoliberalen Ultras und scheren sich nicht darum, wie sie soziale Kämpfe damit torpedieren. Aber nicht z. B. die Exportstärke Deutschlands, sondern die zu geringe Partizipation der Bevölkerung daran ist das Problem. Nicht der Grad oder die Stärke einzelner Branchen im Bereich der Technik, sondern die Verteilung der Produktionsmittel bestimmt darüber, wie die Bevölkerung sich steht.

Aber die Revolution ist nicht in Sicht.

In dieser Krise muss doch endlich klar sein: Die Menschen müssen aufhören, diese rechten, klassistischen Parteien zu wählen, die keine Stützen der Demokratie (mehr) sind. Das ist doch eindeutig der erste Schritt. Die übrigen politischen Kräfte müssen ebenfalls sofort durch Stimmentzug abgestraft werden, wenn in ihnen ähnliche Strömungen die Oberhand gewinnen, wie einst in der SPD, deren Niedergang parallel zum Niedergang der Chancen der Mehrheit in diesem Land verlief. Da ist noch so viel zu tun. Und es muss links von der SPD endlich eine kraftvolle politische Strömung entstehen, die glaubwürdig, kohärent und nachprüfbar am Fortschritt interessiert ist.

Wir selbst können jeden Tag etwas tun, indem wir zum Beispiel darüber informieren, wen wir mit der Merz-Linnemann-Union, der Lindner-Kubicki-FDP, der AfD wirklich vor uns haben: Das Grauen, das sich aufgrund des Rechtsrucks in einigen europäischen Ländern schon als Tagespolitik manifestiert hat. Das allerletzte, worum es diesen Kräften geht, ist Innovation, die uns allen etwas bringt, das kann man gar nicht oft genug betonen. Schauen Sie sich noch einmal die Grafik an: Sind alle die Menschen, die finanziell so schwach dastehen, zum Beispiel Alleinerziehenden-Haushalte, „Schuldige“? Die CDU mit ihrem „Eigeninitiative“-Spin suggeriert das aber. Entspricht ja auch ihrem retardierten Familienbild. In Wirklichkeit müssen diese Menschen schon ein enormes Maß an Eigeninitiative aufbringen, um nach 40 Jahren Neoliberalismus überhaupt das Leben bestehen zu können. Vor dieser Form der Selbsterhaltung, diesem täglichen Kampf, habe ich Respekt, nicht vor Großschwätzern, die uns hier erzählen, wie viel sie in der Welt herumgekommen sind und wie viel besser alles hierzulande ist. Klar, wenn man nur in den entsprechenden Kreisen unterwegs ist, von den entsprechenden Transatlantik-Clustern herumgereicht wird, aber das ist auch eine Form von Tourismus, die kulturelle Kontexte gar nicht verstehen will. Da wird nur darauf hingearbeitet, dem Kapital Gefolgsleute zu basteln. In der CDU ist das ja besonders ausgeprägt, wie wir anhand der vielen Lobbyverwicklungen von deren Politikern sehen können.

Dann verpasst man mit voller Absicht, wie viel solidarischer andere Gesellschaften institutionell und auch das persönliche Verhalten der Menschen betreffend aufgestellt sind. Nehmen wir unser beliebtes Beispiel Skandinavien: Das Medianvermögen ist auch in diesen Ländern nicht überragend hoch und speziell Norwegen hat aufgrund seiner Wirtschaft, die auf kapitalintensivem Rohstoffhandel basiert, einen hohen Gini-Index. Der große Unterschied aber: Die Menschen werden institutionell weitaus besser abgefdert, wenn sie in Schwierigkeiten kommen.  

In wieder anderen Ländern ist die Familiensolidarität weitaus größer als bei uns, wo doch die ach so familiensinnigen C-Parteien im Wesentlichen das politische Sagen haben. Das Menschenbild  hierzulande ist eh nicht das Positivste, aber genau darauf setzen diese Parteien, die Leute noch mehr gegeneinander aufzuhetzen. Bei Merz war das zuletzt ja so offensichtlich, so geradewegs plump (Sozialtourismus), dass er dafür in Niedersachsen für die Wahlniederlage seiner Partei in Teilen verantwortlich zu machen ist. Insofern, ja, mehrheitsfähig ist der Quatsch derzeit nicht. Aber es gibt ja nicht nur die Unionsparteien, um Rechts zu reinstallieren.

In vielen anderen Ländern wird grundsätzlich davon ausgegangen oder gibt es darauf ausgerichtet instituionelle oder tradtionelle Strukturen, dass Menschen es verdient haben, dass ihnen solidarisch geholfen wird, nicht, wie bei uns, dass sie sich jeden Schicksalsschlag, jede Krankheit, jeden sozialen Missstand, in den sie auch dank der rechten Politik hierzulande hineingeboren wurden, selbst zuzuschreiben haben. Das ist so arm, was hier hinter dem Deckmäntelchen „Eigenverantwortung“ verkauft wird, dass man sagen kann: Der materiellen Armut der Mehrheit entspricht die geistige Armut der Politik.

Wenn wir an etwas schuld sind, dann daran, dass wir uns von rechten Politiker:innen zu lange ein Arschloch-Verhalten als Ideal haben vorgaukeln lassen, mit dem wir, wenn wir so naiv sind, es dann wirklich zugunsten der Hochvermögenden zu adaptieren, diese Gesellschaft gegen die Wand fahren.

TH

Unser 40. Briefing wird sich ausschließlich mit Wirtschaftsthemen befassen. Wir fangen oben an, global, in Form des Welthandels:

Infografik: Welthandel verliert erneut deutlich an Dynamik | Statista Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Der Welthandel wird einer Prognose der World Trade Organization (WTO) zufolge in der zweiten Jahreshälfte 2022 deutlich an Dynamik verlieren und im kommenden Jahr unter Druck bleiben. Laut WTO-Ökonomen belasten gleich mehrere Schocks die Weltwirtschaft. Ihren Einschätzungen zufolge wird das weltweite Warenhandelsvolumen im Jahr 2022 um 3,5 Prozent wachsen – also etwas mehr als die noch im April prognostizierten 3,0 Prozent. Für 2023 prognostizieren die Experten dann nur noch einen Anstieg von 1,0 Prozent – ein deutlicher Rückgang gegenüber der April-Schätzung von 3,4 Prozent.

Der Prognose liegt die Annahme zugrunde, dass die Importnachfrage nachlässt, da sich das Wachstum in den großen Volkswirtschaften aus verschiedenen Gründen verlangsamt. In Europa würden die hohen Energiepreise infolge des Russland-Ukraine-Krieges die Haushaltsausgaben drücken und die Herstellungskosten erhöhen. In den Vereinigten Staaten würde die Straffung der Geldpolitik zinsempfindliche Ausgaben in Bereichen wie Wohnen, Kraftfahrzeuge und Anlageinvestitionen treffen. China kämpfe weiterhin mit COVID-19-Ausbrüchen und Produktionsunterbrechungen, gepaart mit einer schwachen Auslandsnachfrage. Schließlich könnten steigende Importrechnungen für Kraftstoffe, Lebensmittel und Düngemittel zu Ernährungsunsicherheit und Schuldenproblemen in Entwicklungsländern führen.

Was wir aus der Grafik herauslesen, ist vor allem, dass ungeachtet der Corona-Pandemie und aller anderen Unsicherheiten der Welthandel in den letzten Jahren per Saldo deutlich zugelegt hat. Nur 2020 gab es einen Einbruch, der wurde aber 2021 mehr als ausgeglichen. Wenn wir uns die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anschauen: Ob Krisen die Welt erschütterten, Hunger viele Menschenleben kostete, Kriege und Naturkatastrophen zu beklagen waren, der Welthandel wuchs immer weiter, es gab höchstens mal mehr, mal etwas weniger Wachstum. Letzteres wird für 2022 und 2023 erwartet.

Lange Zeit waren mit dem immer weiter wachsenden Welthandel zwei Narrative verbunden: Annäherung und Wandel, zum Beispiel von Diktaturen zu Demokratien, durch Handel, das war die eine Geschichte. Die andere: Mehr Wohlstand für alle durch Handel. Nach der Wende haben sich beide Erzählungen als unwahr herausgestellt. Vielmehr war es die Systemkonkurrenz, die dafür sorgte, dass es vielen Menschen, besonders im Westen, einigermaßen gutging. 

Mehr Welthandel bedeutet bei der gegenwärtigen Form der Konsumwirtschaft jedoch vor allem Mehr Umweltbelastung und Beschleunigung der Klimakrise, Steigerung der Ungleichheit, weil zu wenige zu massiv profitieren. Nun werden nicht nur Waren, sondern auch Dienstleistungen gehandelt, aber hier geht es um Produkte, mithin um Gegenstände, die Rohstoffe verschlingen.

Der Welthandel folgt bisher dem Mantra des ewigen Wirtschaftswachstums auf dem Fuß, bei dem nicht nach Qualität, sondern nur nach Quantität gefragt wird. Gerade der chinesische Aufstieg behindert im Grunde eine nachhaltige Wirtschaft, weil er billig wirkende Konsumwünsche zu einfach befriedigt. Die ökologischen Folgekosten finden ihren Eingang aber niemals in den Preisen der dabei entstehenden Waren. Es gibt zwar mittlerweile Firmen, die etwas wie einen CO2-Abdruck bei ihren Produkten abbilden, aber selbst wenn dieser realistisch ist, ist damit noch nichts über den Raubbau an Ressourcen weltweit ausgesagt. Darin liegt auch eines der Probleme des kapitalistischen Greenwashings begründet: Der Fokus auf einen Einzelaspekt wie die CO2-Bilanz ist viel zu verengt. Ein E-Fahrrad beispielsweise ist zwar auf den ersten Blick klimaneutral und es wird argumentiert, dass Menschen, die vom Auto auf ein solches unfallträchtiges Vehikel umsteigen, einen nützlichen Beitrag zur Klimawende leisten. Aber es verbraucht wegen seines Antriebs ein Mehrfaches an wertvollen Rohstoffen wie ein normales Fahrrad. Auch die E-Auto-Bilanz ist schon wegen des massiven Einsatzes von Rohstoffen alles andere als ein ökologischer Hauptgewinn.

Die Unruhen, die wir weltweit sehen, sind auch ein Kampf um Rohstoffe, das wird nicht nur beim Ukrainekrieg ganz deutlich. Diese Unruhen werden zunehmen, wenn nicht insgesamt der Verbrauch deutlich gebremst wird. Das würde aber auch einen Rückgang der Handelsaktivität bedeuten. Denn jedes nachhaltige Produkt, das zum Beispiel reparaturfreundlich ausgestaltet ist und länger hält als das, was derzeit allgemein angeboten wird, stellt sich beim Welthandel als Minus dar. Der Welthandel wiederum wächst weitaus langsamer als die Summer der Finanztransfers, mit denen immer höhere virtuelle Reichtümer in Sekundenbruchteilen um die Welt gejagt werden.

Unser nächster Blick gilt dem Tourismus, dieses Mal nur auf Deutschland bezogen:

Infografik: Fremde Betten wieder so attraktiv wie vor Corona | Statista Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Nach schwierigen Wintermonaten und zwei durch Kontaktbeschränkungen und Reiseeinschränkungen gekennzeichneten Pandemiejahren scheint sich die deutsche Beherbergungsindustrie wieder erholt zu haben. Laut Daten des Statistischen Bundesamts (Destatis) verzeichneten Campingplätze, Hotels, Pensionen und Ferienunterkünfte im August etwas mehr Übernachtungen als im entsprechenden Vergleichszeitraum von 2019.

Wie unsere Grafik zeigt, lag der August 2022 rund 400.000 Übernachtungen über dem August 2019. Wichtigster Treiber waren laut Destatis Hotels, Gasthöfe und Pensionen, rund 53 Prozent aller verbrachten Nächte entfielen auf diesen Zweig der Beherbergungsindustrie. Bei den Übernachtungen auf Campingplätzen schnitt der vergangene August deutlich besser ab als der Vergleichsmonat vor der Pandemie. 9,3 Millionen Nächte wurden in diesem Segment registriert, was einer Zunahme von 14,7 Prozent gegenüber 2019 entspricht.

Auch für ausländische Tourist:innen scheint Deutschland wieder attraktiver zu werden. Im Vergleich zum Vorjahresmonat stieg die Anzahl von Übernachtungen ausländischer Gäste um knapp 76 Prozent auf 8,9 Millionen. Trotz des deutlichen Anstiegs übernachteten 17,5 Prozent weniger Menschen aus dem Ausland in Deutschland als im August 2019.

Der Einbruch zwischen Ende 2020 und Juni 2021 lässt sich vor allem durch das weitreichende Beherbergungsverbot erklären. Auch der Wegfall von ausländischen Reisenden aufgrund von Einreisebeschränkungen und -auflagen beeinflusste die Übernachtungszahlen deutlich.

Die Übernachtungen ausländischer Gäste betreffend, müsste man Vergleichszahlen mit anderen Ländern anschauen, um zu ermitteln, ob Deutschland, relativ gesehen, attraktiver oder unattraktiver geworden ist. Der Trend zum Urlaub im eigenen Land dürfte nicht nur bei uns während der Corona-Hochphase zu beobachten gewesen sein. Wer den Massentourismus in Berlin kennt und nicht gerade einen Job hat, der davon abhängig ist, der wird einen Rückgang eher begrüßen, denn die Qualität dessen, was man hier unter Tourismus versteht, ist teilweise miserabel und demgemäß die Auswirkungen auf die Stadt und ihre Einwohner. Nun ist Deutschland insgesamt nicht so abhängig vom internationalen Tourismus wie manche anderen Länder, das finden wir auch gut so. Touristen tragen ohnehin kaum etwas zur kulturellen Verständigung bei, weil sie mit Einheimischen kaum in Kontakt treten. Annäherung durch Tourismus ist ohnehin eine der größten Lügen, eher steigt die Ungleichheit dadurch, dass bisher intakte Gesellschaften durch ein Ansteigen des Massentourismus in ein paar Gewinner und viele Verlierer gespalten werden, die an den Einnahmen nicht angemessen beteiligt werden, außerdem werden unzählige Menschen zu Dienstpersonal für satte Urlauber aus den üblichen Ex-Kolonialstaaten herabgewürdigt. Wer es sich nicht ganzjährig leisten kann, darf wenigstens für ein paar Wochen am heißen Strand den Herrscher spielen. Raubbau an der Natur ist zwar in Deutschland nicht ganz so relevant wie in den sogenannten „Naturparadiesen“, die touristisch erschlossen = ausgebeutet werden, aber es ist nicht falsch, auch hier den Blick über die Landesgrenzen zu richten. Und da sieht es so aus, dass die Deutschen zu den eifrigsten Touristen der Welt zählen, berüchtigt in vielen Ländern durch ihre besitzergreifende Art.

Über den Irrsinn von Sonderformen des Tourismus wie dem Kreuzfahrtwesen haben wir uns z. B. in diesem Artikel geäußert: Auf Kreuzfahrt in die Klimakrise (Statista + Kommentar) | Klima-Energie-Report 10 | Weitere explosionsartige Anstiege bei den Energeiepreisen – DER WAHLBERLINER

Es ist per se kein Verbrechen, sich fremde Länder anzuschauen, aber der kulturelle Horizont erweitert sich nur durch Besuchsformen längerfristiger Art, durch regen Austausch mit Menschen vor Ort. Andere ist der typische Massenkonsum, der unsere Zeit prägt und vielen so unverzichtbar geworden scheint, dass sie gar keinen Blick mehr für den Wert dessen haben, was sie da „bereisen“, anstatt es verstehen zu wollen. Auch die Natur ist kein Objekt der Bewunderung mehr, sondern dient vor allem als Kulisse für den Hype des eigenen Egos, besonders bei modischen Urlaubsformen, die quasi verlängerte Leistungssport-Events sind. Die Neugier dem Anderen gegenüber geht verloren, vielmehr nehmen die Leute ihre eigene Kapsel und die eigene kleine Welt darin mit an einen anderen Ort und bleiben darin gefangen.

Sie werden von uns nicht erwarten, dass wir Wirtschaftsdaten neutral beschreiben, sondern wir kommentieren sie so kritisch, wie es angesichts der globalen Verwerfungen auf allen Gebieten angebracht ist. Das sind wir Ihnen geradezu schuldig, auch wenn es anstrengend wirken mag und obwohl wir sehr wohl wissen, dass aktuell die Kapazitäten vieler Menschen für die Entwicklung eines globalen Bewusstseins nicht gerade üppig sind. Gerade das ist aber gefährlich: Jetzt nicht darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist und die Krise zur Neuausrichtung zu nutzen, ist eine verpasste Chance.

Damit dies aber klar ist: Wir stellen uns nicht in die Reihe mit den Spar-Rhetorikern der Regierung, die die Menschen zu ihren Marionetten zwecks Vertuschung einer verpeilten Energiewende machen wollen. Uns geht es um einen achtsameren Umgang mit den Schätzen der Welt, den Menschen, die sie hervorgebracht haben und mit der Natur, die keine Menschen brauchte, um so großartig zu werden, wie sie ist. Vielmehr leidet diese Natur seit vielen Jahren unter dem engstirnigen und zukunftsfeindlichen Treiben der Menschen.

TH

Unser Briefing Nr. 39 (hier zu Nr. 38) enthält zwei Bestandteile: Anmerkungen zum Wahlergebnis von Niedersachsen und das Problem der Ampelregierung im Bund, das da heißt: Die Menschen werden immer unzufriedener mit uns.

Die Vorschau zur Landtagswahl 2022 in Niedersachsen hatten wir in einem eigenständigen Artikel geliefert: Niedersachsen hat die Wahl, Teil 1: Der Wahl-O-Mat und wir | Frontpage | PPP, Wahlen, Bundesländer, Niedersachsen – DER WAHLBERLINER.

Nun ist die Wahl gelaufen und das amtliche Endergebnis sieht so aus:

SPD: 33,4 Prozent (-3,5)
CDU: 28,1 Prozent (-5,5)
Grüne: 14,5 Prozent (+5,8)
AfD: 10,9 Prozent (+4,7)
FDP: 4,7 Prozent (-2,8)
Linke: 2,7 Prozent (-1,9)
Sonstige: 5,7 Prozent (+3,2)

Gratulation an Stefan Weil, den bisherigen und künftigen Ministerpräsidenten von der SPD?

Eine solche ist angebracht. Ich habe mir gestern Abend die Berliner Runde zur Wahl und alle Spitzenkandidat:innen der Parteien in Niedersachsen angeschaut, deren Parteien nun im 19. Landtag vertreten sein wird. Als Person schneidet Stefan Weil diesbezüglich für mich eindeutig am besten ab. Das ist keine politische Bewertung. Es lässt sich aber gut vorstellen, dass er sich dem negativen Trend für die Bundesregierung, also die Ampel-Koalition, weitgehend entziehen konnte. Auch dadurch, dass die Wähler wussten, er ist kein Scholz-Fan. Dies wiederum ändert nichts daran, dass ich froh bin, dass Scholz die Bundesregierung mit Augenmaß führt.

SPD und CDU haben verloren, die FDP noch mehr, die Linke ebenso, nur die Grünen und die AfD haben in Niedersachsen hinzugewonnen.

Die Grünen hatten 2017 unter ihren Möglichkeiten performt und das jetzt ausgeglichen. Der Trend für sie ist allgemein besser, obwohl ein ähnlicher Trend wie im Verlauf der Zeit vor der Bundestagswahl 2021 zu beobachten war: Am Ende kam nicht ganz das heraus, was zwischenzeitlich möglich schien. Vielleicht können sie für das Niedersachsen-Ergebnis noch froh sein, angesichts des derzeit massiven Verlusts an Spaß seitens der Bevölkerung am grünen Regierungshandeln in Berlin.

Die AfD ist in Niedersachsen zweistellig geworden.

Das war zu erwarten, wir haben es im oben verlinkten Artikel so beschrieben. Im Verlauf der Hochrechnungen kam sie bis auf 11,7 Prozent, insofern ist das obige Ergebnis beinahe ein Grund zu Aufatmen.

Wirklich?

Warum sollte Niedersachsen ein absoluter Sonderfall sein? Das Land ist in Teilen auch sehr konservativ, das darf man nicht vergessen, es ist nicht mit Hamburg vergleichbar, das sich als die Anti-AfD-Hochburg Deutschlands sieht. Gestern schrieb die Berliner Zeitung im Rahmen der Vorwahl-Berichterstattung: Sollte die AfD zweistellig werden, ist klar, dass Rechts nicht nur ein ostdeutsches Problem sei. Was soll man davon wohl halten?

Ja, was?

Journalismus ist bei uns oft Glücksache. Das kann man daran zum Beispiel ablesen. Gehen wir ein paar Jahre zurück: Die „Krise der Geflüchteten“ gab der AfD schon einmal starken Auftrieb und führte dazu, dass Angela Merkel das zweitschlechteste CDU-Bundestagswahlergebnis bisher einfuhr, das war im Jahr 2017. Zuvor hatte die AfD in Baden-Württemberg, dem Land der Pietisten und Wutbürger:innen satte 14 Prozent erreicht. Aber eine unser Zeitungen hier schreibt, jetzt wäre wohl klar, dass nicht der Osten. Blödsinn! Die AfD war nie ein rein ostdeutsches Problem und profitiert immer dann, wenn die Menschen in Krisenstimmung sind. In anderen Westbundesländern würde sie jetzt ebenfalls wieder zulegen, mit ihren scheinbar einfachen Lösungen für gravierende Probleme.

Und trotzdem: Fast 11 Prozent sind etwas anderes als die Zustände in Sachsen, wo die AfD nach aktuellen Umfragen stärkste Partei würde, wäre dort jetzt Landtagswahl. So muss man auch die Putinfreundlchkeit des CDU-Ministerpräsidenten Kretschmer interpretieren: Der Druck der putinfreundlichen Rechten ist dort so stark, dass er sein Heil darin sucht, diesen Leuten nach dem Mund zu reden. Bis auf die linke Hochburg Leipzig ist dort die Demokratie in Gefahr, das sehe ich bezüglich Niedersachsen mit Abstand anders. Zum Glück gab es ein Einknicken vor den Rechten in dieser Ordnung, wie man es in Sachsen beobachten kann, im Westen bisher noch nicht und zum Glück hält auch Olaf Scholz einen Kurs, der weder der einen noch der anderen Seite zu viel Raum gibt.

Die FDP und die Linke sind raus aus dem niedersächsischen Landtag.

Die Linke war zuvor schon nicht drin. Mir fehlen immer wieder beinahe die Worte. Aber zunächst die FDP: Vollkommen verdient. Und deren Generalsekretär war sicher der interessanteste Typ in der Berliner Runde, aber er liegt falsch. Die Menschen möchten in der Bundesregierung nicht mehr, sondern weniger FDP. Seit Monaten trendet kein Ampel-Hashtag so häufig wie #FDPrausausderRegierung, auch #FDPunterfuenfProzent ist häufig zu sehen. Und nicht etwa, weil die Politik nicht liberal genug ist, sondern weil von diesen Kriegstreibern und arroganten den Kapitalisten-in-den-Arsch-Kriechern die Menschen in Zeiten wie diesen einfach die Schnauze voll haben. Krass gut aber, wie sich Generalsekretär Bijan Djir-Sarai einfach neben die Regierung gestellt und gesagt hat: Ich bin ja kein Teil davon, ich darf dieses Weichei Lindner kritisieren, denn Lindner war gemeint, das ist ganz offensichtlich gewesen. Da wächst dem Finanzminister in der Partei endlich mal echte Konkurrenz entgegen. Hat mich etwa an die alten Zeiten erinnert, als die Generalsekretäre qua Amt die schärfsten Hunde waren, Heiner Geißler (CDU) etwa, der später eine Art erleuchteter Guru wurde. Manche sind auch eben gute Rollenspieler.

Wenn wir schon dabei sind: Die übrigen?

Kevin Kühnert von der SPD ist ja hier ein guter Bekannter, alert wie erwartet und glatt wie erwartet, interessant für mich Sebastian Czaja (CDU), ein Berliner Gewächs und m. E. der sympathischere von den beiden politischen Czaja-Brüdern, der andere ist bei der FDP. Trotzdem hätte er noch mehr Widerstand für den dezent vorgetragenen Spin verdient, an was die Ampel nun alles schuld sei, wohingegen die CDU … ja, genau, 16 Jahre lang dieses Land regiert hat, wohingegen die Ampel erst ein paar Monate im Amt war, als sie mit dem Ukrainekrieg konfrontiert wurde. Dass da nicht alles perfekt gelaufen ist, liegt auf der Hand, dass auch unnötige Fehler gemacht wurden, muss thematisiert werden. Besonders witzig fand ich Czajas Einlassung, die Mehrheit der Bevölkerung sei ja für den Atomausstieg gewesen, deswegen könnten jetzt FDP und AfD nicht die CDU dafür schelten. Dabei hat er etwas Wichtiges vergessen: Es sollte auch eine forcierte Transformation hin zu den Erneuerbaren stattfinden, und die haben die opportunistische Angela Merkel und ihr schnarchiger Wirtschaftsminister Altmeier einfach in die Tonne getreten, zugunsten der Fossilien-Lobby.

Weitere Anmerkungen zur Berliner Runde?

Bei der AfD muss man wirklich aufpassen. Es wirkt so logisch, was von dort kommt: Wir haben eine Energiekrise, also muss das Angebot erweitert werden. Ähnlich die FDP übrigens, woran man wieder einmal sieht, wie nah sich diese beiden Parteien stehen. Niemand hätte Verständnis für den deutschen Sonderweg, jetzt auch noch die letzten Atommeiler abzuschalten. Damit kann man die Ampel natürlich super unter Druck setzen und einmal mehr zeigt sich: Die AfD mit ihren retardierten Inhalten ist eine Krisengewinnpartei. Nach vorne ist da nichts, sondern ein Zurück zu Lösungen, die langfristig nicht tragen werden. In der Hoffnung, dies dann auch nach der Krise zementieren und mit einem gesellschaftlichen Rollback vereinen zu können.

Trotzdem befürchte ich, dass die Regierung einen Schritt in diese Richtung machen wird, um nicht weiter an Zuspruch zu verlieren. Sie wird Reserven aktivieren müssen, falls wir einen kalten Winter bekommen. Vielleicht ist es zwischenzeitlich sogar ökonomisch zwingend, aber wenn, das kann man nicht genug betonen, dann ist das in den Versäumnissen der GroKo-Vergangenheit begründet, nicht darin, dass Atomenergie „sauber und günstig“ ist oder dass russisches Gas besser wäre als die Erneuerbaren. Dass sie als Juniorpartner der CDU keine eigenen energiepolitischen Akzente gesetzt hatte, fällt jetzt auch der SPD als führender Regierungspartei auf den Kopf. Gar nicht so ungerecht, finde ich, einerseits.

Andererseits?

Es macht Scholz das Leben noch schwerer, als es in dieser Krise ohnehin ist. Vielleicht sorgen die mögliche Notlage bei der Versorgung und die bereits bestehende Notlage bei den Preisen aber auch dafür, dass die Kriegstreiber hier im Land noch nicht vollkommen freidrehen. Ich stelle mir vor, es gäbe diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht. Dann wären gewisse Politiker:innen noch mehr damit befasst, die Menschen hier mit proaktiver Eskalationsrhetorik zuzutexten und die Menschen wären noch empfänglicher dafür.

Jetzt haben wir die Linke noch nicht. Ihre Aufgabe wäre es doch, dem etwas entgegenzusetzen.

Merken Sie sich mal den Namen Tobias Bank. Das ist der neue Generalsekretär der Linken. Er wird alles wenden.

Ironie off? Die Linke ist mit 2,7 Prozent noch schwächer geworden als 2017 (4,1 Prozent).

Irgendwo hatte ich den Namen schon einmal gehört, wusste nicht einmal, wie der Mann aussieht. Die Linke geht weiter nach Schema F vor, wo Köpfe und Charaktere gefordert wären. Und, nein, man muss auch im Westen nicht so schlecht abschneiden, der Moderator der Runde hatte recht: Wieso kriegt die Linke die Füße nicht hinter den politischen Ball, obwohl die Krise, linke Politik voraus! Wer sich mit dem Laden ein wenig auskennt, kennt auch die Unterschiede zwischen den Krisengewinnlern von der AfD und den Verlierern von der Linken. Immerhin: Querfront in dem Sinne, wie der Begriff heute verstanden wird, kann man daraus nicht ableiten. Vielleicht ist das der Linken auch wichtiger als gute Wahlergebnisse. Niedersachsen ist nicht, siehe oben, Hamburg oder auch Bremen, wo die Linke recht stark ist, es ist auch nicht das Saarland, wo es mal eine große Schar von Lafontaine-Anhängern gab, der die Linke pushen konnte.

Kurz nach Berlin: Was, wenn hier die AGH-Wahl 2021 (die Wahl zum Abgeordnetenhaus) wiederholt werden müsste?

Die sehr unbeliebte Regierende Bürgermeisterin von der SPD würde wohl ihr Amt an eine Grüne verlieren, aber das größte Desaster würde wieder einmal die Linke ereilen. Sie profitierte 2021 noch einigermaßen davon, dass die die Mietenbewegung „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ unterstützt hatte, aber die erwähnte Regierende namens F. Giffey versteht es mittlerweile, diese Bewegung so zu kanalisieren, dass die mitregierende Linke dagegen gar nichts machen kann, zumal sie sich das wichtige Bauressort hat abnehmen lassen. Die Berliner Linke aber ist wichtig für die Partei im Bund. Verlöre sie bei einer Wahlwiederholung eines ihrer Direktmandate, gäbe es keine Fraktion der Linken mehr im Bundestag, bestünde also die Situation die Herr Bank auch für Niedersachen angedeutet hatte: Ohne parlamentarische Anwesenheit ist es für eine Partei schwierig, sichtbar zu werden. Ich halte das für ausgesprochenen Quatsch und für eine Ausrede.

Wie leicht ist es der AfD gelungen, aus einer Außenseiterposition heraus in die Parlamente vorzustoßen? Je nach Situation kann ein APO-Gepräge sogar helfen, den Bewegungscharakter stärken, Forderungen und auch populistische Elemente mit Anti-Establishment-Romantik schicker machen. Aber die Linke und sich bewegen, gute Kampagnen liefern, wissen, wo der Bus steht, in den man einsteigen muss, wenn man in Richtung Wählermehrheiten fahren will – oh je. Nicht einmal die vergurkte Bundestagswahl wurde bisher aufgearbeitet, und das ist nun ein Jahr her. Lähmung in allen Gliedern ist das, was diesen Organismus am besten beschreibt. Das soll’s dazu aber gewesen sein.

In Niedersachsen wird es immerhin nun zu Rot-Grün kommen. Ist das nicht besser als die bisherige GroKo?

In Maßen ist es das vielleicht, zumal auf Landesebene grüne Kriegsrhetorik keine so große Rolle spielen wird. Außerdem hat das Land eine Mission, glaubt man seinem alten und neuen Ministerpräsidenten: Es wird dem Rest der Republik energiepolitisch den Arsch retten. Viel Platz für die Erneuerbaren und wunderschöne LNG-Terminals. Zehntausende neue Arbeitsplätze, die mal keine Bullshit-Jobs sind, sollen daraus entstehen. Im Sinne der Transformation in Richtung Renewables würde ich mich freuen und drücke die Daumen dafür, dass es so kommt. Das ist auch für Niedersachsens traditionelle Industrie wichtig, etwa den größten Steuerzahler des Landes, die Volkswagen AG. Wenn es VW gutgeht, geht es Niedersachsen gut, das hat sich immer wieder gezeigt. Wenn nicht, wird aus Niedersachsen schnell ein Nehmer im Länderfinanzausgleich.

Weil gilt als Macher, auch, weil er seinen eigenen Parteifreund, Kanzler Scholz, gerne mal fordert, wie jüngst in Sachen Doppelwumms. Der Doppelwumms ist somit in Niedersachsen sogar ein Dreifachwumms. Wir werden sehen, was Weil zustande bekommt, ohne den CDU-Klotz am Bein.

Und die Ampel im Bund, auch ohne CDU-Klotz?

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

In der Ampel-Koalition rumort es ohnehin schon. Nachdem am gestrigen Sonntag die FDP aus dem niedersächsischen Landtag geflogen ist, wird es voraussichtlich nicht ruhiger werden. Bereits am Wahlabend kündigte Liberalenchef Lindner an, die Rolle der FDP in der Regierung überdenken zu wollen. Das scheint so oder so geboten, wie Zahlen des Politbarometers der Forschungsgruppe Wahlen deutlich machen. Die Zufriedenheit mit der Partei ist im Juli in den Minusbereich gerutscht und dort seitdem verblieben. Andreas Busch, Professor für Vergleichende Politikwissenschaften und Politische Ökonomie an der Universität Göttingen, zufolge hat das auch etwas mit der Rolle der Partei als „eine Art Innerregierungs-Opposition“ zu tun. „Und das ist offenkundig etwas, das nicht besonders populär ist“, so Busch gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Indes wird nicht nur die FDP von den Wähler:innen kritisch gesehen. Der Blick auf die Statista-Grafik zeigt: Deutschland hadert mit der Ampel.

Es kam zu unötigen Fehlern, die Grünen wirken dilettantisch und überheblich, die FDP wirkt lobbygesteuert, die SPD muss es wuppen. Das ist mein Eindruck, period. Dass die Menschen mittlerweile gar nicht mehr anders können, als etwas genauer hinzuschauen oder hizuhören, zeigit sich am rasanten Abstieg der Grünen in den letzten Wochen, dass zunehmend aufgedeckt wird, wie inkompetent der grüne Wirtschaftsminister ist. Wir hatten diesen Verdacht hier schon geäußert, da wurde sein Stil noch als das Ding der Zukunft gehypt. Die Kompetenzprüfung war den Journalist:innen dabei ganz unwichtig.

Die Energiepolitik ist ein Desaster, das die Ampel nicht alleine zu verantworten hat, siehe oben. Aber in Sachen Krieg kommt es auf den Kanzler an und auf dessen Vernunft setze ich. Im Bund würde ich möglicherweise erstmals SPD wählen, wenn er es schafft, das Land in diesen Zeiten auf Kurs zu halten und obwohl ich weiß, dass er nicht das Links schaffen kann, das ich mir wünsche. Aber was wären die Alternativen, wenn ich meine Stimme(n) nicht an eine Kleinpartei verschenken will? Ich sehe im Moment keine. Hätte es in Niedersachsen Spitz auf Knopf gestanden, wie so oft in den östlichen Ländern und dürfte ich dort wählen, hätte ich vermutlich auch Stefan Weil unterstützt, obwohl die SPD bei meiner Wahl-O-Mat-Auswertung nur im Mittelfeld lag. „Keine Experimente“ ist im Moment leider ebenso wichtig wie die Absicherung der Ärmeren gegen die Energiepreisexplosion. Wenn Scholz sich in gesicherten Bahnen bewegt und Letzteres auch noch einigermaßen glaubwürdig hinkriegt, dann haben wir damit zwar den Kapitalismus nicht überwunden, im Gegenteil. Da aber auch niemand aufsteht, um Revolution zu machen, müssen wir uns erst einmal bescheiden und hoffen, dass die SPD einst in einer Konstellation regieren wird, in der man sie von links antreiben kann. Rot-Grün in Niedersachsen wird dafür wohl nicht das Vorbild sein können, daher bescheiden wir uns noch einmal: Rettet Deutschlands Energiesicherheit! Das ist auch erst einmal okay.

TH

Unser 38. Briefing (Briefing 37) wird wieder einmal ein Umfrage-Marathon sein. Wir arbeiten wichtige Themen dieser Tage anhand von Fragestellungen ab, auf die Sie teilweise antworten können, indem Sie ebenfalls ihre Stimme abgeben. Bei einigen Umfragen geht es nur noch um die Ergebnisse und um unsere Ansicht zur Sache.

Schauen wir zunächst auf die simplen Dinge des Lebens. Heute ist noch einmal ein wunderschöner, milder Oktobertag, wir haben das genutzt und waren schon auf dem Tempelhofer Feld. Doch die ersten kalten, regnerischen Momente gab es in der vergangenen Woche schon und sie werden zunehmen. Nie zuvor, seit wir denken können, gab es eine Diskussion wie die jetzige um den privaten Energieverbrauch, dazu die erste Abstimmung:

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie Wirtschaftsminister Robert Habecks Aufruf an Privathaushalte, ihren Energieverbrauch stärker zu begrenzen? – Civey

Der Erklärungstext dazu.

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) appellierte jüngst erneut an deutsche Haushalte, Energie zu sparen. Das Ziel sei eine Senkung des Gasverbrauchs um 20 Prozent. Andernfalls könnte eine Gasmangellage im Winter drohen. Privathaushalte und kleinere Gewerbekunden sind hierzulande laut Bundesnetzagentur für rund 40 Prozent des Gasverbrauchs verantwortlich.

Bis Ende des Winters 2023/2024 soll ein „Basisverbrauch“ an Gas staatlich subventioniert werden. Zugleich machte Habeck im Deutschlandfunk klar, dass Haushalte für die oberen 20 Prozent des normalen Verbrauchs vermutlich die „volle Rechnung bezahlen” müssen. In Deutschland gibt es seit September bereits Vorschriften zum Energiesparen, die v.a. öffentliche Gebäude betreffen. Privatpools dürfen nicht mit Gas oder Strom aus dem Netz beheizt werden.

Die Bundesnetzagentur warnte diese Woche, dass der derzeitige Gasverbrauch viel zu hoch sei. Im Sommer schlug sie bereits vor, die Mindesttemperatur in Wohnungen zu senken. Vermieter und Vermieterinnen sind bisher verpflichtet, eine Temperatur von 20 bis 22 Grad zu gewährleisten. Mietvereine und die Opposition bezeichneten den Vorschlag als ungerecht. Auch sprach sich CSU-Chef Markus Söder gegen „staatlich verordnetes Frieren” aus.

Es fängt schon gut an. Tatsächlich unterstützt eine relative Mehrheit von etwa 40 Prozent der Abstimmenden derzeit Habecks Spin für Privathaushalte, und zwar vollständig. Weitere 17 Prozent finden ihn eher richtig. Auch hat der Chef der Bundesnetzagentur bereits verkündet, dass die derzeit vollen Gasspeicher keine Gewähr für ein Gut-durch-den-Winter-Kommen sind. Auch auf der Straße haben wir schon Gespräche übers Energiesparen belauscht und sogar eines oder zwei selbst geführt, innerhalb unserer Hausgemeinschaft. Wir sind anderer Ansicht und haben uns zu den 25 Prozent gestellt, die diese Art von Manipulation der Menschen klar ablehnen.

Und wir bitten Sie inständig, nachzudenken, bevor Sie abstimmen und sich nicht, wenig schön, aber wahrheitsgemäß ausgedrückt, verarschen zu lassen. Was wir im Moment als Energiekrise bezeichnen, ist so unnötig und hausgemacht, wie politisch bedingtes, fehlerhaftes Handeln nur sein kann. Nicht einmal vorwiegend wegen der Sanktionen und der Gegensanktionen, sondern, weil die Politik 20 Jahre lang die Energiewende verpennt hat. Die SPD war an dieser schnarchigen Politik maßgeblich mitschuldig, denn sie war in drei der vier Regierungen Merkel vertreten.

Vollkommen in Ordnung ist dies: Sie sind ein sportlicher Mensch und wollen ihren eigenen Energieverbrauch jedes Jahr unterbieten. Sie sind ein ökologisch orientierter Mensch und sind aus prinzipiellen Gründen gegen Energieverschwendung oder Sie sind überhaupt gegen Verschwendung. Oder Sie frieren einfach nicht so leicht und 19 Grad reichen Ihnen aus, um sich behaglich zu fühlen.

Bei den meisten Menschen ist das aber nicht so. Wir könnten bei 19 Grad zum Beispiel nicht mehr einen Artikel wie diesen tippen, weil unsere Finger auskühlen würden, und es liegt bei uns nicht an Bewegungsarmut oder dergleichen, sondern es ist schlicht eine körperliche Disposition, wie insbesondere schlanke Menschen sie nun einmal häufig haben. Wir werden uns ganz sicher keine 19 Grad Raumtemperatur vorschreiben lassen. Es ist natürlich stark verkürzt, aber mit solchen Maßnahmen soll offensichtlich von den Politikfehlern abgelenkt und der Widerstand der Menschen gegen falsche Politik regelrecht bzw. regelwidrig eingefroren werden. Wer den ganzen Tag nur noch damit befasst ist, sich einigermaßen warmzuhalten, der hat keine Energie mehr für den dringend notwendigen Protest.

Wenn Sie sparen, dann bitte nicht, weil Herr Habeck mit seiner Mischung aus Märchenerzählung und Manipulation es Ihnen nahelegt, sondern aus einer Überzeugung heraus, die nichts mit der aktuellen Lage zu tun hat oder, weil es Ihnen leichtfällt. Wir adressieren mit der Bitte, sich nicht verarschen zu lassen, besonders die Ärmeren, die ohnehin keine sehr hohen Energieverbräuche verursachen. Lassen Sie sich von verantwortungslosen Politikern nicht noch mehr zur Selbstkasteiung anregen, als es ohnehin aufgrund einer seit Jahrzehnten immer klassistischer werdenden Politik notwendig ist.

Auch wenn es wieder typischer CSU-Populismus ist, in diesem Fall hat Markus Söder recht. Es ist ein Witz, für die Politik zu frieren und nicht etwa, weil tatsächlich ein weltweiter Energiemangel herrscht. Letzteres ist keineswegs der Fall und der enorme Preisauftrieb ist nicht durch eine enorme Nachfrage, sondern durch künstliche Verknappung und Spekulation bedingt. Auch die OPEC entdeckt gerade wieder ihr Potenzial zur Erpressung und will die Ölproduktion drosseln, damit sich das Preiskarussell noch schneller dreht.

Wir müssen verstehen: Wenn die Politik sich mit solchen Appellen wirklich durchsetzt und wir deren Fehler ausbügeln, dann wird das immer so weitergehen. Wir haben schon viel zu vieles mitgetragen, was uns geschadet hat. Es ist an der Zeit, dem Freidrehen der Politik Grenzen zu setzen. Im Grunde wäre es sogar so, dass wir genau das Gegenteil tun müssten, was Habeck vorschlägt, nämlich ihn als wirtschaftlichen Dilettanten enttarnen, der die Folgen seiner Politik nicht bedacht hat. Aber das kann sich ja kaum jemand leisten, extra zu heizen, um Missachtung gegenüber dieser Politik auszudrücken. Wir würden das sowieso nicht tun, es gibt bessere Protestmöglichkeiten. Aber wir sind mittlerweile jedes Mal sauer, wenn wir hören, dass jemand wegen des Ukrainekriegs Energie sparen will. Das ist der falsche Grund, ganz eindeutig und diese Naivität macht sich die Politik zunutze, um zu testen, wie weit sie mit uns gehen kann. Wir haben die Corona-Maßnahmen z. B. vollständig mitgetragen, aber das hier ist für uns etwas anderes. Hier ist nicht darüber zu diskutieren, was ist zu viel oder zu wenig, wie sollte man mit einer nicht verschuldeten Pandemie umgehen?

In Sachen Energiekrise ist alles verschuldet, nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Wir  dürfen es der Politik nicht durchgehen lassen, dass sie daraus auch noch einen Sparwettbewerb zulasten unserer Gesundheit macht. Falls Sie noch nicht abgestimmt haben: Bitte bedenken Sie, dass Sie nicht Befehlsempfänger der Politik und von deren Befehlsgeber, dem Kapital sind. Dieses Mal nicht. Warum wir wieder einmal das Kapital erwähnen? Ganz einfach. Wird so viel gespart, dass der Versorgungskipppunkt trotz enormer Preise nicht erreicht wird, dann wird der Staat weniger in den „Markt“ eingreifen müssen und die Gewinne des Kapitals werden am meisten sprudeln. Ein echter Gaspreisdeckel würde auch mal den Profiteuren klarmachen, dass es hier um eine Gemeinschaftsaufgabe geht, die wir lösen müssen.

Und jetzt ein Schmankerl, das auch viel über Menschen an sich aussagt: Es gab bereits am 29.08. eine Umfrage zum Thema, da können Sie nicht mehr antworten und wir haben uns auch nicht beteiligt:

Civey-Umfrage: Sollte die Raumtemperatur, auf die in Privathaushalten maximal geheizt werden darf, Ihrer Meinung nach als Energiesparmaßnahme begrenzt werden? – Civey

Merken Sie was? Es kommt darauf an, wie gefragt wird. Mit Zwang kann man die Menschen sofort auf die Palme bringen, aber mit Manipulation, hinter der eine moralische Nötigung steckt, geht fast alles. Letzteres ist viel listiger oder auch hinterlistiger als eine klare Ansage, und Letzteres ist genau der Kommunikationsstil von Robert Habeck. Er versucht, die Leute um den Finger zu wickeln, während z. B. Karl Lauterbach in Sachen Corona durch seinen ganz anderen Stil immer angeeckt ist. Jetzt hat er den Stil angepasst und unterscheidet sich kaum noch von denjenigen, denen sowieso egal ist, wie viele Tote die Pandemie verursacht. In diesem Fall war es Daniel Günther (CDU), der schleswig-holsteinische Ministerpräsident, der vorgeprescht war. Aber er und Habeck haben einmal zusammen Landespolitik gemacht und werden vom Typ als ähnlich „modern“ wahrgenommen. Einen  Habeck haben wir deshalb noch für Sie:

Civey-Umfrage: Bereiten Ihnen die steigenden Gaskosten, die u.a. durch die beschlossene Gasumlage verursacht werden (zusätzlich 2,4 Cent pro Kilowattstunde), große Sorgen? – Civey

Private Haushalte und Industrie müssen ab Oktober eine Gasumlage von 2,419 Cent pro Kilowattstunde bezahlen. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kündigte eine erhebliche Mehrbelastung zu den schon gestiegenen Energiepreisen an. Er rechnet laut SZ mit „einigen Hundert Euro pro Haushalt“. Unklar ist derzeit, ob auf die Umlage noch die Mehrwertsteuer von 19 Prozent fällig wird.

Aufgrund der gedrosselten Gaslieferungen aus Russland sind deutsche Energiekonzerne gezwungen, teure Alternativen einzukaufen. Bisher trugen sie die Mehrkosten selbst. Die Gasumlage soll die Gasunternehmen vor der Pleite bewahren, um letztendlich die Versorgungssicherheit im kommenden Herbst und Winter hierzulande zu gewährleisten. Für die Bevölkerung plant die Regierung weitere Entlastungen. Sozialverbände und Opposition halten das für ungenügend.

Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch nennt die Gasumlage ein „Verarmungsprogramm“ und fordert ihre Rücknahme. Der Deutsche Mieterbund schätzt, dass mindestens das untere Einkommensdrittel der Bevölkerung die Energiekosten nicht zahlen kann. Er fordert laut ZDF eine Wohngeld-Reform und ein Mietkündigungsschutz für Bedürftige. Ökonom Sebastian Dullien schlägt in der ARD einen Gas-Preisdeckel für private Haushalte vor, auch um die Inflationsrate zu bremsen.

Es war von Beginn an klar, dass die Gasmumlage technisch nicht durchdacht und nicht gerecht war, aber der Wirtschaftsminister hat sie gerade noch durchsetzen können. Und wie sieht es jetzt aus? Das wissen Sie sicherlich. Aber so hält man die Bevölkerung in Atem: Zwei Drittel der Abstimmmenden haben anhand dieser bereits abgeschlossenen Umfrage ihrer Sorge Ausdruck verliehen. Hier können Sie anhand eines Campact-Petitionsaufrufs noch einmal nachlesen, wie zu dem Zeitpunkt die Lage war. Wir haben damals übrigens nicht unterzeichnet, weil wir generell gegen eine Gasumlage sind, wie „gerecht“ auch immer sie ausgestaltet sein mag.[1]

Die nächste Frage schließt sich mit beinahe zwingender Logik an, denn Sie könnte Ihre Antworten zu diesem Umfrageblock mitbestimmen:

Civey-Umfrage: Sorgen Sie sich vor akuten Engpässen bei der deutschen Energieversorgung für den Winter? – Civey

Als Folge der ausbleibenden Energielieferungen aus Russland bemüht sich die Bundesregierung seit Monaten um alternative Energielieferanten. Deutschland importiert nun vermehrt Flüssiggas (LNG) und wird bis Ende 2022 ein LNG-Terminal in Wilhelmshaven in Betrieb nehmen. Zudem wurden Verträge zum Kauf von Gas und Diesel in der Golfregion geschlossen.

„Die Lage ist angespannt und eine Verschlechterung der Situation kann nicht ausgeschlossen werden“, schreibt die Bundesnetzagentur in ihrem Lagebericht von Donnerstag. Die Gasversorgung in Deutschland sei im Moment aber stabil, da die Speicher zu 91 Prozent gefüllt seien. Damit könnte Deutschland laut Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) über den Winter kommen.

Habeck nennt aber weitere Bedingungen: Deutschland müsse viel Energie sparen und Glück mit dem Wetter haben. Wenn das Gas in Deutschland knapp wird, sind private Haushalte aber per Gesetz besonders geschützt, sagte Michael Hüther, Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, im ZDF. Bei einer „Gasmangellage“ müssen industrielle Großverbraucher ihren Gasverbrauch als Erste herunterfahren.

Civey-Umfrage: Sorgen Sie sich vor akuten Engpässen bei der deutschen Energieversorgung für den Winter? – Civey

Was ist heute nur mit uns los? 40 Prozent der Menschen sorgen sich sehr, weitere 25 Prozent immer noch eher, als dass sie sich keine Sorgen machen. Wir aber sind bei den 21,5 Prozent, die „eher nein“ gesagt haben. Und wieder der Herr Habeck, der uns für seine Fehlleistungen sparen lassen will. Dass die Wirtschaft massiv dafür lobbyiert, dass Privathaushalte nicht mehr bevorzugt vor Energiemangel geschützt werden, haben Sie sicher ebenfalls mitbekommen. Sicher, wenn man die lächerlichen Versuche der Bundesregierung sieht, sich bei den übelsten Regimen dieser Welt Ersatz für russisches Gas zu beschaffen, kann man sich wirklich Sorgen machen.

Nicht nur über den ethischen Zustand dieser Regierung, die „Wertepolitik“ machen wollte, sondern tatsächlich über die Energieversorgung. In Wirklichkeit ist es so: Der deutsche Staat hat genug Geld, um auch bei steigenden Preisen auf dem Energiemarkt mithalten zu können. Besonders, wenn es um das vertrackte LNG aus den USA geht. Und bei allem, was es an ökologischen Folgen und Ärger mit anderen Ländern verursachen kann, wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie auf diesem Wege dafür sorgt, dass wir die Energiesicherheit behalten, egal wie kalt es im Winter werden wird. Sie hat die aktuellen Probleme verursacht, also muss sie den Schaden wenigstens insoweit begrenzen, dass wir hier nicht ohne Strom oder Gas sitzen. Wir zahlen ja schon massiv drauf für diesen Mist, der, nebenbei geschrieben, auch nicht das richtige Mittel ist, um den Ukrainekrieg so schnell wie möglich und zugunsten der angegriffenen Partei zu beenden. Die Zweckverfehlung, falls Hilfe für die Ukraine denn wirklich der Zweck der künstlich erschaffenen Energiekrise war, spielt also bei unserem Unmut ebenfalls eine Rolle.

Und damit vom Energiethema zum Ukrainekrieg, doch um Sorgen geht es auch dieses Mal:

Civey-Umfrage: Sorgen Sie sich, dass sich der Ukraine-Krieg auf andere Länder ausweiten könnte? – Civey

Die Europäische Union hält einen Sabotageakt für die wahrscheinliche Ursache für die in dieser Woche entdeckten Lecks an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell kündigte eine gründliche Untersuchung an und drohte mit einer „robusten Reaktion“ im Falle einer vorsätzlichen Störung der europäischen Energieinfrastruktur.

Dänemark ist angesichts der militärischen Präsenz Russlands über die Sicherheitslage im Ostsee-Raum besorgt. Das teilte der dänische Verteidigungsminister Morten Bodskov nach einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit. Und auch ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte der SZ, dass man die Beschädigungen sehr ernst nehme und im engen Kontakt mit deutschen Sicherheitsbehörden stünde.

Derweil verkündete Russland, dass eine klare Mehrheit bei den Referenden in den ukrainischen Gebieten für den Anschluss an Russland gestimmt hätte. Die EU und die USA sehen die Abstimmungen als illegal an. Sie wollen die Ergebnisse nicht anerkennen und sprechen von einem schwerwiegenden Bruch des Völkerrechts. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert die Weltgemeinschaft dazu auf, gegen die mögliche Annexion der besetzten Gebiete durch Russland vorzugehen.

Warum wir nicht so eindeutig wie manche Medien Russland als Verursacher der Lecks an den Nordstream-Leitungen sehen, haben wir in diesem Artikel dargelegt.

Die Spekulationsblase in der Ostsee +++ Nord Stream 1, 2: wer war’s? +++ cui bono richtig erklärt | Briefing 34 – DER WAHLBERLINER

Wesentliche neue Erkenntnisse haben sich seitdem nicht ergeben, auch wenn man den Artikel um ein paar Aspekte ergänzen könnte. Für die Energiesicherheit hat die Nordstream-Leckage keine Bedeutung, das sehen auch die Märkte so. Der Gaspreis sprang nach dem Bekanntwerden der Lecks nicht noch weiter an. Die strategischen Fehler der russischen Regierung allerdings haben schon dafür gesorgt, dass die NATO um zwei hochgradig demokratische und wirtschaftlich potente skandinavische Länder wachsen und die Ostsee auf diese Weise quasi NATO-Gebiet werden wird. Selbst schuld, und, nein, wir meinen nicht die NATO. Falls alles, was jetzt passiert, passiert, weil die NATO es angeblich provoziert hat und Russland in eine Falle tappen lassen wollte: Dann darf man eben nicht reintappen. Wenn schon alle möglichen putingeneigten Analyst:innen hierzulande diese Falle rauf- und runtererklären, natürlich mit dem Böse-NATO-Spin, dann hätte Putin sie selbst auch sehen und das Hineinfallen vermeiden müssen, wenn er so klug ist, wie seine Anhänger glauben. Zum Beispiel hätte er das vermeiden können, indem er keinen Angriffskrieg gegen die Ukraine lostritt.

Als die Umfrage gestartet wurde, waren die jüngsten Atomdrohungen Russlands noch nicht in Umlauf, von denen Angela Merkel sagt, man soll nicht alles für einen Bluff halten, was aus dem Kreml kommt. Tun wir nicht, siehe Ukrainekrieg an sich und das, was schon vorher lief. Man kann es natürlich gegen die vom Westen inszenierten Kriege aufrechnen, aber wenn man genauer hinschaut, ist Putin seit seinem ersten Amtsantritt Anfang der 2000er auf Expansionskurs. Dass er, um diesen fortsetzen zu können, den Atomwaffenauslöser drückt, halten wir nach wie vor für unwahrscheinlich. Es gibt allerdings einen Aspekt, den man nicht weglassen darf: Selbstverständlich hat US-Präsident Biden sofort mit harten Gegenmaßnahmen gedroht, als der Atomsäbel wieder rasselte.

Aber was könnte er wirklich tun? Auf dem Gebiet der Ukraine ebenfalls taktische Atomwaffen einsetzen, falls Putin so optiert? Wohl kaum. Und alles, was darüber hinausginge, wäre wirklich ein Weltinferno. Wir glauben nicht, dass es so weit kommen wird. Wir meinen auch, dass in Russland selbst die Fliehkräfte angesichts des Steckenbleibens der russischen Armee im ukrainischen Hinterland zu hoch werden, als dass Putin machen kann, was er will. Und die Scharfmacher sind nicht so einflussreich, wie mancher hierzulande glauben mag: Sie haben als Angehörige des Oligarchensystems häufig auch wirtschaftliche Interessen. Diese wären bei einem Atomkrieg ganz sicher nicht mehr weiterzuentwickeln. Sie leiden jetzt schon unter den zunehmenden Sanktionen durch Länder, mit denen man bisher kapitalistisch gut vernetzt war.

Wir haben mit „eher nein“ gestimmt. Wie an diesem Tag offenbar üblich, sind wir auch hier wieder bei einer Minderheit. Mehr als 60 Prozent machen sich Sorgen oder große Sorgen. Ach ja: Ohne Atomwaffeneinsatz wird sich der Krieg auch nicht auf andere Länder ausweiten, zumindest nicht auf NATO-Länder. Und mit ihnen und für sie wird die Freiheit verteidigt, nicht irgendwo im Kaukasus. Vorgänge dort meinten wir eben auch, unter anderem, als wir schrieben, Putin hat von Beginn an in anderen Ländern herumgepfuscht, um sie zu destabilisieren und Gebiete aus ihnen herauszulösen. Deswegen können wir sie jetzt aber nicht alle schnell in die NATO aufnehmen. Gerade dann nicht, wenn es ungeklärte Territorialfragen gibt. Womit wir zur nächsten Frage überleiten:

Civey-Umfrage: Glauben Sie, dass die Teilmobilmachung russischer Reservisten zu einer neuen Eskalationsstufe im Russland-Ukraine-Krieg führen wird? – Civey

Letzten Mittwoch verkündete Präsident Wladimir Putin eine Teilmobilmachung der russischen Armee. Russland will so rund 300.000 Reservisten für den Krieg einziehen. Zugleich erhob Putin Vorwürfe gegen die westlichen Staaten, deren Ziel es sei, Russland „zu schwächen, zu spalten und letztlich zu zerstören“. Zudem drohte er den NATO-Staaten mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte gestern die Russen in einer Videobotschaft auf, die „verbrecherische” Einberufung zum Dienst abzulehnen, russische Soldaten sollten sich ergeben. Der Militärexperte Franz-Stefan Gady sagte der Tagesschau, dass die Teilmobilisierung den Krieg zwar verlängern wird. Er bezweifelt aber, dass der unmittelbare Kriegsverlauf davon beeinflusst wird, da es Monate dauern wird, bis die neuen Einheiten einsatzbereit sind.

Am Freitag begannen zudem in vier besetzten Gebieten in der Ukraine Referenden über den Beitritt zu Russland. Der Westen verurteilte diese als „Scheinreferenden”. Bundeskanzler Olaf Scholz warf Putin bei der UN-Vollversammung „blanken Imperialismus” vor. Die EU reagierte mit der Ankündigung weiterer Sanktionen gegen die Wirtschaft und einflussreiche Personen Russlands. Die Ukraine will die EU mit weiteren Waffenlieferungen unterstützen.

Sie werden bemerkt haben, dass wir ein wenig rückwärtsgehen. Das tun wir, weil wir etwas demonstrieren wollen. Kurz nach der Teilmobilmachung und auch nach den Referenden haben Experten und sogar Politiker analysiert, dass diese Maßnahmen Zeichen der Schwäche der russischen Regierung sind. Nun sind zwei Wochen bzw. eine Woche vergangen und was sehen wir: Dass diese Maßnahmen Zeichen der Schwäche sind. Natürlich soll man nicht alles, was aus dem Kreml kommt, für einen Bluff halten, sie sich die Herrschaften dort selbst gerne ausdrücken, aber wenn jemand schon ständig diesen Begriff in den Mund nimmt und versichert, was man vorhabe, sein kein Bluff, dann herrscht bereits Notstand und Ratlosigkeit. Man befürchtet, dass man nicht ernstgenommen wird.

Nun haben jedoch 65 Prozent der Abstimmen sich dahingehend geäußert, dass sie große oder doch überwiegend Sorge vor einer Eskalation des Krieges durch die Teilmobilmachung haben, bei jenen, die in den letzten Tagen abgestimmt haben, dürften auch die Auswirkungen der Referenden eine Rolle gespielt haben. Wir können es nicht ändern, wir sind schon wieder nicht dabei. Wir haben mit lediglich 16 Prozent der Abstimmenden für uns festgelegt, dass wir uns überwiegend keine Sorgen machen werden, dass diese beiden Maßnahmen eine Eskalation des Krieges bedeuten. Zumindest nicht, was seine territorialen Grenzen angeht. Dabei kam uns zu Hilfe, dass wir die Entwicklung nun fast 14 Tage lang beobachten konnten, am 26.09., als die Abstimmung aufgesetzt wurde, war die Lage noch nicht so klar und gut analysiert, die sich aus den beiden genannten Maßnahmen ergeben würden.

Leichtfertigkeit ist im Ukrainekrieg nun wirklich nicht angesagt, und wir verurteilen klar die Kriegstreiberei einiger Politiker:innen in Deutschland. Man darf sich aber auch  nicht von jedem Move, den Putin macht, in Panik versetzen lassen, denn genau das ist der Nicht-Bluff: Den Westen damit zu verunsichern und dessen Gesellschaften zu spalten, das ist ganz ernst gemeint. Einige andere Politiker:innen bei uns fallen sprichwörtlich fast jeden Tag auf Putin herein oder tun zumindest so und wollen der Ukraine daher ansinnen, doch lieber aufzugeben, damit ein Pazifismus sich durchsetzen kann, der das Ergebnis einer Aggression salviert. Auch diese Haltung ist nicht die unsere. Unsere Skepsis gegenüber denen, die so unterwegs sind, verstärkt sich, wenn wir lesen, wie Putinisten sogar die Verluste in der Region Charkiw quasi als Teil des Putinschen Masterplans darstellen wollen. Wo sie aber Recht haben: Wenn sie sagen, Russland ist vor allem daran interssiert, bis nach Odessa vorzustoßen und die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Das wissen die Macher in Kiew aber und deswegen gibt es auch Vorstöße der Ukraine an der Südfront. Mit weniger Erfolg, das stimmt, aber alles ist in Bewegung, es gibt noch keinen reinen Stellung- oder gar Sitzkrieg. Wie das, was wir gerade sehen, im Detail strategisch und taktisch zu deuten ist, das ist nicht unser Beritt und würde ein eigenes Dossier erfordern. Wir sagen nach wie vor: Überwiegend gehen wir nicht davon aus, dass das, was sich in den letzten Wochen ereignet hat, den Krieg aus der deutschen Sicht heraus gefährlicher macht.

Andererseits: Muss man Öl ins Feuer gießen, zum Beispiel mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymy Selenskyj, der das Folgende forderte und außerdem kürzlich vom Westen sogar einen atomaren Präventivschlag gegen Russland forderte?

Civey-Umfrage: Würden Sie einen beschleunigten Beitritt der Ukraine zur NATO eher befürworten oder ablehnen? – Civey

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Freitag den beschleunigten Beitritt seines Landes zur NATO beantragt. Er reagierte damit auf die Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland, die der russische Präsident Wladimir Putin ebenfalls am Freitag unterzeichnete. Vorangegangen waren Referenden in den besetzten Gebieten, welche vom Westen als Völkerrechtsbruch bezeichnet wurden.

Neun europäische NATO-Staaten haben sich für einen Beitritt der Ukraine ausgesprochen. Zudem riefen sie die restlichen 21 Mitgliedsstaaten in einer Erklärung auf, ihre Militärhilfe für die Ukraine „erheblich“ zu erhöhen. Zu den Unterzeichnern gehören u.a. Polen, Tschechien und die Slowakei. Aussicht auf Erfolg hat der ukrainische NATO-Antrag derzeit laut ARD nicht. Eine der Bedingungen ist, dass ein Bewerberstaat keine aktiven Grenzkonflikte haben darf.

Andere NATO-Staaten wie Deutschland und die USA sehen einen ukrainischen Beitritt momentan skeptisch, da sie einen Konflikt mit Russland vermeiden wollen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sicherte der Ukraine am Freitag weitere Hilfe in Form von Waffenlieferungen zu. Zugleich werde sie alles dafür tun, dass andere Länder nicht in den Krieg hineingezogen werden.

Das mit den Grenzkonflikten weiß natürlich auch der ukrainische Präsident, aber etwas Druck auf den Westen kann nie schaden, wie wir seit Kriegsbeginn sehen. Zumal es eine moralische Rechtfertigung gibt: Der Westen, besonders die USA, haben die Ukraine über viele Jahre lang an sich herangezogen und prowestliche Strömungen im Land unterstützt. Man kann durchaus die Meinung vertreten, dass es ein Verrat ist, jetzt zu sagen: Nein, tut uns leid, hier gibt es einen ungelösten Grenzkonflikt. Hätte man die Ukraine früher in die NATO aufgenommen, wäre dieser nämlich nicht entstanden. Wir haben damit nichts darüber ausgesagt, ob wir ein solches Vorgehen z. B. vor zehn Jahren richtig gefunden hätten. Wohl eher nicht.

Und plötzlich sind wir auch mal auf der Seite der Mehrheit. Die meisten hierzulande wollen, dass der Ukraine geholfen wird, aber deswegen gleich ein Eilbeitritt zur NATO? Das lehnen 57 Prozent der Abstimmenden entschieden oder überwiegend ab. Wir haben uns zu denen gesellt, die klar: „nein“ sagen, ebenso übrigens wie zu einem beschleunigten EU-Beitritt der Ukraine. Dass osteuropäische Länder auch die Ostschiene der NATO und der EU stärken wollen, liegt sicher in deren Interesse, aber nicht in unserem, denn unseres ist vor allem an der Qualität der Demokratie und einer progressiven Zivilgesellschaft ausgerichtet. Aber kann man nicht auf anderer Ebene etwas für die Ukraine tun?

Civey-Umfrage: Sollte sich Deutschland Ihrer Meinung nach für diplomatische Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine einsetzen? – Civey

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) warb erneut für Verhandlungen mit Russland im Ukraine-Krieg. Im ZDF Morgenmagazin forderte er am Mittwoch „So schnell wie möglich eine diplomatische Lösung, das Sterben muss aufhören“. Bereits im Juli sprach er sich dafür aus, dass Deutschland wieder Rohstoffe aus Russland beziehen und dafür eintreten sollte, dass dieser Krieg über den Verhandlungsweg „eingefroren wird“.

Tesla-Geschäftsführer Elon Musk zog diese Woche viel Kritik mit einem Friedensplan auf sich. Auf Twitter schlug er u.a. vor, Russland die Krim zu überlassen, die Referenden in den besetzten Gebieten unter Uno-Aufsicht zu wiederholen und die Ukraine auf einen neutralen Status zu verpflichten. Er unterstütze die Ukraine, aber der Krieg stürze „die ganze Welt ins Chaos”.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski und viele seiner Landsleute reagierten empört auf derartige Vorschläge. In der Ukraine sind Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sogar per Dekret verboten worden. Auch Außenministerin Annalena Baerbock sieht laut Stern derzeit keine Chance auf Verhandlungen mit Russland. Politologin Magdalena Martullo-Blocher sprach sich in der nzz für Diplomatie mit Verweis auf die befürchtete Gasmangellage aus.

Sogar Sahra Wagenknecht hat sich positiv zu Elon Musk geäußert, nach dem Motto: Sonst wirklich nicht mein Cup of Tea, aber dieses Mal trinke ich einen mit! So etwas macht uns immer hellhörig, auch wenn man nichts dafür kann, dass die Falschen die eigenen richtigen Vorschläge gut finden, das liefe auf eine Kontaktschuld hinaus, die den demokratischen Diskurs verstopft und deren Annahme nichts zur Lösung von Sachfragen beiträgt. Ob diese Ansicht auch gegenüber die Unterstützung der eigenen Positionen durch Rechte gelten darf? Kommt darauf an, wie sie sich im Einzelfall zeigt.

Wir haben mit „unentschieden“ gestimmt, was an einer Abweichung zwischen dem liegt, was im Begleittext steht, und der Fragestellung. Es ist ein Unterschied, ob Deutschland für Verhandlungen sorgen oder sie befürworten und unterstützen soll. Ersteres ist derzeit nicht möglich, das sehen wir auch so. Wir haben mehrfach geschrieben, dass Deutschland dafür nicht in der Position ist. Per Druck können nur China und die USA jeweils einen der Kriegsbeteiligten zu Verhandlungen bewegen und warum sollte im Moment die Ukraine, da sie vorankommt, Verhandlungen wünschen? Wäre der Kriegsverlauf gerade umgekehrt, würde Putin Verhandlungen weit von sich weisen. Solange nicht beide Seiten total augepowert sind oder eine obsiegt hat, wird es keine Verhandlungen geben.

Wir sind auch nicht dafür, dass Verhandlungen am Ende einen Erfolg für Putins Eroberungspolitik darstellen. Ein weiterer Grund das „Unentschieden“: Kein Frieden, der die Welt unsicherer macht, weil Aggression belohnt wird. Pazifismus, der ethische Gesichtspunkte und fairen Ausgleich berücksichtigt, jederzeit. Aber kein dümmlicher Generalpazifismus, der politischer Erpressung Tür und Tor öffnet. Wir sollten aus der deutschen Geschichte wirklich gelernt haben, dass Appeasement am Ende um ein Vielfaches mehr Leid und Tod bringen kann als rechtzeitiges Grenzen setzen.

Mindestens ein umfangreicherer Artikel am Wochenende ist bei uns mittlerweile Tradition, aber man muss natürlich auch ein Ende finden. Die letzte Umfrage, die erst gestern aufgesetzt wurde, bildet einen guten Schlusspunkt. Am Ende wird es Verhandlungen geben müssen. Sogar dann, wenn die Ukraine von der Landkarte verschwindet, damit sich so etwas nicht wiederholen kann. Bis dahin müssen wir die Lage ernstnehmen, aber nicht so duckmäuserisch vor der Politik kuschen und jedem Versuch, uns hinter die Fichte zu führen, nachgeben, anstatt sie für die Probleme in die Pflicht zu nehmen, die sie uns bereitet. Indem wir dagegen protestieren verteidigen wir die Demokratie immer noch am allerbesten und auf jeden Fall besser, als wenn wir es durchgehen lassen, dass jeder Konflikt auf der Welt ersatzweise als überlebenswichtig für die hiesige Freiheit deklariert; somit als Placebo gegen hiesige Demokratiemängel benutzt und ideologisch so aufgeladen wird, dass eine pragmatische Lösung in weitere Ferne rückt, als es rein sachlich denkbar wäre.

TH
[1] Trittbrettfahrer

Die Gasumlage soll strauchelnde Energieversorger retten. Doch auch Konzerne, die in den letzten Monaten Milliardengewinne eingefahren haben, pochen auf die Umlage. So können sie doppelt Kasse machen – die Rechnung zahlen wir alle. Unterzeichnen Sie jetzt und fordern Sie die Bundesregierung auf, schnellstmöglich nachzubessern.
Unterzeichnen Sie jetzt für eine faire Gasumlage 
Hallo Thomas Hocke, an der Energiekrise verdienen und zusätzlich Milliardenhilfen vom Staat kassieren – die geplante Gasumlage macht’s möglich.[1] Eigentlich soll sie systemrelevante Energieversorger vor dem Konkurs retten. Nun zeigt sich: Es könnten auch Konzerne profitieren, denen es richtig gut geht.[2] Solange sie im Gasgeschäft Verluste haben, dürfen sie mit Milliarden aus der Umlage rechnen – auch wenn sie ansonsten Rekordgewinne verzeichnen.

Die Idee hinter der Umlage ist eigentlich richtig: strauchelnde Unternehmen stützen und verhindern, dass wir im Winter im Kalten sitzen. Aber sie darf nicht auf Kosten von uns Bürger*innen die ohnehin schon hohen Gewinne von Konzernen vermehren. Deshalb gibt es bereits viel Kritik für die Gasumlage – nicht nur von der Opposition, auch aus den Reihen der Regierungsparteien.[3][4] Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat jetzt signalisiert, die Umlage noch einmal zu prüfen.[5]
Damit die Ampel wirklich nachbessert, müssen wir klarmachen: Es dürfen nur Unternehmen profitieren, die wirklich Hilfe brauchen. Bereits am Dienstag trifft sich die Regierung zu einer zweitägigen Klausur.[6] Hier wird sich alles um das Thema Energiesicherheit drehen. Protestieren bis dahin Hunderttausende Bürger*innen, kommen Scholz, Habeck und Lindner an einer fairen Gasumlage kaum vorbei. Daher unsere Bitte, Thomas Hocke: Unterzeichnen Sie den Eil-Appell an die Ampel-Spitzen.
Unterzeichnen Sie jetzt für eine faire Gasumlage
Seit die richtigen und wichtigen Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland in Kraft sind, müssen Energieversorger ihr Gas viel teurer einkaufen als geplant. Viele verbuchen jeden Tag Millionenverluste, denn sie können die Preissteigerungen nicht vollständig an ihre Kund*innen weitergeben. So wie Uniper. Das Unternehmen beliefert knapp 1.000 Stadtwerke und Hunderte Unternehmen mit Gas. Geht Uniper insolvent, wäre der Schaden riesig. Millionen Wohnungen könnten kalt bleiben, Teile der Industrie stillstehen.[7] Deshalb greift der Staat ein: mit der Gasumlage.
Doch die Umlage kostet – und zwar kräftig. Sie belastet Verbraucher*innen, die schon jetzt unter den hohen Energiepreisen ächzen. Und sie kostet uns Milliarden, weil der Staat auf Einnahmen bei der Mehrwertsteuer auf Gas verzichtet.[8] Entscheidend ist deshalb, dass wirklich nur die Konzerne Unterstützung bekommen, die systemrelevant sind – und die sonst zusammenbrechen.
Die Bundesregierung muss jetzt dafür sorgen, dass sie nur Unternehmen hilft, die wirklich in Schwierigkeiten stecken. Zudem muss sie Extra-Profite aus der Krise mit einer Übergewinnsteuer belegen. Machen Sie mit: Setzen Sie sich für eine faire Gasumlage und die Übergewinnsteuer ein.
Unterzeichnen Sie jetzt für eine faire Gasumlage 

PS: Der Staat muss große Gasunternehmen retten – dafür sind auch 16 Jahre mit unionsgeführten Bundesregierungen verantwortlich. Sie haben unser Land von russischem Gas abhängig gemacht. Doch auch wenn der Staat deshalb jetzt einspringen muss: Dass sich Konzerne an der Umlage bereichern, darf nicht passieren. Bitte unterzeichnen auch Sie den Appell.
Unterzeichnen Sie jetzt für eine faire Gasumlage

[1]„Was Gaskunden jetzt wissen sollten“, Tagesschau Online, 15. August 2022
[2]„Diese Konzerne profitieren von der Gasumlage“, ZDF heute, 23. August 2022
[3]„Ampel im Clinch wegen Gasumlage“, taz Online, 23. August 2022
[4]„Hofreiter bezeichnet Gasumlage als Fehler”, Der Spiegel Online, 26. August 2022
[5]„Habeck und Lindner erwägen Änderungen“, Tagesschau Online, 17. August 2022
[6]„Kabinettsklausur mit Schwerpunkt Energiesicherheit“, Tagesspiegel Background Online, 26. August 2022
[7]„Rettung von Uniper“, Südwest Presse Online, 26. August 2022
[8]„Die Mehrwertsteuersenkung, ein Geschenk mit Haken”, Süddeutsche Zeitung Online, 19. August 2022

Briefing Nr. 37 (hier zu Nr. 36)

Was bewegt Menschen, die sich viele Jahre lang politisch engagiert haben in diesen schwierigen Zeiten, in denen jeder kluge Kopf gebraucht wird, Parteien zu verlassen, mit ihnen zu brechen, ihnen den Rücken zu kehren – und damit das linke Lager zu schwächen. Wir haben drei Beispiele aus der letzten Zeit herausgesucht. Zwei davon sind im linken Lager recht bekannt, das dritte weniger, es betrifft einen SPD-Kommunalpolitiker, der eher exemplarisch stehen könnte.

Gleich zwei prominente Männer haben kürzlich Die Linke verlassen. Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und Fabio de Masi, einer der wenigen Wirtschaftsexperten der Partei. Was ist bei der Linken los?

Diese beiden Austritte sind deshalb so signifikant, weil sie die Fliehkräfte in der Partei versinnbildlichen. Schneider ist wohl der beste Soziallobyist im Land, aber ist kein Putinversteher und zählt nicht zum Wagenknecht-Flügel. Genau umgekehrt bei Fabio de Masi, der zunächst Europaabgeordneter, dann Bundestagsabgeordneter war.

Verliert die Linke zu allen anderen Problemen, die sie hat, jetzt auch noch ihre besten Leute?

Die Probleme sind ja die Ursache, der Verlust die Folge. Mir tun beide Abgänge wirklich leid. Auch bei den Wohlfahrtsverbänden bzw. den ihnen angeschlossenen Trägern ist nicht alles perfekt, das erwähnt Schneider natürlich nicht so gerne, aber ich bin ein wenig im Bilde darüber, was dort läuft. Ich vermisse deshalb mehr Sichtbarkeit des Engagements für die Träger und ihre Mitarbeitenden selbst, zum Beispiel gegen die negatien Auswirkungen des BTHG (Betreuungs- und Teilhabegesetz), das, wenn es von jemandem wie Jens Spahn kommt, bestimmt keine Verbesserungen für Mitarbeitende der Träger und Patient:innen mit sich bringt, sondern versucht, auch den bisher noch einigermaßen ungeschorenen psychosozialen Bereich ähnlich durchzuökomomisieren wie den klinischen Bereich der Gesundheitsversorgung. Andererseits ist Schneider ein Einzelfall, unverzichtbar für das stete Anprangern des Klassismus in der Politik.

Was war der konkrete Anlass für Schneider, zu gehen, nachdem er seine Partei schon zuvor wegen ihrer Uneinigkeit kritisiert hat?

Dieser Tweet erklärt es recht knapp, aber stimmig:

Ulrich Schneider auf Twitter: „Da es ohnehin schon Kreise zieht: Dass die @Linksfraktion am letzten Donnerstag im BT @SWagenknecht ans Podium ließ, und was diese dann – man hätte es wissen müssen – vom Stapel ließ, war zu viel. Ich bin aus der Partei @dieLinke ausgetreten.“ / Twitter

Dazu muss man sagen, dass Schneider 2016 erst eingetreten war. Ich kann mich an die Zeit gut erinnern. Die Linke war im Aufwand und es bestand Hoffnung darauf, dass Links endlich zu wirken beginnt. Damals, das darf man heute nicht vergessen, war Sahra Wagenknecht mit für Erfolge der Linke verantwortlich. Aber mittlerweile arbeitet sie klar gegen die Partei. Ärger wegen Positionierungen, die nicht deren Beschlüssen entsprechen, gab es ja schon länger.

Warum tut sie das?

Persönliche Verletzungen, narzisstische Kränkungen, daraus folgende Regression und ein Hang zum Destruktiven, der durch ihren Mann, Oskar Lafontaine, leider verstärkt wird. Die Ausiwirkungen eines solchen Mindsets sind noch gravierender als die Richtungsprobleme, die es in der Linken immer schon gab, weil nun alles einen hochgradig persönlichen Touch angenommen hat.

Ich bin sehr für einen integrativen linken Ansatz, aber das ist mit vielen Ideologen dort nicht zu machen und das hat auch den Pragmatiker Schneider wohl letztlich davon überzeugt, dass es besser ist, nicht parteipolitisch gebunden zu sein, anstatt diesem Zirkus weiter ohnmächtig aus einer Insiderposition heraus  zuzuschauen, zur Untätigkeit verdammt, mehr oder weniger, weil viele in der Partei absolut beratungsresistent sind. Wenn zum Beispiel die Herausgeber der NDS (Nachdenkseiten) seit Jahren behaupten, die SPD sei unterwandert und habe sozusagen aus den USA den Selbstzerstörungsauftrag erhalten, dann müsste das für die Linke auch gelten.

Ich habe noch niemals im Leben eine solche destruktive Energie gesehen. Wie einige Leser:innen wissen: Ich war 2016 ebenfalls in die Partei eingetreten und habe sie bereits vor einem Jahr wieder verlassen. Ich war ziemlich dicht an Menschen dran, die sehr mit Sahra Wagenknecht verbunden sind und habe die Probleme daher im Blick gehabt, die es mit sich bringt, jemandem zu folgen, egal, was er tut und ob er uns, den Menschen in der Zivilgesellschaft, noch dient, oder ob jemand ein eigenes Ding macht und dabei der eigenen Partei auch bewusst schadet. Man sollte zwar vorsichtig sein mit zu einseitigen Schuldzuweisungen, in der Linken gibt es eine Menge Charaktere, die ich mir niemals als private Freund:innen vorstellen könnte, aber gerade dieses Gepräge ist für mich eben nicht links, sondern link. Ich kann mir gut vorstellen, was einen auf mich klar strukturierten und an Ergebnissen orientiert wirkenden Typ wie Schneider dazu bewegt hat, das nicht mehr mitzutragen.

Damit die Leser:innen verstehen, müsste man mehr über das Wesen der Linken preisgeben.

Wir hatten hier ein Dossier über die Scheinbewegung „Aufstehen“ verfasst, so muss man dieses Wagenknecht-Modul jetzt nennen. Ursprünglich war die Absicht, dessen Entwicklung nachzuzeichnen. Leider haben wir bald festgestellt, dass es mehr Kritikwürdiges als Gutes daran gab und kamen in ein Dilemma, zumal ich als Noch-Parteimitglied. Ich wusste einiges, aber bei Weitem nicht alles. Ich habe also mehr die Außenwirkung dieser Gruppierung als Prognose für deren mögliches Scheitern herangezogen, nicht, wie Super-Insider, organisatorische Probleme. Damals, im Jahr 2018, wurde der Zwist in der Linken aber für jedermann sichtbar, der Niedergang ganz offen eingeläutet. Zuvor, wegen der Bundestagswahl 2017, hatte man sich noch einmal mühsam zusammengerauft. Der gesamte Vorgang ist ein No-Go.

Was geschehen ist und was nicht geschehen ist, spottet beinahe jeder Beschreibung und was mich ärgert, ist, dass so viele gutwillige und engagierte Menschen sich für etwas eingesetzt haben und immer noch einsetzen, was aufgrund prinzipieller Fehler, die man bei der Einrichtung gemacht hat, aufgrund Missachtung der Außenwirkung und wegen mangelnden Mutes und destruktiver Ansätze niemals politische Wirkung erzielen kann. Man muss sogar aufpassen, dass man nicht zu oft mit Rechten auf denselben Demos gesehen wird, wenn man denn mal mobilisiert. Ein Kampagnendesaster, das mir auch zeigt, dass da, anders als zum Beispiel bei „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, einer echten Bewegung innerhalb des breiten Spektrums der Berliner Mietenaktivist:innen, keine gewieften Öffentlichkeitsarbeiter:innen, sondern Theoretiker:innen und auch viele Dilettant:innen unterwegs sind, verbiesterte Ideolog:innen, nicht Menschen, die mit uns die Zukunft gestalten wollen.

Dies alles verhindert linke Einigkeit, anstatt sie zu befördern. Was Die Linke alles nicht hinkriegt, ist bodenlos, zumal in Zeiten, die nach linker Politik schreien. Ein Mann, der weiß, wie man sich öffentlich so äußert, dass man gehört wird und damit für die Armen im Land mehr erreicht als die gesamte Linke, also jemand wie Ulrich Schneider, konnte das alles wohl nicht mehr ab und das Fass zum Überlaufen hat Wagenknechts Verdrehung von Ursache und Folgen in Sachen Ukraine-Krieg gebracht. Ich glaube, Schneider wird, wenn man die Wirkung seiner Social-Media-Posts als Grundlage nimmt, mehr als jeder Politiker, jede Politikerin der Linken, als klar auf der Seite der Diskriminierten wahrgenommen. Das war zu Wagenknechts Glanzzeiten einmal anders, aber sie hat sich selbst demontiert und wird in der Linken keine herauragende Rolle mehr spielen. Ohne eine solche Rolle aber kann sie die Ampelregierung nicht ernsthaft vor sich hertreiben. Die Gegner wissen auch, dass sie entmachtet ist und nur noch für eine Minderheit in der Fraktion im Bundestag spricht.

Und die Basis?

Schwer, die Anteile der Wagenknecht-Befürworter:innen und Gegner:innen zu bestimmen, denn was sich auf Parteitagen und bei Funktionsträger:innen zeigt, ist nicht „die Basis“ und, mit Verlaub, die Basis ist nicht gleichzusetzen mit den viele Menschen, die die Linke wählen sollen. Das sollte auch die Basis im Blick haben und den Blick mal etwas mehr darauf richten, wie das, was in der Linken abläuft, draußen ankommt. Nämlich so, dass laut Civey, Stand gestern, die Linke bei einer Bundestagswahl heute nur noch auf 4,3 Prozent käme. 2021 waren es 4,92 Prozent, sie ist nur noch im Bundestag vertrten, weil sie in Ostberlin zwei und in Leipzig ein Direktmandat errungen hat. Die Civey-Werte für die Linke sind zudem meist etwas höher als das, was am Wahlabend wirklich herauskommt.

Das heißt, wer geht, schaut einfach, was geht und was nicht und entscheidet ganz nach Opportunität?

Auch die Chancenlosigkeit, linke Politik durch die Linke zu organisieren, hat Schneider sicher auf dem Schirm: Dass es schlicht Energieverschwendung ist, gegenwärtig in der Linken Politik zu machen, und das kann er sich mit fast 70 Jahren nicht mehr leisten. Ich kann die Ungeduld von Menschen verstehen, die nicht mehr jahrzehntelang zusehen wollen, ob die Linke sich doch noch berappelt. Ich persönlich sehe sowieso nichts. Kein einziges politisches Großtalent, das die Wende bringen könnte. Wir werden das, was geschieht, weiter verfolgen, nicht emotionslos, aber so distanziert, dass unser Ärger nicht in Depressionen umschlagen sollte, die uns ob der Aussichtslosigkeit der Lage der Linken ereilen könnten, wenn wir da noch richtig drin wären.

Kommen wir zu Fabio de Masi. Ganz anderer Fall?

Sicherlich ja. De Masi ist Volkswirtschaftler und war einer der wenigen in der Linken, denen man zuhören konnte, ohne dass am Ende mehr wirtschaftspolitische Fragezeichen zurückblieben als zu Beginn. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung beispielsweise hat auch gute Leute, aber Die Linke macht keinen Gebrauch von ihnen, sondern verbleibt in bekannten Fahrwassern und führt weiter ideologische Grabenkämpfe.

Auf welcher Seite des Grabens stand De Masi?

Auf der von Wagenknecht. Das war aber nur möglich, weil er kein Marxist ist und sie keine Marxistin mehr ist, falls sie je eine war. De Masi ist im Grunde ein sozialdemokratischer Linkskeynesianer, der ähnliche Positionen vertritt wie der Volkswirtschaftsprofessor Heiner Flassbeck. Diese Richtung in der VWl ist in Deutschland eine Außenseiterposition, die man offensiv vertreten muss, um Aufmerksankeit zu erzielen. Das tun beide, nur, dass De Masi nicht so gallig und rechthaberisch rüberkommt. Sein persönliches Gepräge hat mir immer recht gut gefallen. Seine Positionen sind mir aber zu sehr an den aktuellen Gegensätzen in der EU orientiert. Flassbeck vertritt französische Politik, De Masi italienische, was ja oft miteinander übereinstimmt. Was die EZB in diesem Sinne an Fehlern produziert, dass in Deutschland die Menschen immer ärmer werden, interessiert dabei viel weniger, als es sollte und das ist ein ganz anderes Herangehen als z. B. bei Ulrich Schneider. Die einen schauen darauf, was man tun kann, damit bestimmte Länder weiter vom Euro profitieren, der andere darauf, wie in Deutschland die Menschen leiden.

Ist das jetzt nicht doch zu sehr die Konstruktion eines künstlichen Gegensatzes?

Mir sind die Ansätze der Volkswirtschaftler, die der Linken nahestehen oder in ihr verortet sind, zu wenig klassenorientiert und zu sehr am Wohl der Nationen und damit auch von deren Kapital orientiert. Es geht vor allem darum, welches Land macht welche Finanz-, Migrations- und Arbeitsmarktpolitik. Wer verlässt sich auf welche Wirtschaftsausrichtung. Das ist ein kompliziertes Thema, wenn man da mehr nachgräbt, wird man auch Divergenzen zwischen De Masi und Wagenknecht finden und von dort aus auf Widersprüche innerhalb von deren Positionen stoßen. Letztlich helfen sie mit vielen ihrer Argumente in der Tat dem Kapital und der kollektivistische Aspekt kommt zu kurz.

„Meine Entscheidung ist nicht Teil einer Flügelauseinandersetzung und ich habe nicht vor mich in absehbarer Zeit in einer anderen politischen Formation zu engagieren“, erklärte De Masi weiter. Er bleibe „vielen klugen Köpfen und heißen Herzen“ in seiner früheren Partei freundschaftlich verbunden. „Aber ich möchte nicht mehr in Verantwortung für das eklatante Versagen der maßgeblichen Akteure in dieser Partei in Verantwortung genommen werden, die eine große Mehrheit der Bevölkerung im Stich lassen, die eine Partei brauchen, die sich für soziale Gerechtigkeit und Diplomatie überzeugend engagiert“, schrieb De Masi. „Ich habe versucht meinen Teil zu leisten, aber ich bin damit gescheitert!“

Fabio De Masi verkündet Austritt aus Partei Die Linke | NDR.de – Nachrichten – Hamburg

Zusammenfassend liest es für mich so: Meine Entscheidung hat nichts mit der Führungskrise in der Linken zu tun, aber sie ist genau so bebründet, denn ich war in der Führung, hätte vielleicht gerne mehr geführt, aber das war aufgrund meiner Verortung im Minderheitsflügel um Wagenknecht und aufgrund deren Abstieg in der Linken nicht mehr möglich.

Für mich war es schon ein Warnzeichen, dass er 2021 nicht mehr Bundestagsabgeordneter sein wollte. Im Bundestag hätte er nämlich Wagenknecht mit seiner unbestreitbaren Kompetenz maßgeblich unterstützen können, sah diese Position aber wohl als aussichtslos an. Mit dem Austritt ist nur noch der formale letzte Schritt gefolgt. Niemand muss aus einer Partei austreten, um unzähligen Menschen in dieser Partei verbunden zu bleiben.

Sind Schneider und de Mais auch als Pole innerhalb der Linken Sinnbilder gewesen?

Nicht einmal das. Denn z. B. die kommunistische Plattform hat gar keinen prominenten Bundespolitiker (mehr). Nach meiner Ansicht sollte sie sich von der Linken lösen und sich der DKP anschließen. Ideologisch betrachtet. Sie tut es aber nicht, weil sie sich in der Linken immer noch mehr Einfluss erhofft als in einer Kleinpartei, die niemals eine Chance haben wird, in den Bundestag einzuziehen. Oder sagen wir: Nicht unter Voraussetzungen, die den heutigen wenigstens noch entfernt ähneln. Im Grunde ist auch diese Gruppierung Sand im Getriebe einer Partei, die sich immer mehr als gesellschaftslinke definiert. Was übrigens ein weiterer gigantischer Fehler ist, da gebe ich den Wagenknechtianer:innen sogar Recht. Sie hat nicht die Wählerschaft für eine solche Ausrichtung, anders als die Grünen, die ohnehin schon lange nicht mehr links sind. Man kann nicht das Gleiche wie andere anbieten, wenn man bei diesem Angebot nicht authentisch wirkt. Und das, obwohl man sogar über die Positionen der Grünen hinausgeht, vor allem eine inklusive Migrationspolitik betreffend. Erst muss der Klassenkampf erfolgreich geführt werden, dann kann man so optieren, sonst endet das Ganze in einem sozialen Desaster, das wiederum nur dem Kapital nützt. Aber bei der Linken steht wirklich fast alles Kopf und es ist ja viel bequemer, alle anderen gesellschaftspolitisch übrerholen zu wollen, verbal zumindest, weil man zu wenig Einfluss hat, um es umsetzen zu können, anstatt sich mit dem Kapital noch richtig anzulegen. Das gilt auch für Leute wie De Masi und Schneider, übrigens und leider auch mehr und mehr für Wagenknecht, die sich in geostrategischer Russlandverteidigung verliert und dabei wie Putins Sprachrohr wirkt, anstatt die negativen Auswirkungen des Krieges auf die gesamte Klasse der Arbeitenden in den beteiligten Ländern und in der EU zu betonen. Hingegen ist die Adressierung an die Bundesregierung Quatsch, sie solle doch endlich eine Friedensinitiative vorlegen. Die einzige Möglichkeit ist, einen Generalstreik zu organisieren, die der Kriegsmaschinerien lahmlegt. Das klingt heutzutage utopisch, war es in den guten Zeiten der Arbeiter:innenbewegung aber nicht. Sogar Militärangehörige haben gestreikt, als die Revolution in der Luft lag, z. B. am Abend des Ersten Weltkriegs. Alle diese radikalen und dem Frieden zugewandeten Traditionen sind heute in der Linken kaum präsent. Auch nicht bei den Angesprochenen. Die historische Dimension dessen, was wir gerade sehen, wir ausgeblendet, und sie ins Bewusstsein zu rücken, wäre unbedingt notwendig.

Machen wir doch ein wenig in Historie. Kommen wir zu dem weniger bekannten SPD-Regionalpolitiker, als Schmankerl für alle, die bis hierher durchgehalten haben. Hier zunächst zum Nachlesen.

Wieso ich nach 58 Jahren aus der SPD austrete: Faktische Kriegsteilnahme Deutschlands unter der Führung von SPD-Kanzler Scholz (nachdenkseiten.de)

Wir müssen das jetzt etwas verkürzen, aber es geht mir auch im Wesentlichen um wenige Gesichtspunkte, die sich gut verdichten lassen: Zum einen finde ich es honorig, wenn jemand, der ein klassischer „Parteisoldat“ war und dessen Vorfahren Soldaten in den alptraumhaften Kriegen des 20. Jahrhunderts waren, Pazifist bleiben will. Dagegen kann man persönlich gar nichts einwenden. Die Motivation für die Demission ist wiederum eine andere als bei den oben genannten Personen, sie läuft der von Ulrich Schneider sogar dezidiert zuwider, der wohl dazu tendiert, die Bundesregierung bei ihrem Ukraine-Kurs zu unterstützen.

Das ist für jemanden, der Forderungen für eine Lobby aufstellt, auch einfacher: Was immer die Regierung tut, es darf nicht wieder einmal überwiegend die Armen treffen. Wer sich aber in der Tradition von Willy Brandt sieht, denkt in globalen Dimensionen, wie Brandt es getan hat.

Lesen wir mal rein: „Zwei Seiten hat das Schreiben, in dem ich meinen Austritt „mit sofortiger Wirkung“ erkläre (…) Die Waffenlieferungen an die Ukraine, das „riesige Aufrüstungsprogramm“ für die Bundeswehr, auch die öffentliche Entschuldigung des jetzigen Bundespräsidenten und früheren Außenministers Frank-Walter Steinmeier dafür, dass die Bundesregierung viele Jahre Russland in eine neue Friedensordnung einbinden wollte – das (…) ist für mich nicht weniger als ein Verrat an den eigenen Grundwerten. An der alten SPD, geprägt von Willy Brandt, neuer Ostpolitik und Wandel durch Handel – eben Friedenspolitik.

(…)

Die USA wolle diesen Krieg, um in der seit Ende des Kalten Kriegs destabilisierten Welt ihre Vormachtstellung zu behaupten. Es sei ein Stellvertreterkrieg der Großmächte Russland und USA, ein Wirtschafts- und Kulturkrieg um die „Rohstoffe der Welt“. Und die EU hat zwar auch eigene Interessen, ist aber inzwischen lediglich ein „Vasall der USA“, die selbst für zahllose Kriegsverbrechen in der Welt verantwortlich ist.“

Ich werde das jetzt ohne Zwischenüberschriften durchkommentieren.

Einerseits berührt mich der Text, auch wegen der persönlichen Anmerkungen, wegen des Kampfes fürs Bessere, wegen der sichtbaren Traumata, die wir ja alle aus jenen Zeiten vererbt bekommen haben. Da kann man noch froh sein, wenn man keine ausgewiesenen Nazis in der Familie hatte. Aber vielleicht viele Tote, die heute noch Klage führen.

Eine Sache aber müssen wir klarstellen: Willy Brandt hat seine Ostpolitik zu Beginn der 1970er gemacht, mit Staaten, die aus Russland für die Politik der Annäherung Rückendeckung hatten, mit Polen, mit der DDR. In einer festgefügten Welt des Kalten Kriegs, nicht in einer chaotischen Zeit wie der heutigen, in der niemand mehr so recht weiß, wer Freund und Feind ist. Brandt war aber auch im Widerstand und hat gegen die Nazis gekämpft. Ich bin auch nicht dafür, dass sich heute Bundespolitiker für konstruktiv gemeinte Ansätze entschuldigen, Russland betreffend, auch wenn man nach der Krim-Annektion 2014 hätte vorsichtiger sein müssen. Auch ich habe in Sachen Nord Stream 2 diesen Aspekt zu wenig berücksichtigt und was dieses Vorgehen für die Zukunft bedeuten könnte.

Für mich stellt sich weniger die Frage, was Willy Brandt 1970, 1972 tun konnte, weil es eben gerade ein Zeitfenster dafür gab, sondern, wie er sich heute verhalten würde. Ich glaube, dass die Sachzwänge, die ungeheuer stark sind, ihm kaum eine andere Möglichkeit gelassen hätte als das, was wir jetzt bei Olaf Scholz sehen. Die beiden sind gewisse als Persönlichkeiten sehr unterschiedlich, aber die frühen 1970er waren eine ausgesprochen hoffnungsvolle Zeit, in Europa zumindest. Davon sind wir heute sehr weit entfernt und es geht eher darum, dass nicht alles immer schlimmer wird. Mehr Demokratie wagen? Nein, aufpassen, dass die Demokratie nicht den Angriffen auf sie zum Opfer fällt. Schon 1973, und das habe ich vom NDS-Herausgeber selbst so gelesen, wurde Brandt in den USA eingenordet die  wirtshaftspolitischen und geostrategischen Grenzen wurden im freundlich, aber bestimmt erläutert. Die besonders Fortschrittlichen hätte Brandt nach 1974 wohl enttäuscht, aber da er durch den viel konservativeren Helmut Schmidt ersetzt wurde, kam der dazu passende Kanzler in eine Zeit, die nicht mehr so optimistisch war. Heute sieht das alles noch einmal ganz anders aus.

Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Bundeskanzler, auch nicht Willy Brandt, einen quasi eigenständigen Weg gehen könnte. Vorsicht, wie Olaf Scholz sie walten lässt, wäre das, was auch Willy Brandt bestenfalls erreichen könnte. Man kann Europa nicht, wie es bei den NDS eh üblich ist, als Vasallenkolonie der USA bezeichnen, aber noch eine Politik wie von Willy Brandt fordern. Wäre er heute Bundeskanzler, hätte er dieses Amt von Angela Merkel übernommen, von einer Generalopportunistin, die 16 Jahre lang nichts dazu beigetragen hat, dass Europa eigenständiger handeln kann. Ganz unmöglich, daraus in kurzer Zeit eine geostrategische Ausrichtung zu entwickeln, die den „Vasallenstatus“ beendet. Außerdem halte ich es nicht für sicher, dass Brandt nicht ebenfalls eher auf der Seite der Ukraine gestanden hätte. Einfach aus der Überzeugung heraus, dass sie mit mörderischen Mitteln angegriffen wurde. Wer also, wie der SPD-Politiker Wenzel, sagt, er sei kein Putinversteher, der darf nicht den Wagenknecht-Song spielen, dass der Westen an allem schuld ist, denn das ist dessen propagandistische Haltung. Es ist sowieso hpyothetisch, deswegen gehe ich einen Schritt zurück: Wäre Brandt schon sehr lange in der heutigen Zeit Kanzler gewesen, hätte er dafür sorgen können, dass es gar nicht so weit kommt? Dass Russlands Interessen so berücksichtigt werden, dass der Ukrainekrieg ausgeblieben wäre?

In den frühen 1970ern war doch die Idee nicht, dass der Westen durch Annäherung wird wie der Ostblock, sondern umgekehrt, wenn wir ehrlich sind. Demokratisierung, mehr freie Wirtschaft. Mehr Demokratie wagen, auch im Osten und durch dessen stärkere Anbindung. Ganz sicher musste Brandt das in den USA auch so darstellen, um die Erlaubnis für seine Ostpolitik zu bekommen, denn eine generische Unabhängigkeit der deutschen Politik gab es aus guten Gründen niemals, nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Fenster nach Osten durfte genau zu einem Zeitpunkt geöffnete werden, als klar war, dass die BRD ganz fest im Westen verankert ist. Ein Kompromiss, eine Konsequenz: Der Radikalenerlass von Willy Brandt. Ich darf dies machen und muss dafür jenes geben, auch wenn es viele linke Menschen enttäuschen wird und obwohl die Gefahr für die Demokratie, die von den „Radikalen“ ausging, die nicht mehr im öffentlichen Dienst arbeiten dürfte, gering war. Die wenigen Gefährlichen für andere waren terroristische Desparados, das sieht auch Wenzel so. Trotzdem kam es 1974 zu der höchst dubiosen Affäre Guillaume, dem Spion der DDR im Kanzleramt, die den Sturz Willy Brandts bedeutete. War er zu weit gegangen?

Den Fehler will Scholz, genannt der Vorsichtige, nicht machen, so viel ist klar. Aber auch Brandt hätte unter heutigen Umständen nicht aus der westlichen Phalanx ausscheren dürfen. Deswegen finde ich es besser, so viel man Scholz auch für andere Dinge kritisieren kann, ihn in diesem Fall zu unterstützen, auch, wenn er die Ukraine unterstützt. Von einer generell pazifistischen Position aus gesehen, ist das, was die Regierung tut, zu kritisieren. Im Sinne der noch halbwegs realistischeren Vermeidung von Schlimmeren, etwa durch einige Minister und sonstige Poltiiker:innen der Grünen und der FDP und deren Kriegshetze ist es besser, dass er Kanzler ist und die SPD-Parteisoldat:innen weiter für ihn kämpfen. Unter Schröder auszutreten, das wäre richtig gewesen, wenn man ein echter Sozialdemokrat ist, aber jetzt von der Stange zu gehen, sehe ich nicht als eine gute Idee an. Die SPD braucht ihre Menschen vor Ort, jetzt mehr denn je, und wir brauchen die SPD und Kanzler Scholz, damit hier nicht alles komplett aus dem Ruder läuft. Das schreibe ich als jemand, der niemals die SPD gewählt hat und einige ihrer Politiker, wie Gerhard Schröder, absolut gruselig findet. Nicht wegen seiner lächerlichen „Ich-mach-mit-Putin-den-Frieden“-Attitüde, sondern wegen seiner Verbrechen am Sozialstaat, die 20 Jahre zurückliegen. Wer das in der SPD alles mitgetragen hat, der kann nun auch Scholz dabei unterstützen, dass er im Windschatten der NATO und der USA bleibt, in einer Lage, in der keine unabhängige Politik möglich ist. Immerhin erwähnt Putin in seinen Reden „Berlin“ in der Regel nicht als einen der Hauptkriegstreiber, und das ist ein Erfolg der Vorsicht von Olaf Scholz. Ein Umstand, der hoffen oder es zumindest offenlässt, dass Deutschland irgendwann wieder eine konstruktive Rolle einnehmen kann. In der aktuellen, komplett verfahrenen Lage hätte auch Brandt das nicht gekonnt. Ob er sie hätte verhindern können? Ich wage auch dies zu bezweifeln. Die Wende von 1989 hat eine amerikanische Weltordnung zementiert, die, auch wenn es auf den ersten Blick paradox wirken mag, heute weniger Spielraum lässt als in jenen Jahren, als die Systemkonkurrenz dafür gesorgt hatte, dass die Westeuropäer von den USA mehr gepflegt und weniger offen eingehegt wurden. Damals war die Demokratie auf ihrem Höhepunkt angelangt, ebenso der allgemeine Wohlstand der hiesigen Bevölkerung. Das ist kein Zufall.

Sicherlich ist der Ukrainekrieg ein Symbol dafür, dass wir seit der Wende einen falschen Weg gegangen sind, aber auch ein Mann vom Format Willy Brandts hätte diesen nicht alleine ändern können, sondern hätte dafür ein günstigeres Umfeld gebraucht. Und nicht umgeben sein dürfen von westlichen Politikern, die immer weniger dem Idealbild von modernen Staatsmännern und -managern entsprachen, die man sich nach dem letzten Krieg von diesem Moment an und für alle Zeiten erhoffte. Ich halte es nicht einmal für sicher, dass Brandt mit einer Priorisierung der politischen Ethik und der Versöhnung, der Solidarität und eines achtsamen Umgangs mit anderen Völkern überhaupt eine Chance auf Kanzlerschaft gehabt hätte, in dem neoliberalen, geistig verarmenden, sich mehr und mehr brutalisierenden und offen wie nie zuvor von den USA dominierten Umfeld, das wir seit der Wende haben. Dieses Umfeld prägt uns alle, bringt Hass und „Alternativmedien“ hervor und wir kriegen es nicht hin, den Frieden zu wählen. Wir alle nicht, in Europa, in den USA und überall dort, wo es möglich wäre, ihn weltweit durchzusetzen. Mir würde Willy Brandt, geplagt von tausend Gewissensnöten, vermutlich permanent mit Rücktrittsgedanken unterwegs, im Korsett der geostrategischen Lage gefangen, als Kanzler eher leidtun. Bei Olaf Scholz ist dies nicht der Fall. Seine robuste Art des Maßhaltens werden wir in ein paar Jahren vielleicht als die Ära des richtigen Typus von Politiker für die Anforderungen dieser Zeit erkennen. Ich träume auch davon, wieder mehr Demokratie zu wagen und vom Frieden. Wir müssen dafür aber viel mehr selbst tun, als es zu Brandts Zeiten der Fall war, denn Menschen seines Formats gibt es in der Politik nicht mehr.  

Das Fazit?

Die Austritt aus der Linken, auch wenn vor sehr unterschiedlichem Hintergrund erfolgt sind, halte ich für nachvollziehbar. Emotional kann ich auch den SPD-Austritt verstehen, über den wir gesprochen haben. Sachlich halte ich ihn allerdings für schwierig. Bis auf ein paar kurzfristige, künstlich wirkende Gegentrendmaßnahmen verliert die SPD aber schon seit langer Zeit per Saldo Mitglieder, nach einem Zwischenhoch in den Jahren 2016, 2017 gilt das auch für die Linke. Von allen Parteien legten in den letzten Jahren nur die Grünen merklich zu, aber nicht in dem Maße, wie es nötig wäre, wenn sie das Verhältnis von Wähler:innen und Mitgliedern anstreben würden, das einst die SPD und auch die Unionsparteien hatten. Per Saldo steigt die politische Partizipation nicht, die sich in einer Parteimitgliedschaft ausdrückt. Und da muss sich  jeder selbst an die Nase fassen: Wählen reicht nicht, schon klar. Aber bei demokratischen Parteien mitmachen, ist doch immerhin die nächste Stufe, um mehr Einfluss nehmen zu können. Das gilt auch, wenn z. B. in der SPD über die aktuelle Politik im Krieg nicht abgestimmt wurde. Zuletzt war das aber bei der Wahl der Vorsitzenden Saskia Esken und Walter-Borjans der Fall. Vor allem die seinerzeit in der Spitzenpolitik unerfahrene Esken hat sich nach Startschwierigkeiten gut entwickelt und wurde immer wichtiger für die Partei. Die SPD war schon schlechter aufgestellt als aktuell mit dem Vorsitzenden-Duo Esken und Klingbeil und Olaf Scholz als Kanzler. Ausnahmsweise scheint es auch nicht so zu sein, dass die Trennung von Vorsitz und Kanzlerschaft der Partei Probleme bereitet, wie das früher der Fall war. Die SPD wirkt stabil und lässt sich auch nicht von den gegenwärtig schwachen Umfragewerten verrückt machen. Man kennt diese Abwärtstrends bis unter 20 Prozent zwischen den Wahlen ja mittlerweile und ich finde es anerkennenswert, dass Scholz angsichts seiner schlechten Zustimmungswerte nicht in populistische Panik verfällt, sondern Kurs hält.

Bei der Linken hingegen kapiert niemand den Ernst der Lage, scheint es. Das ist schlimm, denn es braucht unbedingt eine handlungsfähige Partei links von der SPD. Wer ein paar von den Akteur:innen mal live gesehen hat oder ihre Positionen kennt und die Art, wie sie diese Positionen anderen in der Partei um die Ohren knallen, weiß allerdings auch, warum so viel Sand im Getriebe ist. Das ist ein strukturelles Problem, das sich nicht ohne Weiteres beseitigen lässt. Die Linke zieht mit ihren Positionen sicher auch ein paar Idealist:innen an, aber die müssten sich ja erst einmal in diesem Minenfeld bewegen und es räumen können. Daran glaube ich im Moment nicht.

TH

   

 

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s