Der Stadtneurotiker (Annie Hall, USA 1977) #Filmfest 914 #Top250

Filmfest 914 Cinema – Concept IMDb Top 250 of All Time (109)

Einmal Beziehung und zurück

So viel haben wir noch nicht über Woody Allen geschrieben, aber „Manhattan“ von 1979 schon gepriesen. Keine Frage, dass dies eine Fortsetzung von „Annie Hall“ mit anderen ästhetischen Mitteln und einer weniger sprunghaften Zeitkonzeption ist. Anlässllich der Veröffentlichung der Rezension im Jahr 2023: Wir haben gerade „Mighty Aphrodite“ rezensiert, der aus einer späteren Schaffensperiode von Woody Allen stammt, sowie die unter der Rezension gelisteteten weiterne Filme von ihm. Nach der Handlungsbeschreibung geht es weiter mit der -> Rezension  zu „Annie Hall“. 

Handlung  (1)

Alvy Singer ist ein erfolgreicher Komiker, intellektuell geprägt, Jude und ein ziemlich neurotischer Kerl, der es sich mit Frauen regelmäßig verscherzt. Er lernt Annie Hall kennen, verliebt sich in sie und trifft mit ihr auf einen neurotischen Gegenpart. Höhen und Tiefen wechseln sich in ihrer Beziehung ab, in der sie sich gegenseitig mit ihren psychoanalytischen Weisheiten übertrumpfen. Alvy verliert auch Annie und nimmt sogar eine Reise ins verhasste Kalifornien auf sich, um sie zurückzugewinnen.

Die Besonderheit des Films besteht in seiner zeitlichen Flexibilität. Er beginnt damit, dass Woody Allen als Alvy Singer das Kinopublikum direkt anspricht, um danach in verschiedene Phasen seiner Biographie zurückzureisen und erst am Ende fazitähnlich wieder in der Jetztzeit den Film zu beschließen. Mehrere Beziehungen der Hauptfigur werden angerissen, dabei kann schon die bloße Erwähnung eines Namens zu einem Zeitsprung führen. Mehr als zwei Dutzend Zeitebenen durchreist der Film, der durch die Dialoge und die Fokussierung auf die Beziehungsleiden seiner Hauptfigur zusammengehalten wird. Als zentrale Beziehung erscheint die zu Annie Hall (Diane Keaton), die dem Publikum jedoch genauso wenig chronologisch, sondern ebenfalls sprunghaft in Episoden vorgeführt wird.

Um die Befindlichkeit seines Protagonisten zu verdeutlichen, greift Allen zu einer Vielzahl von Mitteln; so gibt es beispielsweise eine kurze Trickfilmsequenz oder Familienessenkarikaturen im Split-Screen-Verfahren. Oft kopiert ist die Szene, in der er als Erwachsener in seiner alten Schulklasse sitzt und die Überlegung „Ich frage mich manchmal, was aus meinen Mitschülern geworden ist“ dazu führt, dass einzelne Schüler nacheinander aus der Szenenhandlung aussteigen und in die Kamera ihre weitere Biographie erzählen.

Dieser Film ist also weniger eine sachlich korrekte Aufarbeitung von Geschehnissen als vielmehr die filmische Version einer Gedankenkette. Dabei gehen Realität, Gedankenspiel, verklärte Erinnerung und Gedankensprünge nahtlos ineinander über; der Film weist sie nicht explizit als solche aus.

Rezension

„Annie Hall“ hat vier Oscars gewonnen, davon allein drei für Woody Allen: Bester Film des Jahres, beste Regie, bestes Originaldrehbuch. Und Diane Keaton, die Annie Hall spielt, gewann den Oscar als beste Hauptdarstellerin. In der IMDb bekommt der Film 8,2/10, steht damit gegenwärtig (Stand 05.08.2014) auf Platz 172 der Top 250 aller Zeiten und Länder und ist, wenn man diese Wertung zugrunde legt, Allens bester Film. Ergänzung anlässlich der Veröffentlichung der Rezension 2023: Der Film hat nur noch 8/10, ist auf der Liste, an der wir uns für unser Projekt „Concept Top 250“ orientieren, noch als platziert gelistet – das stimmt aber nicht mehr. 8/10 reichen in der Regel dafür auch nicht mehr aus, es sind 8,1/10 notwendig. Er gilt weiter nach IMDb-Nutzerquorum weiter als bester Allen-Film, vor „Manhattan“ (7,8/10).

Sicher ist es sein am meisten selbstanalytischer und die Psychotherapie, mit der sowohl Annie Hall als auch Alvy Singer langfristige Engagements als Patienten haben, spielt ja auch eine wichtige Rolle. Es ist aber auch von allen Woody Allen-Filmen wohl derjenige mit der besten Synthese aus Witz, Humor, Satire und Romantik – wenn man von „Manhattan“ absieht, der letztere Komponente mehr betont, weil er sowohl der Stadt New York als auch den dortigen Menschen einen stärkeren romantischen Impetus verleiht.

Für uns geben sich beide Filme nicht viel, vermutlich deshalb, weil wir als Fans des Visuellen an „Manhattan“ Dinge entdecken, die es in „Annie Hall“ noch nicht zu bestaunen gibt. Aber was den Humor angeht und die Weisheit, die sich hinter halbgarem Intellektuellengeschwätz verbirgt, gibt es wohl keinen besseren Allen und vielleicht kaum einen besseren Film als „Annie Hall“.

Wie flach demgegenüber heutige Filme wirken, in denen Paar analysiert werden, wird uns offensichtlich, wenn wir ein paar Wochen zurückdenken, als wir „Der Gott des Gemetzels“ rezensiert haben. Okay, es mag unfair sein, Allens Originaldrehbücher, die ganz zielgenau auf ihn als Schauspieler angelegt sind, mit der Verfilmung von Stücken oder überhaupt mit etwas anderem zu vergleichen, denn es gibt wohl kaum einen auf Dialogebene individuelleren und versierteren Filmemacher als Woody Allen einer war, als er, auf dem Höhepunkt seines Könnens, „Annie Hall“ drehte. Wenn man bedenkt, dass die deutschen Dialoge weitgehend umgeschrieben wurden, weil die Witze und Anspielungen des Originals sich nicht ohne Weiteres ins Deutsche übertragen ließen und sich vorstellt, um wieviel schärfer vermutlich der Witz des Originals ist, das wir noch nicht kennen, können wir ermessen, mit welcher Urgewalt der Film selbst im vergleichsweise künstlerisch ambitionierten Zeitraum von 1965 bis 1980 auf die Zuschauer niedergegangen sein muss.

Die Zuschauer waren aber wohl vor allem Menschen, die nachvollziehen können, was Allen überhaupt meint, die Fellini kennen und Marshall McLuhan (Letzteren kannten wir nicht), die einen Allgemeinbildungszugang zu Literatur, Psychologie und Philosophie haben. Auf psychologischer Ebene gibt es wohl kaum einen Film, der so präzise und gleichzeitig voller Ironie aufs Innenleben der Großstädter schaut wie dieser. Und dass Alvy Singer neurotisch ist, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung, wenn man ihm eineinhalb Stunden zugeschaut hat, wie er sich ständig hinter seinen Witzen versteckt, wie er bindungsunfähig im Saft seiner eigenen Begrenzungen dahindümpelt, obwohl er doch das Schicksal bei den  Hörnern packen könnte, wie er hier und dort immer mehr vermutet, als dahintersteckt, wie er bei vielen Gelegenheiten seine latente Unsicherheit in sprachliche Überlegenheit konvertiert.

Bei kaum einer Rezension haben wir mittendrin bisher so lange gestoppt und nachgedacht über unser Leben in der Großstadt. Wenn das kein gutes Zeichen ist, dass der Film den richtigen Nerv trifft, was dann? Hätten wir die Rezension vor zwanzig Jahren geschrieben, hätten wir vor allem die Sprüche cool gefunden und hätten wir damals überhaupt schon journalistisch oder fiktional geschrieben, hätten wir uns vorgenommen, uns ganz viele von diesen Sprüchen zu merken, um sie unauffällig oder als Zitate kenntlich in eigene Texte einzubauen. Vielleicht tun wir das noch, hier und da und hoffentlich dort, wo es passt. Dabei zitiert Allen doch schon einen Liebling von uns, Groucho Marx, mit dem berümten Satz: „Ich würde nie in einem Club Mitglied sein wollen, der Leute wie mich aufnimmt“ und fügt sinngemäß bei: So ist mein Verhältnis zu Frauen. Was bedeutet, dass er gerne Gefühle und Bindung entwickeln möchte, aber sich selbst so wenig für geeignet hält, dass ihm das immer wieder misslingt.

Wie auch anders, wenn man schon unter einer ratternden Achterbahn aufwächst (auf Coney Island steht das Original des im Film gezeigten Fahrgeschäfts), in einer Familie, in der Disharmonie zum Programm gehört und die Mutter den Jungen zum ersten Mal mit einen Shrink in Kontakt bringt, weil dieser keine Lust mehr auf Schularbeiten hat, in der Annahme, das Universum dehne sich aus und wenn es platzt, ist eh Schluss mit allem. Auch dass er Mädchen nicht versteht, zeigt sich früh, und das resultierende Trauma, das ihn später belasten wird, das sind die Ohrfeigen, die er sich einfängt. Der kleine, nicht gerade adonishafte Mann legt sich mit der Zeit einen (oft pseudo-) intellektuellen Panzer zu und kommt im Erwachsenenalter doch immerhin zu Gelegenheiten. Die Großstadt mit ihren höchst unterschiedlichen und nicht selten schrägen Typen auch unter den Frauen macht’s möglich. Doch Alvy Singer nutzt diesen Fundus an verwandten Seelen nicht und dass diese Art von Menschen am Ausnutzen von zwischenmenschlichen Möglichkeiten oder gar im projektmäßigen Aufbau einer Beziehung scheitern, ist eine der Basis-Ironien von „Annie Hall“. Singer erwähnt zwar gegenüber Annie, dass eine Beziehung sich ständig erneuern muss, versteht aber etwas ganz Falsches darunter.

Dass es in der Regel auch die falschen Frauen sind,  mit denen er Sex und Dialoge hat, und er falsch auf sie reagiert, ist typisch für einen Neurotiker, der in der Wahl der filmischen Mittel sogar Grundzüge einer Persönlichkeitsstörung aus dem schizoiden Formenkreis, nicht nur eine Neurose andeutet. Das ständige Wechseln des Filmstils, das Aus-der-Fiktion-Treten, das wir mehrfach sehen, wenn Allen sich direkt ans Publikum wendet, wie er ständig neidisch und missgünstig und voller Beweiszwänge daherkommt und andere immer klein machen muss, um sich besser zu fühlen, dann handelt sich um einen Exzess im Bereich der Stilmittel, die der Film in seiner damals etwa 80jährigen Geschichte aufgebaut hat und mit denen man allerlei Spiegelungen vortrefflich inszenieren kann.

Aber Singer wird eben nicht glücklich dadurch, dass er gut mit Worten umgehen kann und dabei auch Annie Hall, die sicher nicht auf den Mund gefallen ist, zur Verzweiflung bringt. Er wirkt nie zentriert, sondern schrammt immer an Erkenntnissen entlang, die sich nicht in ihm festigen und zu einer mit einem Kern ausgestatteten Persönlichkeit reifen können. Woody Allen weiß ganz gewiss auch bestens, wer dieser Singer ist, denn er hat ihn seiner eigenen Person in hohem Maß nachgezeichnet.

Wie weit er dabei geht und wie kompromisslos offen alles angesprochen wird, was es an Themen zwischen Menschen gibt, das ist größeres Kino als das Blockbuster-Breitwandspektakel unserer Tage.

1977 war bereits ein Wendepunkt Jahr, denn Spielberg hatte schon die ersten Reißer wie „Der weiße Hai“ produziert (und stand mit „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ in Konkurrenz zu „Annie Hall“) und 1977 kam vor allem „Star Wars“ in die Kinos und zur Nominierung –  der erste Film der Serie, der ein X-faches von „Annie Hall“ einspielte. Nicht, dass man Woody Allen infolgedessen am Filme machen für ein erwachseneres Publikum gehindert hätte, schließlich war und ist er als Autorenfilmer ein Aushängeschild für das Studio das seine Stoffe umsetzt, in diesem Fall MGM / UA, aber würde dieser Film heute noch die Jagd nach den wichtigsten Oscars gegen „Star Wars“ gewinnen? Wir haben starke Zweifel, und dabei ist die damalige Vergabepraxis so berechtigt.

Sicher, wenn man den filmhistorischen Einfluss von „Star Wars“ unahbängig von seinen Konsequenzen einfach nur konstatiert, muss man noch erstaunter sein, denn „Annie Hall“ war nicht für technische Oscars nomniniert und wie sehr die Akademie denn doch ein Auge auf den Mainstream hat, zeigt sich darin, dass die für den besten Film nominierten Werke meist auch für technische Aspekte gepriesen werden. Der starke Akzent auf die Technik aber trifft vor allem auf aufwendige Blockbuster zu. Die Konsequenz des Einflusses von Star Wars ist aber eine Infantilisierung des Kinos durch viele Nachahmer gewesen, während die Linie von „Annie Hall“ sich außerhalb des kleinen Universums von Wood Allen und einiger Indie-Filmer heute eine kaum sichtbare, dünne Spur in der Manege des großen Kinozirkus geworden ist. Deswegen ist der Oscar als bester Film des Jahres für „Annie Hall“ noch einmal ein Ausrufezeichen am Ende einer Zeit gewesen, in der die in den 1950ern nicht immer treffsichere Academy of Motion Pictures sich in den 1960ern parallel zur Gesellschaft progressiver verhielt.

Wenn man „Annie Hall“ sieht, und das ist im besten Fall das Positive an einem Film, in dem der Regisseur auch der Hauptdarsteller und Mit-Drehbuchautor ist – bei viel Talent kann dadurch eine künstlerische Einheit entstehen wie in diesem Film, der gerade durch seine dissonant wirkende Stilistik die Person Alvy Singer so gut rüberbringt. Das Bruchstückhafte anstatt einer gereiften Gesamtpersönlichkeit von 40 Jahren, Brillanz, die immer wieder für Augenblicke funkelt, dann wieder kleingeistige und Unfähigkeit im Zwischenmenschlichen dokumentierende Aussagen. Das klassische aneinander vorbei reden hat Wood Allen ebenso auf eine neue Ebene gehoben wie den Smalltalk über Kunst und Philosophie. Wer in Autorengruppen in einer Großstadt unterwegs ist, bekommt einen Hauch davon mit, ohne dass einer der Teilnehmer sich durch ein Allensches Verständnis des mangelnden Gesamtverständnisses von kulturellen Konnotationen und dem, was uns Erdung und die Fähigkeit, uns und andere anzunehmen gibt, auszeichnen würde.

Finale

„Annie Hall“ ist für uns einer der besten Filme der 1970er Jahre, der alles einsammelt, was zum Thema Menschen in der Großstadt gesagt werden muss. Dass New York mehr als eine gewöhnliche Großstadt ist und ihre Szene mit brillanteren Köpfen besetzt als in weniger berühmten Großstädten ist, da müssen wir der einen oder anderen Kritik widersprechen, nicht von Belang. Denn auch wenn die Gespräche nicht ganz diese Schärfe und Verve haben wie in „Annie Hall“, die Maßgaben, nach denen wir uns als Menschen in einer Masse verhalten, sind ähnlich – und selbst für New Yorker Verhältnisse dürfte die Darstellung der Intellektuellen in Allenscher Manier überspitzt sein. In einer Welt, in der bereits die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen in städtischen Agglomerationen lebt, hat der Film eine über seinen Spielort hinausgehende Relevanz. Das Interessante ist, dass man, wenn man ihn rezensiert, entweder ganz tief in jeden Satz einsteigen muss oder auch in Gefahr ist, Halbheiten und Pseudokenntnisse zum Besten zu geben. Da uns für ein großes Essay im Moment die Zeit fehlt, nehmen wir „Annie Hall“ in die neue Digital-Anthologie der Besten unter den Guten auf und befassen uns vielleicht eines Tages noch einmal mit dem Film, indem wir diese Rezension überarbeiten oder eine neue verfassen.

91/100

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

Mittlerweile haben wir von Woody Allen rezensiert und veröffentlicht, weitere Rezensionen sind noch im Archiv geparkt und werden gemäß Pulikationsplan erscheinen, darunter auch die oben erwähnte Besprechung von „Manhattan“:

Mighty Aphrodite
Play It Again, Sam
The Purple Rose of Cairo
Broadway Danny Rose

Regie Woody Allen
Drehbuch Woody Allen,
Marshall Brickman
Produktion Charles H. Joffe,
Jack Rollins
Musik Carmen Lombardo,
Isham Jones
Kamera Gordon Willis
Schnitt Wendy Greene Bricmont,
Ralph Rosenblum
Besetzung


 

 

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