Opium #Filmfest 706 (DE 1919) #DGR

 Filmfest 706 Cinema – Die große Rezension

Opium ist ein 1919 veröffentlichtes deutsches Stummfilmdrama von Robert Reinert mit Eduard von WintersteinWerner Krauß und Conrad Veidt in den Hauptrollen.

Kennen Sie „Nerven“ Robert Reinert? Ich auch noch nicht, aber in Bälde werde ich mir diesen wichtigen Film anschauen. Der direkte Vorgänger dieses Werkes ist „Opium“, der noch im Ersten Weltkrieg entstand und kurz danach uraufgeführt wurde. Er zählt  zu den „Großfilmen“, die in jenen Jahren mehr und mehr begannen, die Leinwand zu erobern. Heute ist er nicht mehr ganz so groß, mehr als 15 Minuten fehlen von seiner ursprünglichen Länge und einen Director’s Cut wird es wohl niemals geben, aber die F.-W.-Murnau-Stiftung, die alle deutschen Filme bis 1945 verwaltet, hat ihm eine ansehnliche Restaurierung angedeihen lassen. Das Ergebnis besprechen wir in der -> Rezension.

Handlung[1]

Gegen Ende seines Forschungsaufenthalts in China, bei dem er sich intensiv der Untersuchung der Wirkung der Droge Opium gewidmet hat, erfährt Professor Gesellius von Nung-Tschang, dem Besitzer einer Opiumhöhle, der angeblich eine besonders wirksame Sorte der Droge in seinem Sortiment haben soll. Dort angekommen, erzählt der Chinese dem Europäer folgende Geschichte: Nung-Tschangs Ehefrau hatte einst eine heimliche Affäre mit einem Europäer gehabt und brachte daraufhin ein uneheliches Kind zur Welt. Außer sich vor Zorn, ermordete Nung-Tschang daraufhin seine Frau und nahm das Kind zu sich. Der europäische Ehebrecher wurde von ihm als menschliches Versuchsobjekt missbraucht, um an ihm die Wirkung seines speziellen Opiums zu erforschen.

Gesellius lernt anschließend die junge Chinesin Sin kennen. Sie bittet den Professor flehentlich, sie aus Nung-Tschangs Fängen zu befreien. Erst später soll der Opiumforscher erfahren, dass es sich dabei um jenes Kind handelt, dessen Mutter Nung-Tschang in seinem Eifersuchtsanfall getötet hatte. Gesellius nimmt Sin zu sich und verlässt mit ihr Hals über Kopf China. Doch auch Nung-Tschang hat sein Heimatland verlassen und ist den beiden dicht auf den Fersen. Als er des Professors soeben eröffnete Klinik betritt, muss er glauben, dass sich seine Geschichte auf dramatische Weise wiederholt, denn ein weiteres Mal hat ein Europäer ihm seine Frau fortgenommen, und diesmal auch noch Sin, die er als sein Eigentum und Pfand betrachtet. Nung-Tschang kennt keine Skrupel bei der Suche nach Rache. Er kennt die fatale Wirkung seiner Opiummischung und will Gesellius damit süchtig und abhängig machen – genauso, wie er es einst mit Sins Vater getan hat.

Auch Professor Gesellius‘ Leben scheint seit seiner Heimkehr auf den Kopf gestellt. Nichts ist so wie vorher. Seine Frau Maria ist ihm untreu geworden und das ausgerechnet mit seinem Lieblingsschüler Richard Armstrong. Dann taucht auch noch Richards lange Zeit verschollen geglaubter Vater auf. Dieser ist komplett opiumabhängig und wird, unter falschem Namen, von dem Professor in seiner Klinik untergebracht. Als Vater Armstrong Sin begegnet, die hier als Krankenschwester Magdalena Dienst tut, erkennt er das Mädchen, das er einst mit Nung-Tschangs Ehefrau gezeugt hatte. Richard Armstrong ist verzweifelt, weil er einerseits seinen Mentor und Arbeitgeber Gesellius verehrt, andererseits liebt er dessen Fau Maria. Bei einem von ihm inszenierten Reitunfall verletzt er sich schwer und kann nicht mehr sprechen. Er hinterlässt einen Abschiedsbrief in einem Medaillon, das Gesellius‘ Tochter gehört und nimmt sich mit Gift das Leben. Gesellius hat in der Zwischenzeit in einem Opiumrausch den Traum, dass er Armstrong aus Eifersucht tötet und kann sich nach dem Rausch nicht mehr erinnern, ob seinen Plan in die Tat umgesetzt hatte oder es nur ein Traum war. Von Zweifel und Schuld geplagt, nimmt er einen Auftrag zu weiteren Forschungen in Indien an. Sein treuer Diener Ali, Magdalena und heimlich auch Nung-Tschang folgen ihm. (…)

Zeitgenössische Kritiken²

„Mit Freude ist festzustellen, daß Robert Reinert es verstanden hat mit seinem Monumental-Filmwerk „Opium“ einen Film zu schaffen, der als ein Meisterwerk deutscher Filmkunst anzusprechen ist und keine ausländische Konkurrenz zu scheuen hat. Eine sich logisch aufbauende Handlung wird hierbei denkbar phantasiereichster Ausnützung aller Filmmöglichkeiten in geschmackvoller Weise erstklassig dargestellt. (…) Es ist eine überaus reiche, vielverzweigte Handlung, die durch Phantasiegebilde der Opiumträume, die großen Schauszenen in China und Indien und durch die Schreckensbilder in den Dschungeln noch buntbewegter wird. Dennoch spinnt sich ein sicherer Faden durch die ganze Handlung und eine besondere Note dieses Filmwerkes ist es, daß überall die künstlerisch vornehme Linie mit Sorgfalt gewahrt wurde, was besonders bei den empfindsamen Bildern in den Opiumträumen in die Augen fällt. Die Darsteller wurden mit großem Geschick an den richtigen Platz gestellt, besonders von Winterstein als Professor Gesellius und Hanna Ralph als Maria haben ihre schönen Aufgaben mit erfreulichem Gelingen durchgeführt.““ – Heinz Schmid-Dimsch in Der Film, Nr. 2 vom 11. Januar 1919

„Im Kern eine gut durchdachte und exakt durchgeführte Handlung, das Beiwerk effektvoll bis ins Kleinste, mit großem Kostenaufwand aufgebaut, von vollendeter Technik und niemals langweilend. Zugleich ein Aufklärungs-Film, der uns vor den schrecklichen Folgen jenes zerrüttenden Giftes eindringlich warnen will. Hier werfen wir einen Blick in die Lasterhöhlen Indiens und Chinas, dort sehen wir prächtige, indische Feste mit großartig gestellten Massenszenen, da wieder die Könige der Tierwelt in unübertrefflicher Natürlichkeit. (…) Die Traumphantasien des Opiumrauchers gaben der Regie Gelegenheit, die technische Vollkommenheit unserer Apparate in einigen wunderbaren Szenen, bei denen etwas reichlich viel Nacktkultur getrieben wurde, zu beweisen – Hanna Ralph als das nach Liebe dürstende Weib aus der „Gesellschaft“, das sich, vom Gatten vernachlässigt, dessen Lieblingsschüler in die Arme wirft, und entsetzliche Seelenqualen erduldet; Eduard von Winterstein als Professor, der seine Gattin in Wahrheit heiß liebt, den Konflikte zwischen Beruf und Liebe zur Verzweiflung, treiben und der im Opiumrausch Vergessenheit sucht; Sybill Morel als das unglückliche Opiummädchen Sin, später als Schwester Magdalena, die ihrem Erretter in fast hündischer Liebe ergeben ist; Werner Krauß als der um seine Liebe betrogene und sich an jedem Europäer dafür rächende Opiumhöhlenbesitzer Nung-Tschang; Conrad Veidt als des Professors Lieblingsschüler – sie alle sind in Maske und Darstellung lebenswahre, trefflich gezeichnete Gestalten, die man so leicht nicht vergessen wird.““ – Lichtbild-Bühne Nr. 5, vom 1. Februar 1919

„Der deutsche Filmmarkt ist wieder um ein monumentales Filmwerk reicher und damit um eine Arbeit, welche seine Bedeutung für den Weltmarkt charakterisiert und – vergrößert. Denn dieses „Opium“ Robert Reinerts ist an Stil und Größe ein internationales Gebilde. Nicht etwa nur darum, weil seine Handlung in China, England und Indien spielt …, sondern weil die nichteuropäischen Bilder wahrhaft asiatisch anmuten… weil die Sorgfalt der Regie zu Leistungen anzuspornen verstand, die weit über dem Durchschnitt stehen… weil die Photographie mit ihrer eigenartigen Technik Bilder hergab, wie sie in Deutschland noch nicht gesehen wurden, und die auch für das Ausland ein Novum bedeuten dürften…“.“ – C.B in der Film, Nr 7. vom 15. Februar 1919

Rezension

Die heutige Bewertung der IMDb-Nutzer:innen ist erheblich nüchterner als das, was man oben lesen kann: 5,8/10. Nun könnte man sagen, wie der Film selbst, war auch die Kritik desselben noch im Entstehen, als „Opium“ herauskam und 1919 ist insofern ein wichtiges Jahr, als in Deutschland der „Großfilm“ geradezu erblühte. Wir haben es schon am Beispiel von „Madame Dubarry“ von Ernst Lubitsch erklärt, der allerdings nicht so gewöhnungsbedürftig ist wie „Opium“. Allgemein wird der Auftakt des expressionistischen deutschen Films zwar auf das Jahr 1920 datiert, als „Das Cabinet des Dr. Caligari“ und „Der Golem, wie er in die Welt kam“ – sic! – das Licht der Welt erblickten bzw. flackernd die Leiwand beleuchteten, aber insbesondere der Nachfolger von „Opium“, Robert Reinerts „Nerven“ gilt als ein Kleinod des filmischen Expressionismus, das in den letzten Jahren wiederdentdeckt wurde – und dieser entstand ebenfalls vor den beiden zuvor genannten Filmen. Ich habe mir „Opium“ nun zur Vorbereitung auf den Schocker angeschaut, der alsbald verboten wurde, weil die vom Krieg traumatisierten Menschen beim Anschauen dieses Films reihenweise umgekippt sein sollen.

„Opium“ wurde noch vor Kriegsende gedreht und spiegelt das nicht so deutlich oder direkt, was das Urtrauma des 20. Jahrhunderts genannt wird. Seine Opiumträume sind sogar eher elysisch bzw. wären es, wenn nicht auch der oder die Teufel darin herumhüpfen würden. Die hübschen (teilweise barbusigen!) Frauen sind die Verlockung, doch die Strafe folgt auf dem Fuße, denn Opium ist Teufelswerk. Was man 1919 gemäß Kritik noch als Aufklärungsfilm apostrophieren konnte, ist jedoch, sagen wir mal, eher unwissenschaftlich-romantisch und transzendiert die Dichotomie von Schuld und Verlangen für uns, die nicht nur aus der rigiden Moral der Vorkriegszeit erwuchs, sondern durch den Krieg zusätzlich an Schärfe und eine weitere Dimension gewonnen hatte.

Demgemäß rekurriert nach meiner Ansicht der Film darauf, dass der große Krieg ein böses Ende nehmen wird und man sich angesichts der horriblen Wirklichkeit und des Abgrunds zwischen allerbestem Willen und der Vernichtung aller Ideale nur noch in einen Rausch flüchten kann. Damit gleich klargestellt wird, Opium sollte es nicht sein, endet der Film tragisch, mit einer zerrütteten Hauptfigur, die doch nur den Menschen das Glück bringen wollte, mit ihren Forschungen, und daran zerbricht. Wer darin eine Allegorie auf das stolze Vorkriegsdeutschland mit seinen weltweit führenden wissenschaftlichen Errungenschaften und der Zerstörung dieser Träume vom Wesen, an dem die Welt genesen soll, sehen möchte, darf das gerne tun. Vorsichtshalber hat man den Film nicht eindeutig hierzulande angesiedelt, die Figuren tragen zum Beispiel auch englische Namen, die Polizisten keine preußischen Uniformen, Indien und China werden kolonialistisch eher mit Großbritannien konnotiert. „Gesellius“ hingegen ist ein typischer Name, wie er für Charaktere deutscher Provenienz mit akademischem Hintergrund und daher mit lateinischer Endung gerne verwendet wird, man denke u. a. an Dr. med. Hiob Praetorius, seine Frau heißt auch Maria, nicht etwa Mary. Vielleicht ist es auch eine Art paneuropäische Idee, die dahinter steckt und die Gefahren, die im gelben Reich der Mitte lauern, gehen alle etwas an.

Ob man den Film deswegen als rassistisch bezeichnen kann, war 1919 noch kein Thema, wie man den obigen Kritiken entnehmen kann, aber der rachsüchtige Nung-Tschang, gespielt von Werner Krauß, der ein Jahr später auch den Caligari gegeben hat, ist schon eine dämonische Figur, die Klischees bedient, anders hingegen der aufopferungsvoll treue Inder, der zwar als Lakai gezeigt wird, aber die   Faszination der Deutschen für Indien spiegelt, wie sie sich auch in Filmen à la „Das indische Grabmal“ ausgedrückt hat. Nun kommt es darauf an, ob man Nung-Tschang mehr als Individuum ansieht, das eben rachsüchtig ist oder als typischen Vertreter eines Volkes, das man mit äußerster Vorsicht genießen muss, falls überhaupt, und wenn, dann möglichst nicht dadurch, dass man eine Opiumhöhle besucht, in der es noch besseren Stoff gibt als anderswo. Blöd, dass das heute wieder so aktuell geworden ist, dieses sibyllinische Wesen. Dabei ist es das gar nicht, es hängt vielmehr vom herrschenden System ab, wie die Politik eines Landes auf andere Länder einwirkt.

Über den Regisseur gibt die Wikipedia recht wenig Auskunft, auch nicht über die Idee zu „Opium“, wie sie entstand und was der Filmemacher damit bezweckte. Dass er große Filme machen wollte, liest sich aus dem Namen der Produktionsgesellschaft heraus, die er gegründet hatte und die es wohl u. a.  mit der führenden PAGU von Paul Davidson aufnehmen sollte, die u. a. den erwähnten Ernst Lubitsch unter ihren Fittichen hatte. „Opium“ hält, was die Unterschrift unter jeden der sechs Akte klarstellt: Es handelt sich um einen monumentalen Film, für seine Zeit. Und er ist künstlerischer ausgeprägt als US-Monumentalfilme, die es damals ebenfalls gab und vielleicht abgesehen von „Intolerance“ von D. W. Griffith. Die Dekors von „Opium“ sind noch nicht expressionistisch, also auf Verfremdung angelegt, aber das Spiel ist höchst interessant.

Es ist sogar ökonomisch: Man sieht eine Aktion wie den Verrat an Nnung-Tschangs Liebe durch Richard Armstrong senior und gleichzeitig die Reaktion des chinesischen Opiumhöhlenbesitzers darauf. Das wiederholt sich in weiteren Szenen, sodass mehr Menschen im Bild sind, als realistischerweise darin sein dürften, mit dem Effekt, dass sehr viel Zeit gespart wird: Aktion und Reaktion in derselben Einstellung. Darauf muss man erst einmal kommen und dafür dürfte es im Film zu der Zeit nicht allzu viele Vorbilder gegeben haben. Die Szenen wirken dadurch sehr lebendig, fast wie lebende Bilder nach klassischen Malern, die ja auch alles, was eine Geschichte aussagen oder was sie ausmachen soll, in ein einziges Bild packen mussten, sofern sie kein Daumenkino produzieren wollten (oder eine Reihe von Gemälden, aber auch solche Reihen, wie man sie oft als Deckengemälde großer Bauwerke sieht, erzählen in geraffter Form). Gewöhnungsbedürftig ist das schon, die zeitgenössische Kritik erfreute sich daran und mit heutigen Sehgewohnheiten scheint es nicht zu harmonieren, auch das könnte ein Grund für die (zu) niedrige Bewertung des Films seitens der IMDb-Nutzer:innen sein.

Was daraus folgt, ist allerdings auch ein sehr theatralischer Stil, ohne jede Ironie vorgetragen, ganz anders als die lockere Hand, die Lubitsch auch bei tragischen Stoffen zeigte, die er etwa in jenen Jahren adaptierte oder erschuf. Reinerts Film ist typisch deutsch, könne man sagen. Die Gefühle sind groß und ganz und gar, nicht gebrochen, nicht relativiert. Man mag denken, für so viel Differenzierung war doch bei dem Stil der Zeit gar kein Platz, aber da verweise ich wieder auf Lubitsch und natürlich auf alle, die es ihm nachmachten, wie Billy Wilder. Es wäre allerdings verfehlt, aus diesem Unterschied einen qualitativen Abstand herausschälen zu wollen. Es kommt darauf an, ob man gewillt ist, Reinert zu folgen, auch wenn es hin und wieder zu Überraschungslachern kommt, wie es bei mir der Fall war, während sich andere Filmemacher elegant auf der sicheren Seite bewegen. Oder auch: Reinert steht Murnau näher als Lubitsch und auch näher als Fritz Lang, bei dem man sehr wohl den Eindruck hat, er übertreibt gerne absichtlich etwas, damit alles nicht zu bierernst wirkt, sondern vor allem effektvoll. Dass Reinert nicht die Reputation dieser Größen hat, liegt wohl zum einen daran, dass er bereits 1928 verstarb und daran, dass „Nerven“ so kontrovers war, dass er sich danach wohl keinen weiteren Film dieses Kalibers mehr zu produzieren getraut hat. Dabei hätte es so weitergehen können, denn in „Opium“ arbeitet er mit einigen der Topdarsteller im damaligen Film. Nicht zufällig hatten zwei davon anschließend in „Das Cabinet des Dr. Caligari“ die Hauptrollen inne. Ebenfalls beeindruckt hat mich Sibyll Morel als „Opiummädchen“, das zur Krankenschwester bzw. Pflegerin umfunktioniert wird und einen Opfergang gehen möchte, denn so schattig ihre Herkunft, so rein ihr Herz. Die Verwandtschaftsverhältnisse sind in „Opium“ ohnehin recht komplex und auch logisch dargestellt: Vergebung resultiert am Ende mehr aus dem Erkennen darüber, wie alles zusammenhängt und als Ergebnis der aufgeeckten Blutsbande als einer Art „Schwamm drüber“ über die Taten einzelner Personen, die Fehler gemacht haben.

Finale

Fasziniert war die seinerzeitige Kritik auch von der Pracht des Films bzw. den orientalischen Szenen darin. Das kann ich nachvollziehen, auch wenn es in den Folgejahren zu immer neuen Abenteuern gekommen ist, die das in den Schatten gestellt haben, was man hier sieht. Fritz Langs „Die Spinnen“ beispielsweise ist solch ein früher „Indiana-Jones-Film“ und erschien ebenfalls 1919 (der erste Teil, der zweite im Folgejahr). Das Kino blühte ausgerechnet im Moment des Untergangs des Kaiserreiches mächtig auf, diesen erstaunlichen Effekt hatten wir bereits bei früheren Rezensionen erwähnt und wir sind mitten in den Jahren, in denen dies geschah. Da ist auch etwas, das zumindest ich noch als Teil des Bewusstseins spüre, aus dem vieles entstanden ist, was wir heute sehen. Man kann neuere Filme rezensieren, ohne dieses Werden des Kinos verfolgt zu haben, aber Letzteres ist besser, denn in den 1920ern wurden schon alle wesentlichen Genres geformt, die wir heute kennen, so auch das exotisch-europäische Melodram, das wir hier sehen.

Man sieht nicht immer alles, was man in einem auf übliche Weise konstruierten Film zu sehen gewohnt ist. Aber die heutige Fassung von „Opium“ ist fast 20 Minuten kürzer als das Original und darauf dürften verschiedene Sprünge zurückzuführen sein. Vielleicht erschließt sich erst aus der Berücksichtigung der Verkürzung, warum Nung-Tschang immer so unvermittelt auftaucht, vielleicht ist gerade dies aber auch eine Fehlannahme und es soll so abrupt wirken, um das Dämonische und Unbeugsame der Person zu illustrieren: Wo immer ihr hingeht, ich folge euch mühelos und die Rache ist mein. Ansonsten wäre es nämlich doch üblich gewesen, dass man seine Überfahrt nach Europa kurz zeigt und wie er zu den Informationen kam, die es ihm ermöglicht haben, die Menschen, denen er nachstellt, immer wieder genau dann aufzufinden, wenn es für ihn wichtig ist. Einige Kameraperspektiven sind herausragend, für jene Zeit, zum Beispiel, wie Gesellius Vorträge hält und man ihn und im Hintergrund das Publikum gleichzeitig sieht, sodass der Film in diesen Szenen eine große Plastizität gewinnt. Diese Kadrierung mit Großaufnahme im Profil, Pult und Trinkglas darauf und noch erkennbarem belebtem Hintergrund war ihrer Zeit ganz hübsch voraus.

Wenn man den Film nicht einfach als Warnung vor dem Opium verstehen will, sondern der Spur folgt, auf ich vorhin eingeschenkt bin, ist er vor allem eine Warnung an ein niedergedrücktes Volk, das sich in Figuren wie Gesellius oder seiner Frau ausdrückt, die von Verlust und Melancholie gezeichnet sind, von Abwendung aus dem wichtigen Persönlichen und der Unmöglichkeit, die Welt im Alleingang zu verbessern, dann ist er eine Aufforderung dazu, sich der Wirklichkeit zu stellen und nicht den Anschluss ans Leben zu verpassen, weil die Träume zu groß waren, um der Realität weichen zu dürfen. Die Suchtklinik von Dr. Gesellius ist allerdings ein Ort, der richtungweisenden Charakter hat, denn hier wird liebevoll gepflegt, weil man das Wesen der Sucht erkennt: Einsamkeit, Verzweiflung, ein Mangel an Lebensmut. Gesellius kann man durchaus bereits als depressiv bezeichnen, als er nach Indien fährt bzw. flieht, und das kann angesichts der Versuchungen, die auch in diesem Land auf ihn warten und einer Person, die seine Schwäche auszunutzen gedenkt, nicht gutgehen. Das Spiel ist zwar am Theater orientiert und über zwei Zwischentitel habe ich mich etwas amüsiert, weil sie überflüssig sind: Da hat der Regisseur wohl nicht der Kognition des Publikums getraut, als er nämlich ausnahmsweise keine Dialoge oder Erklärungen, sondern innere Zustände wie „intuitive Feindschaft“ (oder ähnlich) textlich festgehalten hat, obwohl genau das im Bild schon sehr gut zu erkennen ist. Die Rivalität der Frauen ist in dem Fall gemeint. Doch die Psychologisierung der Figuren ist schon sehr ausgereift und man könnte heute vieles, was man sieht, mit Begriffen aus der Psychologie benennen, damals war es (hoffentlich) einfach nur packend, dem Verhängnis zuzuschauen, wie es seinen Lauf nimmt. Ob es so sein musste, wie im Film noir üblich? Weil das Schicksal es so wollte? Die vielen Verkettungen könnten darauf hindeuten, aber eindeutig ist es nicht.

74/100

© 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Regie Robert Reinert
Drehbuch Robert Reinert
Produktion Robert Reinert Monumental-Film-Werk, Berlin
Musik Isaak Polischuk
Kamera Helmar Lerski
Besetzung
·         Eduard von Winterstein: Prof. Gesellius
·         Sybill Morel Sin / Magdalena
·         Werner Krauß: Nung-Tschang
·         Hanna Ralph: Maria Gesellius
·         Conrad Veidt: Dr. Richard Armstrong
·         Friedrich Kühne: sein Vater
·         Alexander Delbosq: Ali
·         Sigrid Hohenfels: Opiummädchen
·         Loni Nest: Kind

[1]/², kursiv, zitiert, tabellarisch: Opium (1919) – Wikipedia

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