16.02.2022, Briefing-Timeline 4 (hier zu Nr. 3 mit Update, vom 15.05.2022)
Corona
Die Inzidenz geht bundesweit zurück, von vorgestern 477 auf 452 auf 439. Der positive Trend setzt sich maßvoll fort mit einer 7-Tage-Rückgangsrate von knapp 2 Prozent. Mehr dazu in unserm Corona-Kurzreport von vorgestern (106/22).[1]
Weizen für die Welt oder nicht
Russland versucht offenbar auf unterschiedliche Weise gezielt, die Welt auszuhungern, so kommt es jedenfalls in vielen Nachrichten rüber („Weizenklau in der Ukraine“) u. a., oder Nahrungsmittel gezielt an die wenigen Verbündeten umzuleiten. [2], Derweil hat Indien, offiziell in Erwartung einer schlechten Ernte,[3] einen Exportstopp verhängt und der Weizenpreis an den Märkten explodiert. Für uns ist diese Entwicklung ein weiterer Vorbote für die Verteilungskämpfe zulasten der Ärmeren, die der Welt bevorstehen. Wasser wird dabei ebenfalls eine eminent wichtige Rolle spielen. Der Hunger wird wieder zunehmen. Aber nicht, weil die Menschheit (sofern ihre Zahl sich mal irgendwann endlich stabilisiert) nicht zu ernähren wäre, sondern weil künstlich an der Knappheit geschraubt wird. Was in der Ukraine und in Russland passiert, ist rein politisch und ob Indien nicht bloß Kapital aus dieser Lage schlagen und Weizen zu Überpreisen verkaufen will, darf man sich ebenfalls fragen. Die Spekulation an den Märkten tut ein Übriges, um die Probleme zu steigern, weil sie natürlich diesem Trend folgt und für weiteren Preisauftrieb sorgt. Wer diese Form von Marktwirtschaft gut findet, hat eine verbrecherische Mentalität. Und damit zu weiteren Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und damit weiter im Thema.
Die größten Sorgen der Menschen hierzulande[4]
Ist es der Ukraine-Krieg, der den Menschen am meisten Sorgen bereitet? Nein, überraschenderweise nicht. 34 Prozent tendierten aber immerhin dazu. Nur noch 8 Prozent sehen die Pandemie als den größten Sorgenbringer an. Doch nicht weniger als 40 Prozent haben Angst vor der grassierenden Inflation. Zwei Drittel der Befragten dieser Umfrage haben angegeben, ihr eigenes Einkaufsverhalten bereits geändert zu haben und auf den Energieverbrauch (mehr) zu achten. Brav, die Bevölkerung, oder? Aber ob das so bleibt, wenn wir nicht, wie heute, die letzte Flasche Sonnenblumenöl bei unserem Markt um die Ecke abgrasen konnten, sondern, wie letzte Woche, in drei verschiedenen Geschäften gar nicht mehr fündig wurden? Wie wir unser Einkaufsverhalten zu professionalisieren versuchen, wohl wissend, dass wir damit bald an Grenzen stoßen werden, wenn die massive Teuerung weiter anhält oder sich gar weiter beschleunigt, haben wir in unserem letzten Beitrag zur Inflation erläutert. Komisch auch: Die Menschen bibbern, aber die Verantwortlichen werden nicht durch Abstrafung bei Wahlen zur Rechenschaft gezogen. Siehe gestern in NRW. Nicht wählen ist übrigens erst gar keine Lösung, auch wenn wir alle wissen, dass wir der Politik, auch wenn wir Millionen sind, in Relation zu einigen Millionär:innen ziemlich blunze sind. Und damit weiter im Thema.
Der heutige Trend: #IchBinArmutsbetroffen – Twitter Suche / Twitter
Lange ist es her, dass Menschen in diesem Land, die von Armut betroffen sind, ihre Scham überwanden und sich outeten. Wenn wir richtig orientiert sind, geschah das, als „Hartz IV“ eingeführt wurde und es zu Protesten kam. Wir mussten richtig lachen, angesichts dieser Übersicht der Süddeutschen Zeitung: Hartz IV: „Ohne Sanktionen tanzen uns Empfänger auf dem Kopf herum“ – Wirtschaft – SZ.de (sueddeutsche.de)
Klassismus und Diskriminierung durch Ämter und den misanthropischen Menschentyp, der sich dort offenbar gerne ansiedelt und der übliche Von-oben-herab-Journalismus mal wieder voll at Work. Das BVerfG ist mitschuldig an den Sozialverbrechen der Regierungen Schröder und Merkel, weil es Sanktionen unter das Existenzminimum für zulässig erklärt hat. Die Schäden reichen über Hartz IV hinaus, denn damit wurde der Wert des gesamten Grundrechte-Katalogs des GG zur Disposition der herrschen Klasse gestellt. Wer Art. 1, Die Würde des Menschen, so mit Füßen tritt, wie die Politik es mit der heutigen „Sozial“-Gesetzgebung tut, kann nicht mehr glaubhaft machen, dass die folgenden Normen noch Geltung haben und das schadet massiv dem Vertrauen in die Demokratie. Da Art. 1 Ewigkeitsgarantie hat, höhlt man ihn eben aus, wenn er nicht mehr passt. Das Eigentumsrecht hat übrigens keine Ewigkeitsgarantie, ist aber das absolute, das Meta-Dogma, in diesem zunehmend korrupten System.
Zur Hartz IV zurück: Richtig wäre es vielmehr, Wohlverhalten, Eigenanstrengungen durch Boni zu privilegieren und den Missbrauch zu bekämpfen, als wieder einmal pauschal auf die Ärmsten einzudreschen, aber sich nicht an die Abzocker:innen heranzutrauen. Allgemein typisches Berliner Verhalten, kennen wir. Immer auf die, die sich nicht wehren können.
Zu jenen gehören auch Menschen, die möglicherweise dieses System viele Jahre lang durch ihre Steuern und ihre Tätigkeit gestützt haben. Es kann ganz schnell gehen, dass jemand, der ganz normal gearbeitet hat, in Hartz IV landet, z. B. durch eine länger andauernde Erkrankung, die ihn aus dem Beruf drängt. Besonders bei Selbstständigen geht das ratzfatz, weil es keinen Zeitpuffer durch Krankengeld und ALG I gibt. Wer noch keine Möglichkeit hatte, massiv Vermögen aufbauen, sitzt sofort in der Falle und wer schon etwas dafür tun konnte, muss es erst einmal bis zu einem lächerlich niedrigen Restwert hin aufbrauchen, bevor er überhaupt Unterstützung erhält.
Egal, wie es diesen Menschen dann geht, sie werden mit einer strikt autoritären Behörde konfrontiert, die sie grundsätzlich als Delinquenten, nicht etwa als „Kunden“ ansieht und zu dem persönlichen Unglück, das mit einer solchen Abdrängung aus der bisherigen Tätigkeit regelmäßig verbunden ist, mit einem gesellschaftlichen Stigma versehen und von vorne bis hinten drangsaliert. Wer diese permanenten Demütigungen nicht aushält und seinem Leben selbst ein Ende setzt, dessen unsterbliche Seele darf von wo auch immer dabei zusehen, wie auf dem Amt ein Korken knallt: Wieder eine:n zur Strecke gebracht.
Bei dem heutigen Hashtag darf es nicht bleiben, aus diesem Ansatz muss endlich eine mutige Bewegung werden. Hoffentlich erkennen wenigstens ein paar nicht ganz so verpeilte m. o. w. linke Politiker:innen diese Möglichkeit. Soziologisch betrachtet, ist die folgende Anmerkung viel zu kurz, das wissen wir, aber sie muss sein: Es geht auch darum, zu begreifen, dass man das Spiel der Mächtigen nicht mitmachen darf, sich als arbeitender Mensch des Prekariats, der unteren oder mittleren Mittelschicht gegen die Armen in Stellung bringen zu lassen, anstatt zu überlegen, wie man selbst in Relation zu den leistungslosen Superreichen gestellt ist und endlich politische Konsequenzen daraus zu ziehen.
Die NRW-Wahl hat leider gerade wieder gezeigt, wie schwer das den Menschen zu vermitteln ist. Leider liegt es nicht nur an ihnen und daran, wie sie nun schon fast eine Generation lang behandelt werden, sondern auch daran, wie linke Politik in diesem Land generell vermittelt wird: Es ist nur noch zum Fremdschämen. Und damit zur NRW-Wahl.
Wahlen in NRW
Die professionellen Wahlanalytiker sind am Werk und wir haben ein paar Stimmen für Sie zusammengetragen.
Merz: „Die CDU ist zurück“ – Der Wahlabend in NRW in Zitaten | WEB.DE
Welche Bedeutung das Ergebnis der Landtagswahl in NRW für die Bundesparteien hat | WEB.DE
Analyse: NRW-Wählermehrheit will neue Koalition – Landespolitik – Nachrichten – WDR
In der Analyse heißt es, in der Bundesregierung sei das marktwirtschaftliche Elemente nicht zu erkennen. Welch ein Unsinn, mit Verlaub Anfangs dominierte die FDP als kleinster Koalitionspartner die Szene komplett, erst seit dem Ukraine-Krieg ist klar, dass man es nicht einfach so marktwirtschaftlich laufen lassen kann, ohne die Menschen wenigstens ein bisschen zu entlasten. Andere Länder in der EU greifen gerade viel stärker in die Wirtschaft ein, um die Bevölkerung einigermaßen vor den Folgen eines ganz sicher nicht von ihr verursachten Krieges zu schützen. Deutschland ist das neoliberalste Land in ganz Europa und damit auch eines der neoliberalsten Länder weltweit. Aber vom Elfenbeinturm der einen oder anderen Uni aus kriegt man vermutlich die desaströsen Auswirkungen dieser Politik auf den Zustand der Gesellschaft nicht so mit oder ist mit den Thinktanks verbunden, die am liebsten sämtliche Rechte der Menschen gegenüber einem letztlich vollkommenen Ausbeutungsdurchgriff der „Wirtschaft“ schleifen möchten. Gerade für NRW mit den vielen Menschen, die in großindustriellen Strukturen tätig waren, wäre die neoliberale Medizin des puren Individual-Egoismus das pure Gift, gerade sie brauchen eine mehr kooperative Konversion der Wirtschaft.
Der hoffnungsvollste Ansatz: Die Grünen wollen NRW zur ersten klimaneutralen Industriezone Europas machen und damit zu einer Futurezone (Ricarda Lang sinngemäß gestern Abend bei Anne Will). Dann mal los, auf so etwas warten wir ja schon so lange, im Interesse unserer Freund:innen in NRW und von uns allen. Es wäre das erste Mal, dass eine Industrieregion die Konversion aus dem Niedergang riesiger Altindustrien heraus, in dem Fall als immer noch größte Industrielandschaft Europas, wirklich schaffen würde und insofern zukunftsweisend über NRW und über Deutschland hinaus. Wenn das mit der CDU gelingen soll, muss aber mehr Druck gemacht werden als gerade in der Bundes-Ampel, wo man offenbar gar nicht so gram darüber ist, dass man durch den Krieg erst einmal an mehr Nachhaltigkeit und mehr sozialer Politik gehindert wird.
Der beste, weil unumstößlich wahre Satz: Die Linke muss sich erneuern. Das gilt schon, seit wir sie kennen, bisher hat sie es in der Zeit als Auftrag zu Lean Cusine verstanden, wenn es um Wahlergebnisse ging. Dass sie in Berlin (AGH-Wahlen September 2021) noch zweistellig ist, verdankt sie hauptsächlich dem Engagement für „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, die als Volksentscheid 56 Prozent Zustimmung einfahren konnten. Die Grünen können da anders auftreten:
Wir sind in Krisen handlungsfähig und verlieren trotzdem dabei die großen Herausforderungen nicht aus dem Blick“, äußerte die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang selbstbewusst. Gerade in Nordrhein-Westfalen hätten die Menschen sehen können, was geschehe, wenn eine Regierung sich vor Transformationsprozessen verstecke und wegducke, erklärte Lang weiter. Man habe als Partei ein eigenständiges Angebot gemacht und werde nun schauen, wer bereit sei, „diesen Weg in eine klimaneutrale Zukunft mitzugehen“.[5]
Wenn das Verhalten von Jens Spahn (Sie erinnern sich, der Fail-Corona-Gesundheitsminister) gestern bei Anne Will der Maßstab für eine anpackende und kooperative Politik der Zukunft auch in NRW sein soll, dann sollte man allerdings mit den Hoffnungen vorsichtig sein Wie kann man nur so jung sein und schon so old School rüberkommen? Merz hin, Günther und Wüst her, die CDU hatte immerhin eines richtig gemacht: Frühzeitig von der Idee Abstand zu nehmen, dass Spahn ihr nächster Vorsitzender werden könnte.
Wir sind aber a.) nicht der Ansicht, dass man aus dem, was gestern bei einer rekordmäßig niedrigen Wahlbeteiligung gelaufen ist, zu sehr auf die Bundespolitik übertragen und es auch nicht für Scholz-Bashing verwenden sollte, b.) wie wär’s denn mit der alten Weisheit, dass ein Regierungswechsel im Bund eine Gegenbewegung auf Länderebene verursacht? Im Saarland, bei der ersten Landtagswahl nach der Bundestagswahl im September 2021, war der Ampel-Auftrieb vielleicht noch zu frisch für eine Gegenbewegung, hauptsächlich war der Aufstieg der SPD aber dem Zusammenbruch der dortigen Linken in der Nach-Lafontaine-Zeit zu verdanken, also einer Sondersituation.
15.05.2022: Wahlen in NRW, Update nach der Wahl, nach Vorlage des vorl. Amtl. Endergebnisses noch einmal aktualisiert
„Wir haben bei der ans Ende des Artikels angefügten Abstimmung mitgemacht. Danach wäre die CDU sehr klar vor der SPD. Wir haben mit ‚keine der genannten Parteien‘ gestimmt“, schrieben wir heute Mittag im Briefing. Man durfte also auch mitmachen, wenn man nicht in NRW wohnt. Die CDU kam in dieser Abstimmung zum relevanten Zeitpunkt auf 36 Prozent, die SPD auf 24 Prozent. Verblüffend, wie gut diese sicher nicht repräsentative Abstimmung, die nicht einmal regional gebunden war, nun das spiegelt, was die aktuellen Hochrechnungen aussagen, Zahlen sind Prozentwerte, das vorläufige amtliche Endergebnis in Prozentzahlen:
CDU 35,7 (+2,7)
SPD 26,7 (-4,6)
Grüne 18,2 (+11,8)
FDP 5,9 (-6,7)
FDP 5,4 (-2,0)
Die Linke 2,1 (-2,7)
Sonstige: 6,1 (+1,5)
Der Verlust an linken Politkmöglichkeiten wird uns in den nächsten Jahren noch beschäftigen. NRW wäre ein Bundesland gewesen, in dem Die Linke unter einigermaßen normalen Voraussetzungen Chancen auf den Einzug in den Landtag gehabt hätte, wie die 4,9 Prozent bei der vorausgegangen Wahl bewiesen haben.
Krass niedrig scheint mit 56 Prozent die Wahlbeteiligung zu sein. Das zeugt leider auch davon, dass die Menschen nicht wirklich politisiert sind, angesichts der Angebote. Keinerlei „Schicksalswahl“-Stimmung offensichtlich. Wir haben das wohl sogar in Berlin gespürt und deswegen die Berichterstattung zu diesem wichtigen Ereignis dezent ins Briefing integriert, anstatt ihr breiten Raum zu widmen. Irgendwann werden wir uns die wichtigen Kennzahlen von NRW wieder anschauen und feststellen, was wirklich für die Menschen bei diesen leichten Verschiebungen zwischen CDU und SPD herauskommt. Die Grünen betreffend: Es gibt Soziologen und Parteienforscher, die sagen, weit über 20 Prozent kann es für sie in NRW nicht gehen, weil dafür das Milieu in Gegenden fehlt, die eben auch hohe ländliche Anteile und nicht-urbane Städte haben (ein Mangel an Hipstern und kriegswütigen Biobauern sowie der für sie / durch sie geschaffenen Infrastruktur ist wohl insbesondere im Ruhrgebiet zu beklagen). Ausnahme: Baden-Württemberg, begründet in der speziellen Person des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der auf uns immer eher wie ein Generalschwabe denn wie ein Grüner wirkt.
Bei ersten Hochrechnungen musste die FDP noch um den Wiedereinzug ins Parlament bangen, die SPD könnte nur mit ihr und den Grünen regieren, und auch für eine solche Ampel würde es knapp, die CDU kann auch mit den Grünen alleine in eine stabile Zweierkoalition gehen. NRW, das Land der noch relativ klaren Verhältnisse? Innenstädte für die Grünen, Randbezirke der Städte und weniger urbane städtische Kommunen für die SPD, katholisches Rhein- und Münsterland für die CDU? Wir werden es bei der Wahlkreisanalyse sehen.
Krass niedrig scheint mit 56 Prozent die Wahlbeteiligung zu sein. Das zeugt leider auch davon, dass die Menschen nicht wirklich politisiert sind, angesichts der Angebote. Wir haben das wohl sogar in Berlin gespürt und deswegen die Berichterstattung zu dieser wichtigen Wahl dezent ins Briefing integriert, anstatt ihr breiten Raum zu widmen. Irgendwann werden wir uns die wichtigen Kennzahlen von NRW wieder anschauen und feststellen, was wirklich für die Menschen bei diesen leichten Verschiebungen zwischen CDU und SPD herauskommt. Die Grünen betreffend: Es gibt Soziologen und Parteienforscher, die sagen, weit über 20 Prozent kann es für sie in NRW nicht gehen, weil dafür das Milieu in Flächenländern fehlt, die eben auch hohe ländliche Anteile und nicht-so-richtig-urbane Städte haben (ein Mangel an politisch rudimentären Hipstern und kriegswütigen Biobauern mitsamt der für / durch sie geschaffenen Infrastruktur ist wohl insbesondere im Ruhrgebiet zu beklagen). Ausnahme: Baden-Württemberg, begründet in der speziellen Person des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der auf uns eher wie ein Generalschwabe denn wie ein Grüner der tonangebenden Generation wirkt.
Ansonsten bleibt uns nur, den vielen Menschen in NRW, darunter auch Freunden von uns, viel Glück mit der neuen Regierung zu wünschen. Glück auf heißt es ja endgültig nicht mehr, seit alle Zechen stillgelegt sind. Ach ja, wir werden unsere Freunde auch mal fragen, ob sie überhaupt gewählt haben.
15.05.2022, während der Wahl
Wir haben den Wahl-O-Mat gemacht und das Ergebnis war sozusagen das Übliche.[6] Heißt, gleich, wer die heutige Wahl gewinnt, Hendrik Wüst von der CDU, der amtierende Ministerpräsident oder Thomas Kuschaty, sein Herausforderer von der SPD, wir würden ihn nicht wählen, wenn wir dort wohnen würden. Wie schon in Schleswig-Holstein am letzten Wochenende: Es ist mehr oder weniger egal, wer unter der Ägide der Wirtschaftslobbyisten regiert. Falls Sie in NRW wohnen und den Eindruck haben, hier zeichnen sich bahnbrechend unterschiedliche Alternativen ab, schreiben Sie uns bitte, vor allem, wenn es sich um solche handelt, die eine krass gute Zukunftsvision für das bevölkerungsreichste Bundesland haben. Wir bilden Ihre Antwort dann in einem unserer nächsten Briefings ab.
Wir finden es übrigens falsch, von einer „kleinen Bundestagswahl“ zu sprechen, wie viele Kommentator:innen es tun. NRW spiegelt weder den Durchschnitt der Bundesrepublik, noch ist es mit seinen regionalen Besonderheiten repräsentiert, wenn es quasi als Miniaturausgabe der Republik apostrophiert wird. Richtig ist: Die Wahl dort ist besonders wichtig, weil die großen Parteigliederungen in NRW viel Einfluss auf die Bundesparteien haben und ein Erfolg oder eine Niederlage dort wichtige interne Strukturen verändern kann. Hier gibt es ein paar schnelle Informationen,[7] unter anderem diese:
Den Zahlen zufolge dürften die Grünen mit Umfragewerten um 17 Prozent die „Königsmacher“ werden und könnten sich in Sondierungen mit CDU und SPD entsprechend teuer verkaufen. Ihre Spitzenkandidatin Mona Neubaur stellte in dieser Woche bereits ihre „Regierungsvorhaben“ vor und meinte selbstbewusst, es wäre „vielleicht gar nicht so spielentscheidend“, welcher Mann Ministerpräsident werde. „Egal in welcher Regierungskonstellation“ würden die Grünen schon für Wandel sorgen. Die Spitzenkandidaten von CDU, SPD, Grünen und FDP schließen nichts kategorisch aus – außer eine Zusammenarbeit mit der AfD.
Und mit der Linken? Ach ja, die wird weit von einem Einzug in den NRW-Landtag entfernt abschneiden.
Wir haben bei der ans Ende des Artikels angefügten Abstimmung mitgemacht. Danach wäre die CDU sehr klar vor der SPD. Wir haben mit „keine der genannten“ Parteien gestimmt.
Eine gesonderte Wahlberichterstattung wird es trotz der Wichtigkeit der Wahl von uns nicht geben, allenfalls ein Update des heutigen Briefings, wenn sich Überraschungen ergeben sollten. Ansonsten morgen mehr zum Ergebnis.
15.05.2022 Ukraine-Krieg
Gestern hat die russische Regierung verkündet, dass sie die EU-Mitgliedschaft der Ukraine nicht mehr neutral sieht, sondern einer NATO-Mitgliedschaft mehr oder weniger gleichstellt, also dagegen ist.[8] Da wirkt es irgendwie seltsam kongruent, dass in der Nacht auf das mittlerweile weltberühmte Asow-Stahlwerk in Mariupol, das Symbol der Verteidigungsbereitschaft, in dem noch ca. 1.000 Kämpfer:innen ausharren, Phosphorbomben mit hämischen Aufschriften zum ESC-Gewinn der Ukraine und wegen eines Appells, den die ukrainischen Teilnehmer:innen dabei abgegeben haben, geworfen wurden. Wäre es nach den professionellen Voter:innen gegengen, hätte die Ukraine diesen ESC nicht gewonnen, aber das Publikum, das die überwiegende Zahl der Stimmen vergibt, hat sein Herz sprechen lassen.[9]
Ob die rüde und zynische Form der Bombardierung des Asow-Werks stimmt oder nicht, wollen wir noch abwarten, aber da in diesem Krieg wieder einmal jede Menschlichkeit verloren geht, ist es nicht unmöglich. Phosphorbomben zählen zu den geächteten Kriegswaffen, ebenso wie biologische, chemische und natürlich auch atomare Waffen.
Was man dahinter sehen könnte, ist großer russischer Frust, ist weitere Verrohung und möglicherweise sind die Informationen richtig, dass auch die massive russische Offensive im Osten der Ukraine nicht mehr richtig vorankommt oder, vorsichtiger ausgedrückt, „nicht im Zeitplan liegt“.[10] Sollte das der Fall sein, gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, wie es weitergehen könnte: Die Ukraine wird mit Hilfe des Westens den Krieg drehen oder Putin wird (noch mehr) verbotene Waffen einsetzen lassen. Falls die Informationen des ukrainischen Verteidigungsministeriums auch nur annähernd stimmen, die gerade veröffentlicht wurden,[11] wäre das ein Desaster für die russischen Kriegsherren und würde eine Beobachtung belegen, die nun im Wesentlichen und im Großen seit 100 Jahren gilt: Aggressoren gehen gegen eine entschlossene Verteidigung blutig baden, auch wenn sie zunächst hoch überlegen erscheinen. Uns fällt spontan jedenfalls kein erfolgreicher Angriffskrieg der letzten Jahrzehnte ein.
15.05.2022 NATO-Erweitrung, Nord-Süd-Konflikt auf Normalmaß reduziert
Gestern haben wir uns zur überraschenden möglichen Blockade der Aufnahme von Schweden und Finnland in die NATO durch die Türkei geäußert. Mittlerweile wird nicht mehr ganz so heiß gekocht, vermutlich wird die Sache auch bald gegessen sein, nachdem Finnland nun seinen offiziellen Antrag gestellt hat. Schweden wird vermutlich nicht zurückbleiben. Nach dieser Argumentation klingt das Ansinnen der Türkei, aus deren Sicht dargestellt, nicht unlogisch: Wenn die EU die PKK als Terrororganisation einstuft, dann darf sie in EU-Ländern nicht walten, wie sie will.[12]
Ob das in Schweden der Fall ist, haben wir noch nicht recherchiert, aber dass das Land, ebenso wie Deutschland, viel Raum für alle möglichen Organisationen lässt, die man nicht unbedingt als Speerspitze der Demokratieverteidigung bezeichnen kann, ist bekannt. Vermutlich glaubt man die Stärke des eigenen Systems. Was wir in Deutschland sehen: Das könnte eine Fehlannahme sein, zumindest, wenn zu viele Angriffe aus verschiedenen Richtungen auf die Demokratie gleichzeitig stattfinden. Auch eine Schwächung der Demokratie durch immer rigidere Überwachungs- und Polizeigesetze ist ein Sieg für die Antidemokraten. Wer also dass Narrativ pflegt, dass in der Ukraine die Freiheit verteidigt wird, der muss auch etwas mehr darauf achten, was im eigenen Land passiert, als das bei uns schon seit vielen Jahren der Fall ist.
Gestern gab es nur Erdogans Auftritt, der auf geostrategisches Sich-Aufplustern schließen ließ, aber nach der obigen Darstellung wirkt das, was wir gerade sehen, viel rationaler und nachvollziehbarer. Das ändert freilich nichts daran, dass Erdogan gegen die Türken ebenso einen Angriffskrieg führen lässt wie Putin gegen die Ukraine. Wenn er sich aber auf eine Einschätzung der EU, die PKK betreffend, berufen kann, dann hilft ihm das natürlich dabei, die NATO-Mitgliedschaft von Schwedne und Finnland an Bedinungen zu knüpfen. Ob diese erfüllt werden? Wir werden es sehen, aber dass eine NATO-Erweiterung in diesem wichtigen Moment an einem, von der Ursache her Türkei-internen Problem scheitert, das die dortige herrschende Politik wesentlich mitverursacht hat, scheint doch eher unwahrscheinlich.
15.05.2022 Spaltung oder Vereinigung durch den Krieg?
Kürzlich hat die Zeit ein Interview mit Harald Welzer geführt, einem der Unterzeichner des offenen Briefs an Bundeskanzler Scholz, in dem vor einem Atomkrieg gewarnt wird. Wir haben diesen Appell nicht unterzeichnet, weil er uns zu einseitig war und zu sehr in die Richtung ging, Russland mehr oder weniger ungehindert den Krieg gewinnen zu lassen. Zumindest kann man den Aufruf so interpretieren. Klar, dass der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk darauf ansprang, woraus eine Kontroverse hervorging, die sich letztlich mit einer anderen verknüpfte: Spaltet oder eint dieser Krieg das Land? Damit ist nicht die Ukraine gemeint, sondern Deutschland. Auf NATO- und EU-Ebene ist überwiegend ein Schließen der Reihen zu beobachten, keine Frage.
Aber wie sieht es mit der deutschen Gesellschaft aus? Wir meinen, es ist wie mit Corona. Disparitäten werden und wurden nicht durch diese Herausforderungen geschaffen, sondern deutlicher sichtbar als bisher. Außerdem gehören sie in einer Demokratie mehr oder weniger dazu, sofern der Anstand bei der Auseinandersetzung einigermaßen gewahrt bleibt. Dass dies häufig nicht der Fall ist, liegt an einem Mindset, das durch jahrzehntelange neoliberalistische Verrohung geschaffen wurde, nicht an den politischen Themen selbst. Bezüglich existenzieller Gegenstände wie Krieg und Frieden wird es immer unterschiedliche Ansichten geben, die mit Leidenschaft vorgetragen werden dürfen.
Selbst die Verrohung der Diskussionskultur ist durchaus ein fragwürdiges Narrativ: Schauen Sie sich mal Bundestagsdebatten an, in denen noch die Kriegsgeneration das Wort führte: Haben Sie den Eindruck, dass es damals einen besseren politischen Stil gab als heute? Oder sind wir nur gegenwärtig massiv davon enttäuscht, dass die Wende von 1989 keine friedlichere, empathischere Welt hervorbrachte? Was es in jenen Jahren noch nicht gab und was die Sichtbarkeit der Differenzen erhöht: Soziale Netzwerke und „Bürgerjournalismus“, Plattformen, auf denen alles aufeinanderprallt, was früher auf ähnlich deftige Weise am Stammtisch als dem Vorläufer der virtuellen Bubble besprochen wurde. Dort blieb es aber im Wesentlichen in der Bubble und man hatte weniger Kontakt zur Gegenseite. Klassenpolitisch war das sogar von Vorteil, aber die hohe Transparenz dessen, was die Menschen so denken, ist eben eine Erscheinung unserer Zeit, an die sich nicht alle gleichermaßen gewöhnen, mit der nicht alle umgehen können. Deswegen vertreten wir im Wesentlichen eine Position, die, wo immer es geht, pro Meinungsfreiheit und gegen Einschränkungen derselben gerichtet ist. Grenzen ziehen wir vor allem dort, wo es um strafbare Tatbestände geht, die unabhängig vom technischen Medium, mit dem sie geäußert werden, zu verfolgen wären.
Die Gesellschaft ist nicht „einig“ und wird es durch diesen Krieg nicht werden, vielmehr muss sie, wenn sich der Pulverdampf etwas verzogen haben wird, wieder über ihre Zukunft und mehr Gerechtigkeit diskutieren. In aller Offenheit. Gerne inkludiert: Wie es eigentlich immer wieder zu solchen Kriegen komme kann und wie wir unser Verhalten endlich so verändern, damit die Wahrscheinlichkeit wesentlich sinkt, dass wir uns doch mal eines Tages alle gegenseitig auslöschen. Nur ein Tipp: Je lebendiger und gerechter eine Demokratie ist, je weniger sie Hass und Gewalt im Inneren produziert, je weniger sie andere unterdrücken und imperialistisch beherrschen will, desto weniger kriegslüstern geht es in ihr und mit ihr in der Regel zu. Darüber muss mit einer Demokratie wie den USA wieder ohne Scheu gesprochen werden. Aber sprechen Sie mal mit den Machthabern in China über Demokratie. Da können Sie auch gleich einen Sack Reis umwerfen. Und das ist der Unterschied, der im Grunde antiimperialistische Äquidistanz eher von der Seite her angreifbar macht, dass Russland oder China augenfällig und einseitig als die Guten angesehen werden. Das Umgekehrte ließe sich besser argumentieren. Wir bleiben in der Mitte und sind gegen jede Form von expansiver und auf Ungleichstellung beruhender Geopolitik. Wäre ein solches multipolares System verwirklicht, würden wir es bis in unseren Alltag hinein merken: Alles wäre entspannter und friedlicher.
14.05.2022 Ukraine-Krieg
Kürzlich haben wir gelesen, dass ein Deal sein könnte: Die Ukraine handelt mit Russland einen Waffenstillstand aus unter Aufgabe einiger von Russland besetzter Gebiete und erhält dafür die EU-Mitgliedschaft. Ernsthaft jetzt? Eine Mitgliedschaft kann sie sowieso beantragen, aber nicht zu Sonderkonditionen, also qua Putin-Express. Wir sind diebezüglich verhalten. Die Ukraine wäre nach einer Aufnahme das ärmste Land der EU, zudem ein ziemlich großes, außerdem hat sie noch einen Weg vor sich, bis die Kriterien an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingehalten sind, die man als EU-Miglied mindestens erbringen sollte. Dass einige aktuelle Mitglieder der EU diesbezüglich keine guten Vorbilder sind, muss hingegen viel mehr diskutiert und gegebenenfalls auch sanktioniert werden, falls sich die EU tatsächlich als Wertegemeinschaft begreift (was sie nach unserer Auffassung nur an zweiter Stelle ist, was aber vorrangig sein sollte). Die Abtimmenden sind bei einer entsprechenden Umfrage gespalten, es gibt nur eine knappe Mehrheit für die Aufnahme der Ukraine.[13] Allerdings kommt es immer auf die exakte Fragestellung an, die liegt uns in diesem Fall nicht vor.
Dafür haben wir eine Abstimmung, hier können Sie mitmachen: Civey-Umfrage: Sorgen Sie sich, dass die neuesten russischen Sanktionen gegen die EU Deutschlands Wirtschaft nachhaltig schaden werden? – Civey
Das „nachhaltig“ spielt dabei für uns eine wichtige Rolle: Schäden, die auf mittlere oder gar lange Sicht nicht wiedergutzumachen sind und auch nicht durch einen Innovationsschub an anderer Stelle, etwa auf dem Sektor der erneuerbaren Energien, ausgeglichen werden können. Wir fürchten angesichts der extremen globalen Vernetzung der Wirtschaft sehr wohl, dass dies der Fall sein wir und mit uns tun dies derzeit exakt 50 Prozent sogar mit „eindeutig ja“, weitere 15 Prozent mit „eher ja“. Die übrigen haben keine Ahnung von Wirtschaft und vor allem nichtvon der Fragilität eines Systems, das schon seit der Bankenkrise nur noch mit Notmaßnahmen funktionsfähig gehalten wird. Hier aber der Begleittext von Civey:
„Energie kann als Waffe genutzt werden. So reagierte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Donnerstag im deutschen Bundestag, nachdem Russland Handelsverbote gegen 31 Energiefirmen verhängt hatte. Zwar verringerte Deutschland seine Abhängigkeit von russischem Gas seit Kriegsbeginn von zuvor 55 Prozent auf etwa 35 Prozent, dennoch könnten die Sanktionen Auswirkungen auf die deutsche Energieversorgung haben.
Auf der Sanktionsliste stehen auch Teile von Gazprom Germania. Das Unternehmen ist Eigentümerin wichtiger Firmen der nationalen Gaswirtschaft und besitzt den größten Einzelspeicher für Gas in Deutschland. Jetzt müssen sich diese Tochterfirmen nach potenziell teureren Alternativen umsehen, was auf die Verbraucher umgewälzt werden könnte. Außerdem wird es europäischen Firmen durch die Sanktionen erschwert, ausreichend Gasvorräte anzulegen.
In der „Wirtschaftswoche“ versicherte Habeck, dass Deutschland auf die Sanktionen eingestellt sei, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt seien. So müssen die Gasspeicher zum Jahreswechsel voll und mindestens zwei Flüssiggasterminals angeschlossen sein. Außerdem riet er die Deutschen dazu an, kräftig Energie einzusparen. Um wirklich nachhaltig abgesichert zu sein, sei der Ausbau erneuerbarer Energien allerdings der einzige Weg.“
Was wir jetzt erleben und was noch kommen kann, war alles schon abzusehen, seit es um Sanktionen geht. Deswegen waren wir bereits kurz nach Kriegsbeginn eher dafür, die Menschen in der Ukraine, die kämpfen wollen, mit Waffen zu beliefern als für ein Sanktionskarussell mit unabschätzbaren Folgen. Die Gefahr, dass am Ende alle verlieren werden, ist ziemlich groß, denn auch immer mehr Sanktionen sind eine feindselige Spirale der Eskalation. Dass Putin seinerseits den Hahn zudrehen könnte, wurde ja bisher deshalb mehr oder weniger ausgeschlossen, weil Russland auf die Einnahmen aus Europa angewiesen ist. Den Move, dass er sagt: Entweder mehr Geld oder kein Gas, an den hat lange Zeit kaum jemand gedacht und den werden wir alle deutlich zu spüren bekommen. Es sei denn, er erweist sich als Bluff, aber ob unsere Politiker:innen es darauf ankommen lassen werden, es herauszufinden? Es wird sehr spannend bleiben, so viel steht fest und die Preise werden steigen, so viel steht auch fest. Einige EU-Länder deckeln übrigens die Energiepreise und / oder fordern den „Übergewinn“ von Energieunternehmen zurück, aber in Deutschland, wo Parteien wie die FDP und die Grünen mitregieren? Oh je. Gerechtigkeit ist kein harte Währung, in diesem Land. Deswegen müssen wir uns alle darauf einstellen, dass es voll auf uns durchschlägt, wenn die Politik meint, einen Saktionswettlauf inszenieren zu müssen. Wer anschafft, bezahlt, ist übrigens hierzulande ebenfalls kein hoch geschätztes Prinzip: Die Politik schafft ständig neue Verwerfungen, aber die Mehrheit darf darunter ächzen, nicht die gutbezahlten Anschaffer:innen.
Deswegen schließt sich die Folgefrage logisch an, auch hier können Sie Ihre Meinung kundtun:
14.05.2022 Militär oder Klima?
„Aufgrund des Russland-Ukraine-Krieges läutete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine sicherheitspolitische Kehrtwende ein. Nachdem die Bundeswehr lange einem Sparkurs unterlag, soll sie künftig mit einem Sondervermögen über 100 Milliarden Euro aufgerüstet werden. Laut der Wehrbeauftragten des Bundestages Eva Högl ist dies dringend nötig, da es der Armee an sämtlichen Ausrüstungsmaterialien fehle.
Die Linke lehnt die Aufrüstungspläne ab. Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow und weitere führende Linke fordern stattdessen ein Sondervermögen, mit dem die dringend benötigte Energiewende auch für finanzschwache Haushalte tragbar ist. Mit dem Geld soll u.a. der Gaspreis gedeckelt und der ÖPNV ausgebaut werden. Linken-Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte dem Phoenix zudem, dass nur Deeskalation und nicht Aufrüsten zum Frieden führe.
Neben dem geplanten Sondervermögen erhält das Verteidigungsressort mit dem aktuellen Bundeshaushalt zusätzliche Mittel in einer Rekordhöhe von rund 50 Milliarden Euro. Die Haushaltsplanung sieht zudem „Investitionen in eine wettbewerbsfähige, klimaneutrale und digitale Zukunft” vor, die in den Jahren 2023 bis 2026 insgesamt mehr als 200 Milliarden Euro umfassen sollen. Bis 2045 soll dadurch das Ziel der Treibhausgasneutralität erreicht werden.“
Die Bundeswehr ist im Vergleich zu anderen Armeen krass ineffizient, dort gilt es, den Hebel anzusetzen, anstatt bequem nach immer mehr Geld zu rufen. Klar ist der Instandhaltungsstau jetzt riesig, weil man jahrelang geschlunzt hat, um nicht zu schreiben, jahrzehntelang. Aber schien es nicht so, als ob es nie wieder Krieg geben könnte, in den 1990ern? Die Bundeswehrstrukturen sind es aber nicht allein, es ist auch der Mangel an klarem Auftrag, der sie in Nachteil gegenüber anderen Armeen setzt. Sie ist Verfügungsmasse für ständig wechselnde politische Ideen und Anhängsel anderer Armeen, wenn sie im Einsatz ist. Das hemmt die Motivation und die Effizienz ebenfalls. Wir haben uns von Beginn an gegen das „Sondervermögen“ ausgesprochen und offen gelassen, wie viel Geld wirklich notwendig sein könnte, um die Armee „in Schuss zu bringen“, und zwar so, dass sie ihren Verteidigungsauftrag erfüllen kann, aber nicht jedes Abenteuer logistisch covern muss, das von anderen an die Bundesregierung herangetragen wird.
Für uns eine ganz eindeutige Angelegenheit: Für das Klima kann man Schulden machen, aber nicht für eine Aufrüstung, die jedes Maß sprengt, obwohl es der NATO ganz gewiss nicht an zu wenig Militär mangelt. Unsere Prognose: Bisher musste noch niemand zur Verteidigung Deutschlands einschreiten und das wird auh so bleiben.
14.05.2022 Blick auf die Linke
Dass „nur Deeskalation und nicht Aufrüstung zum Frieden führe“, wie Linken-Fraktionsvorsitzender Bartsch sagt, ist zumindest in Bezug auf die aktuelle Konfliktlage in der Ukraine eher der Tatsache geschuldet, dass er den verzweifelten Spagat zwischen den stark auseinanderdriftenden Teilen der Linken machen muss, damit die einzige relevante linke Partei in Deutschland sich nicht endgültig selbst zerstört. Ob das noch abzuwenden ist? Für uns ganz und gar offen, wenn wir sehen, wie groß die internen ideologischen Differenzen mittlerweile sind. Bartsch ist zwar eine Integrationsperson, aber kein Zugpferd, wie die Partei es jetzt bräuchte, um sachliche Differenzen zu überwinden.
Die Folgen dieses Niedergangs sind dramatisch, denn wer soll in Deutschland jetzt noch soziale Politik einfordern? Nicht erst der Krieg hat den Zerfall eingeleitet, aber er beschleunigt ihn möglicherweise.
14.05.2022 Der Norden in die NATO: Kalte Füße schon vor Beitritt? Und im Süden plustert sich Freund Erdogan auf.
Russland stellt die Stromlieferungen nach Finnland ein, weil Finnland sich zu einem NATO-Beitritt entschlossen hat.[14] Derweil will jemand die Nordländer nicht in der NATO haben, der zuletzt eher kleinere Brötchen backen musste, aber jetzt wieder mächtig großspurig auftritt: Freund Erdogan aus der Türkei, Putins Bruder im autokratischen Geiste. Wir erklären mal kurz, warum es für ihn plötzlich so einfach ist:
Die NATO hat es zugelassen, dass er ein sehr enges Verhältnis mit Putin pflegt und sogar Waffensystem für die Türkei in Russland gekauft hat, obwohl sie selbst NATO-Mitglied ist. Und zwar ein wichtiges, an einer geostrategischen Bruchstelle zwischen Europa und Asien. Während Putins Krieg in der Ukraine zu Recht angeprangert wird, schert sich niemand darum, was Erdogan mit den Kurden macht. Er greift sie in Nordsyrien an und das geht weder ohne Putin, aus militärischen Gründen, noch geht es ohne Billigung der NATO-Partner. In Deutschland schweigen die Erdogan-Anprangerer spätestens seit dem Krieg, auch diejenigen, die kurdische Wurzeln haben. Einige von ihnen in der Linken sind sogar gleichzeitig Putin-Versteher:innen. Wie sollen diese eine antiimperialistische Haltung glaubhaft vertreten, wenn sie sich an Russland ketten, egal, was von dot kommt? Das Ergebnis ist, dass sie auch zu Erdogan nichts mehr sagen können, ohne sich vollkommen lächerlich zu machen. Das muss weh tun, aber vielleicht tut ja jemanden, der lange genug in der Politik ist, kein noch so offensichtlicher Widerspruch in den eigenen Positionen mehr weh.
Das Ergebnis des Verhätschelns von Erdogan, das natürlich auch mit dem Flüchtlingsdeal zu tun hat, ist, dass er jetzt die Schweden nicht in die NATO lassen will, weil sie eine relativ freundliche Haltung den Kurden gegenüber gezeigt haben. Das heißt, er macht für dessen Aufnahme zur Bedingung, dass er in Schweden genauso beherzt in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates eingreifen darf wie z. B. in Deutschland. Was erlauben Recep? wäre die richtige Antwort, in beiden Fällen, aber am Ende siegt immer geostrategisches Denken über Menschenrechte und über Ethik und in Ernstfall auch über die Demokratie. Das Krasseste ist, dass Erdogan sich nun auch als Friedensfürst im Sinne eines Vermittlers geriert. Unsere Prognose: Putin wird nicht derjenige sein, der den Frieden in der Ukraine herbeiführen wird. Wenn der Westen zulässt, dass Erdogan dieses Narrativ mit Recht pflegen darf, ist der Westen ein weiteres Mal bis auf die Knochen blamiert, so kurz nach Afghanistan.
Ein Problem ist unzweifelhaft, dass Länder, die in Bündnissen zusammengeschlossen sind, unterschiedliche Entwicklungen nehmen können. Als die Türkei 1952 der NATO beitrat, war sie in einem Demokratisierungsprozess begriffen, jetzt geht es rückwärts, wie auch in Russland. Wird die Türkei deshalb rausgeschmissen? Aber sicher nicht. Erdogans Regime war nicht nur wegen seines Dauerkrieges gegen die Kurden moralisch korrumpiert, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen schon fast am Ende, da kam dieser günstige Krieg in der Ukraine und er wittert Morgenluft. Profiteure gibt es eben überall. Ein Grund mehr, sich bei uns nicht selbst wirtschaftlich massiv zu schaden, während andere die Situation dermaßen kaltblütig ausnützen dürfen. Haben Sie mitgekriegt, wie zahm Kanzler Scholz bei seinem letzten Treffen mit Freund Erdogan war? Okay, nennen wir es typisch scholzsche Zurückhaltung, aber peinlich ist es trotzdem und es nimmt nicht Wunder, dass immer wieder ausländische Politiker mit den unseren einen Umgang pflegen, der unter der Würde ist. Zu ihnen zählt nicht nur der aktuelle ukrainische Botschafter Andrij Melnyk, sondern immer dann auch Recep Erdogan, wenn ihm etwas nicht passt. Und das kommt recht häufig vor, z. B. immer dann, wenn in Deutschland versucht wird, die politische Einflussnahme religiöser Elemente zu begrenzen.
14.05.2022 Noch einmal zum Norden und zur Energie: Geheimnisse um die Nord-Stream-2-Klimastiftung und wie man sie aufbauschen kann
Die „Welt“ ist in die Meisterklasse des investigativen Journalismus aufgenommen worden, weil sie es geschafft hat, den „wirtscchaftlich Berechtigten“ der Klimastiftung zu ermitteln, die in Mecklenburg-Vorpommern zur Absicherung der russisch-deutschen Gaspipeline eingerichtet wurde, falls die USA durchsanktionieren.[15] Nun ja, ein Triumph ist ein Triumpf und nach unserer Ansicht bleibt es an Putin hängen, dass er seine Freunde in Deutschland hängen lässt, indem er es ihnen durch seinen Angriffskrieg verunmöglicht, das Projekt der Gaspipeline aufrechtzuerhalten. Es fällt uns nach wie vor schwer, den Politiker:innen in MV oder auch in der Bundes-SPD deswegen schwerste Vorwürfe zu machen, denn wie Ex-Präsident Trump sich wegen Nord Stream 2 aufführte, das war – sic! – einer jener Fälle, in denen die Potentaten anderer Staaten meinten, mit der deutschen Politik Schlitten fahren zu können. Wir hatten das Zeichen von Unabhängigkeit, das durch Nord Stream 2 gesetzt wurde, durchaus begrüßt und die ökologischen Aspekte deshalb zurückgestellt, zumal wir davon ausgingen, dass man nicht gleichzeitig aus Kohle, Gas und Atom aussteigen kann und dass Gas als Brückentechnologie das geringere Übel ist. Fragen zu diesen Konstruktionen im Umfeld von Nord Stream 2 sind sicherlich berechtigt, müssten allerdings auch an Angela Merkel gehen. Aber der CDU-geführte Untersuchungsausschuss, den es demnächst in MV geben soll, wird sicherlich auch sie vorladen, oder: warten wir’s ab. Falls ja, viel herauskommen wird dabei nicht. Genau so, wie wir nicht alle so wahnsinnig viel haben, dass jetzt ein gewisser Herr Petersen namentlich bekannt ist.
TH
13.05.2022 In eigener Sache
Freitag der 13., ausgerechnet. Medien, die so etwas wie ein Briefing, einen Lagebericht, einen täglichen Newsletter einsetzen, haben zumeist den Vorteil, dass die Redaktionen frühmorgens schon besetzt sind und dass sie auf eigene Beiträge verweisen können, wenn es um Hintergrundwissen und Vertiefung geht. Wir könnten aber aus unserer Kleinheit den Vorteil ziehen, dass wir nicht auf ein Medium angewiesen sind, sondern uns das Beste aussuchen können, um Sie zu informieren und unsere Meinung zu den Vorgängen in der Welt kundzutun.
Ach ja, der Hintergrund: Wir starten wieder einen neuen Versuch, so etwas wie einen Überblick herzustellen, deshalb diese Ansprache. Selbstverständlich nur zu den Themen, die uns selbst wichtig erscheinen, von einigen wissen wir, dass Sie Ihnen auch wichtig sind, wir können es an den Zugriffszahlen ablesen. Weitere Erklärungen des Features folgen dann und wann, denn Sie wollen ja nicht vorwiegend über uns, sondern über wichtige Themen informiert sein. Vielleicht noch etwas zum Ton. Es hat sich eingebürgert, dass die meist von Chefredakteur:innen geschriebenen Überblick-Newsletters so einen süffisant-ironischen Ton haben, natürlich in Sachen Krieg nicht in dem Maße wie z. B. die Berliner Bürokratie betreffend. Wir werden uns ebenfalls am Thema orientieren, mit dem Bonus, dass wir bei bestimmten Vorgängen auch in einen kämpferischen Modus schalten können. Dass wir das dürfen, haben wir als „Bürgerjournalisten“ den „anderen“ ebenfalls voraus, neben der großen Auswahl an Quellen, die wir hier zeigen können. Wir hoffen, dieses Mal klappt es, Kontinuität herzustellen. Es funktioniert im Kulturbereich, bei Corona, warum nicht beim Weltenlauf? Vielleicht weil man mit dem Laufen kaum hinterherkommt, schon gar nicht in letzter Zeit, wo sich wieder alles zu beschleunigen scheint, aber man darf den Versuch nie aufgeben, dranzubleiben. Außerdem wollen wir versuchen, dieses Briefing mit einer Timeline zu verbinden.
13.05.2022 Corona
Einen Corona-Report gibt es heute nicht, weil sich nicht viel geändert hat. Die bundesweite-7-Tage-Inzidenz ist von gestern 502 auf 485 gesunken, demgemäß geben auch die Neuinfektionszahlen leicht nach (hier zum gestrigen Report 105/22). Kurioses gibt es jedoch nach wie vor. Lesen Sie mal diesen Artikel[16]: Nicht nur, dass man sich vor einer Maßnahmen-Evaluierung drücken will, was wir angesichts der von Christian-Drosten geäußerten Bedenken bezüglich einer hinreichenden Datenlage verstehen können und weil der Verdacht der mangelhaften Seriosität dadurch auf der Hand liegt. Auch der Autor des Beitrags scheint irgendetwas zu sich genommen zu haben, das wird vor allem zum Ende hin sichtbar.
Corona scheint sich doch für manche politisch-journalistische Klamotte zu eignen, während weiterhin durchschnittlich 180 Menschen pro Tag an / mit dem Virus sterben. Hier der Verweis zu einem Artikel, der erst reinkam, als wir schon am Verfassen des Briefings waren. Es gibt viel weniger Corona-Naive als Querdenker:innen in Deutschland, auch sonst befasst sich der Beitrag mit dem Stand der Dinge und dem Wechsel von der Pandemie zur Endemie.[17] Am Ende des Artikels übrigens eine Umfrage: Nur 28 Prozent der Abstimmenden würde sich derzeit bedenkenlos eine vierte Spritze verpassen lassen. Wir haben mehrfach geschrieben: Nur, wenn der Impfstoff an die dann vorherrschende Variante angepasst ist.
13.05.2022 Russland-Ukraine-Krieg: Scholz muss telefonieren, die Preise explodieren, die NATO darf expandieren
Heute hat Bundeskanzler Olaf Scholz erstmals seit sechs Wochen mit Wladimir Putin telefoniert, dabei ging es um Humanitäres, um einen Waffenstillstand und um die Weltversorgungslage, vor allem mit Lebensmitteln. Bei uns: Immer wieder kein Rapsöl etc. Gestern haben wir in diesem Artikel festgehalten, dass ein Drittel aller Menschen in Deutschland sich Sorgen um die finanzielle Zukunft macht[18] und dass wir der Ansicht sind, es müssten mehr sein. Es sind mindestens zwei Drittel, die wirklich Grund zur Sorge haben. Diejenigen, die mit dem kapitalistischen Sound der Spekulation heulen, Krisengewinnler und die Staatsbediensteten sind die einzigen, die es ruhig angehen lassen können. Und damit steigen wir ins Zitat des Tages ein:
„Die Preise für Benzin, Heizöl, Lebensmittel explodieren. Selbst Mittelschichtfamilien müssen sich einschränken und wer vorher schon mit seinem Gehalt oder seiner kleinen Rente kaum über den Monat kam, ist am Verzweifeln. „Wir werden alle ärmer werden“, behauptet Wirtschaftsminister Habeck. Was für ein Märchen! Wenn Preise steigen, werden nicht alle ärmer – irgendwer wird auch reicher, nämlich der, der den steigenden Preis am Ende kassiert.
Allein im März haben die Ölkonzerne in Deutschland zusätzliche Gewinne in Höhe von 1,2 Milliarden Euro eingefahren. Und seit Kriegsbeginn boomt die Zockerei auf den Agrarmärkten, was die Preise für Weizen und andere Agrargüter nach oben treibt. Doch statt dem Einhalt zu gebieten, sieht unsere Regierung tatenlos zu, wie Ölkonzerne und skrupellose Agrarspekulanten mit der Krise einen Reibach machen.
Dabei muss man das nicht so laufen lassen: In Spanien und Portugal wurde Anfang Mai der Gaspreis per Gesetz fast halbiert und auch der Strompreis gesenkt. In vielen Ländern gibt es mittlerweile gesetzliche Preisdeckel für Energie. Nur der deutschen Regierung fehlt offenbar das Rückgrat dazu. Kein Wunder, dass der Preis für den Liter Diesel nirgendwo in der EU so stark gestiegen ist wie in Deutschland.“[19]
Dabei können wir gleich etwas Wichtiges klarstellen: Sofern sie nicht von rechtsaußen kommt, zitieren wir jede Meinung, wenn wir damit übereinstimmen. Nach vielen Abweichungen zu unseren Positionen hat auch Sahra Wagenknecht wieder etwas geschrieben, was wir für wichtig halten und worauf wir mehrfach hingewiesen haben: Die Simplifizerung der Hintergründe für die Preissteigerungen wird vor allem von Menschen betrieben, die hoffen, wir wissen nicht, dass nicht Engpässe, sondern Spekulationsblasen für die gegenwärtige Preisrallye hauptsächlich verantwortlich sind. Das Gas fließt doch, warum sollen die Preise sich so steigern? Weil an den Börsen für kurzfristige Kontrakte mächtig hohe Preise aufgerufen werden, das sind komplett politische Preise, sie beruhen nicht auf Lieferengpässen. Wo wir nicht mitgehen: Putin kann „seine“ Energie nicht einfach so überall hin verkaufen. Das gilt nicht für Gas, das durch Pipelines gen Westen geschickt wird und außerdem muss es bei den vielen Ländern, die Russland nicht sanktionieren, auch genug Nachfrage für zusätzliches Angebot aus Russland geben. Das dürfte sich sehr wohl auf den Preis auswirken, und zwar negativ für Russland.
Daher ist es eine absolut logische Maßnahme, dass Putin jetzt eine Karte spielt, auf die wir hätten viel früher kommen müssen. Wir haben sie aber als Möglichkeit nicht beschrieben, nämlich, dass Putin jetzt zu uns in Europa sagt: Entweder höhere Preise oder kein Gas mehr. Welch eine Demütigung für die Schwadroneure, die am liebsten selbst alle Lieferungen gestoppt hätten, egal, welcher Preis dafür zu zahlen gewesen wäre. Sicher wird Russland in ein paar Jahren das Problem haben, dass es ganz auf China und Indien angewiesen sein wird, wenn Westeuropa sich wirklich unabhängig von russischen Energielieferungen macht und wir werden sehen, ob dann der Schwanz mit dem Hund wackeln wird und nicht umgekehrt, wovon wir eher ausgehen. Sprich, dass die wirtschaftlich aufsteigenden Milliardenvölker in diesem Spiel mehr und mehr das Sagen haben werden. Auch deswegen finden wir es komplett sinnvoll, wenn die Russen sich als dem europäischen Kulturkreis zugehörig betrachten.
Nun lesen Sie mal bitte den Wikipedia-Artikel über die geostrategischen Entwicklungen seit der Wende von 1989 mit der NATO als Ankerpunkt. Lesen Sie da heraus, dass die Sache komplett einseitig ist und dass man Russland gegenüber nicht massive Fehler gemacht hat, indem man die Chance der Tauwetterphase versemmelt hat? Vor allem ein Statement von Bill Clinton hat uns ziemlich getriggert. Sinngemäß sagte er, man hätte Russland gerne mehr integriert, aber in Washington hätten „politischer Unternehmer“ längst Pflöcke in die andere Richtung eingeschlagen. Sind damit unternehmungslustige Politiker gemeint, die ihre eigene Regierung oder den Präsidenten übergehen oder Unternehmer oder Unternehmercluster, die Politik machen? Oder beides? Es klingt nach Verschwörungstheorie, aber was ist es letztlich: Interessenpolitik, durchgeführt von massiv einflussreichen Interessenvertretern.
Wer diese Infiltrationen als Verschwörungstheorien im negativen Sinne abtun möchte, der muss auch die NOGen, die sich mit den Auswirkungen des Lobbyismus auf die Politik befassen, als Verschwörungstheortiker:innen bezeichnen. Denn genau darum geht es: Dass mächtige Wirtschaftslobbys mehr Frieden in der Welt verhindern und es nicht zulassen lassen wollen, dass Völker wirklich selbstbestimmt sind:
In einem vom NSO archivierten Telefongespräch am 5. Juli 1994 sagte Clinton zu Jelzin: „Ich möchte, dass wir uns auf das Programm Partnerschaft für den Frieden“ und nicht auf die NATO konzentrieren. Zur gleichen Zeit hätten jedoch „politische Unternehmer“ in Washington den bürokratischen Prozess für eine schnellere NATO-Erweiterung vorangetrieben, als von Moskau oder dem Pentagon erwartet wurde, das sich für die Partnerschaft für den Frieden als wichtigsten Schauplatz für die sicherheitspolitische Integration Europas einsetzte, nicht zuletzt, weil sie Russland und die Ukraine einschließen könnte[20]
Wenn man hinter alle diplomatischen Vorgänge, Finten und auch hinter die Narrative blicken will, ist diese Anmerkung nicht zu unterschätzen. Clinton liefert mit diesen gar nicht so mysteriösen Andeutungen auch den „Deep-State-USA“-Verfechtern reichlich Munition, weil es wirkt, als sei die US-Regierung nicht Herrin des Verfahrens gewesen. So entwickelten sich die USA von dem partnerschaftlichen Gepräge der frühen 1990er unter George Bush sen. zu der Macht mit alleinigem hegemonialem Anspruch unter seinem Sohn George W. Bush. Dass der Terror von 9/11 sehr gut in dieses Konzept passt, weil er den Vorwand für allerlei geostrategische Eingriffe lieferte, folgt auf dem Fuß und ohne jeden logischen Bruch. Dass einige daraus wiederum den Schluss daraus ziehen, die US-„Machtelite“ selbst sei in diese grausamen Anschläge verstrickt gewesen, liegt leider nicht so fern, wie man uns glauben machen will. Damit treffen wir keine Aussage darüber, ob wir zu jenen rechnen, die das glauben.
Deswegen muss man auch sehr wachsam sein, wenn es jetzt um die Kriegsziele in der Ukraine geht: Selbstverteidigungsrecht, Freiheit, Selbstbestimmung auf der einen Seite: ja, das ist so, daran führt nichts vorbei. Aber wie man die Lage geostrategisch wieder am besten ausnutzen könnte, daran wird ebenfalls heftig gearbeitet. Es ist eigentlich ganz einfach: Finnland hat bereits erklärt, dass es einen NATO-Aufnahmeantrag stellen wird, Schweden wird wohl nachziehen. Hat Putin das nicht bedacht? Dass einige nur auf eine solche Gelegenheit gewartet haben, die lahme und strategisch nicht mehr auf der Höhe der Zeit befindliche NATO, die von den USA selbst unter Donald Trump angeschossen wurde, wieder in Schwung zu bringen? Dass der eine oder andere auch dankbar dafür gewesen sein mag, dass Russland einen Grund dafür liefert, dass der z erstrittene Westen sich wenigstens über eine Sache einig ist, nämlich dass der Ukraine geholfen werden muss? Falls er und seine Berater die Gefahr nicht gesehen haben, spricht das für einen Realitätsverlust über Jahre hinweg. Oder nimmt man es für ein größeres Ziel in Kauf, weil man ohnehin nie vorhatte, im Norden anzugreifen? Weil man weiß, dass die NATO Russland nie angreifen würde, man aber einen Zuwachs an NATO-Ländern propagandistisch ausschlachten kann?
Diese beiden skandinavischen Staaten, die wirtschaftlich gut aufgestellt sind und zu den besten Demokratien der Welt zählen, sind jedenfalls die klarsten Gewinne für die NATO seit langer, langer Zeit. Sie sind ohnehin westlich orientiert und bei Manövern und logistisch eng mit der NATO verbunden, aber eben keine offiziellen Mitglieder, und das ergibt durchaus einen Unterschied. Vor allem, was den häufig zitierten Art. 5 des NATO-Vertrages angeht: Wer ein NATO-Land angreift, greift alle NATO-Länder an. Das gilt in jede Richtung, auch in der Form, dass z. B. die nach allgemeiner Ansicht gut organisierte finnische Armee den baltischen Staaten wohl aus logistischen Gründen als erste zu helfen hätte, wenn Estland, Lettland, Litauen von Russland herausgefordert würden.
TH
[1] Corona-Report 106/22 | Der lange Marsch +++ Lauterbach: Es kommt wieder! | Kurzreport – DER WAHLBERLINER
[2] Russland stiehlt offenbar massenhaft Weizen aus der Ukraine (msn.com)
[3] Weizen: Preis steigt nach Indiens Exportstopp auf neuen Rekord (msn.com)
[4] Nicht Pandemie oder Krieg: Das ist die größte Sorge der Deutschen | WEB.DE
[5] NRW-Wahlanalyse bei Anne Will: „Wir stehen vor dramatischen Entscheidungen“ (t-online.de)
[6] Wenn ich in NRW abstimmen dürfte: Der Wahl-O-Mat für die größte Wahl des Jahres | Parteien, Personen, Politik | Landtagswahl in NRW 2022 – DER WAHLBERLINER
[7] Nordrhein-Westfalen: Bei den Landtagswahlen bleibt es spannend | STERN.de
[8] „Kein Unterschied“ mehr zur NATO: Kreml ändert seine Meinung zu Kiews EU-Plänen – n-tv.de
[9] Publikum-Voting reißt es rum: Die Ukraine gewinnt den ESC | WEB.DE
[10] Ukraine-Krieg im Liveticker: +++ 13:33 Russland hat laut Kiew bereits 27.400 Soldaten und 1220 Panzer verloren +++ – n-tv.de
[11] MFA of Ukraine 🇺🇦 auf Twitter: „Information on Russian invasion Losses of the Russian armed forces in Ukraine, May 15 https://t.co/zhP6zGrAjW“ / Twitter
[12] Finnland und Schweden: Türkei knüpft NATO-Aufnahme an Bedingung – n-tv.de
[13] Das denken die Deutschen zu einem EU-Beitritt der Ukraine (t-online.de)
[14] Nach Ankündigung zu Nato: Russland stellt Stromlieferungen nach Finnland ein – WELT
[15] Nord Stream 2: Geheimnis um Schattenmann der Klimastiftung gelüftet – WELT
[16] Selbst die Ampel lässt Lauterbach auflaufen (msn.com)
[17] Wo wir in der Pandemie stehen und wer jetzt den besten Schutz hat | WEB.DE
[18] 1/3 sorgt sich um die finanzielle Zukunft (Statista) | Frontpage | Wirtschaft | Zukunft – DER WAHLBERLINER
[19] Schluss mit grüner Energiepreistreiberei! | Revue (getrevue.co)