Nosferatu – eine Symphonie des Grauens (DE 1922) #Filmfest 849 #DGR #Top250

Filmfest 849 Cinema – Concept IMDb Top 250 of All Time (3)* – Die große Rezension

(Nicht nur) Der Vater aller Vampirfilme 

Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens ist ein deutscher Spielfilm aus dem Jahr 1922 von Friedrich Wilhelm Murnau in fünf Akten. Der Stummfilm ist eine – nicht autorisierte – Adaption von Bram Stokers Roman Dracula und erzählt die Geschichte des Grafen Orlok (Nosferatu), eines Vampirs aus den Karpaten, der in Liebe zur schönen Ellen entbrennt und Schrecken über ihre Heimatstadt Wisborg bringt. Nosferatu gilt als einer der ersten Vertreter des Horrorfilms und übte mit seiner visuellen Gestaltung einen großen Einfluss auf das Genre aus. Zugleich gilt das Werk mit seiner dämonischen Hauptfigur und seiner traumartigen, gequälte Seelenzustände spiegelnden Inszenierung als eines der wichtigsten Werke des Kinos der Weimarer Republik. Der Film sollte nach einem verlorenen Urheberrechtsstreit 1925 vernichtet werden, überlebte aber in unzähligen Schnittversionen und ist heute in mehreren restaurierten Fassungen verfügbar.

Schon die Länge dieser Einführung macht deutlich: Es handelt sich hier um ein wichtiges Werk der Filmgeschichte. Darüber ist so viel geschrieben worden, dass wir uns in der Rezension einer Technik bedienen, die wir mittlerweile als bewährt erachten: Warum das, was andere geschrieben haben, so behandeln, als stamme es von uns selbst? Das wäre gerade bei einem so umfassend rezipierten Film vermessen und selbstverständlich haben wir uns ein wenig eingelesen. Schon vor der gestrigen zweiten Sichtung. Ja, es ist wirklich erst die zweite, nach über 30 Jahren Spaß und Ernst mit dem Medium Film. Die umfangreiche -> Rezension, in der wir unsere Beobachtungen mit vielen Erkenntnissen und Meinungen anderer abgleichen, wird Ihnen mehr über „Nosferatu“ erzählen.

*Die Vergabe der Nummer bezieht sich auf die ältere Kurzrezension Filmfest 164, die Nummer bleibt hier erhalten.

Handlung[1]

Ein Chronist berichtet, wie im Jahr 1838 die Pest in die Hafenstadt Wisborg kam: Der Häusermakler Knock bekommt von einem Grafen namens Orlok aus den Karpaten den schriftlichen Auftrag, für ihn ein Haus in Wisborg zu suchen. Der Makler, augenscheinlich begeistert von der Anfrage des Grafen, beauftragt seinen jungen Mitarbeiter Thomas Hutter damit, zu Orlok zu reisen und ihm das halbverfallene Haus gegenüber der Wohnung der Hutters anzubieten. Thomas ist voller Tatendrang und freut sich sehr auf die Reise. Seine junge Frau Ellen hingegen reagiert voll Sorge und mit dunklen Vorahnungen auf die Reisepläne ihres Mannes. Thomas gibt seine Frau in die Obhut seines Freundes, des Reeders Harding, und macht sich auf den Weg. Unterwegs macht er Rast in einem Gasthaus. Die Einheimischen fürchten sich offenbar sehr vor Orlok und warnen den jungen Mann eindringlich davor, weiterzureisen. Das „Buch der Vampyre“, ein Kompendium über Blutsauger, das Thomas schon bei seiner Abreise aus Wisborg mitgenommen hatte, hätte ihm als Warnung dienen können. Doch er schlägt alle Warnungen und Mahnungen in den Wind und setzt seine Reise fort.

Als ihn schließlich seine Reiseführer an einer Brücke vor dem letzten Aufweg zur Burg voller Angst verlassen, muss Thomas zerknirscht allein weiterreisen. Wenige Meilen vor dem Ziel wird er in einem dunklen Wald von der unheimlichen Kutsche des Grafen abgeholt und erreicht Orloks düsteres Schloss. Im Hof angekommen, ist niemand zu sehen. Thomas wundert sich, wo denn all die Bediensteten des Schlosses bleiben, doch dann wird er vom Burgherrn persönlich empfangen. Graf Orlok ist nicht minder unheimlich als seine Behausung: eine hagere, kahlköpfige Gestalt mit großen Augenbrauen, großer Hakennase und unnatürlich spitzen Ohren. Ein Nachtmahl ist für Thomas bereitet. Als er sich versehentlich mit einem Messer am Daumen verletzt, will sich Orlok gierig über das Blut hermachen, lässt dann aber doch von Thomas ab. Der Graf bittet den jungen Mann zu verweilen. Nach einer Nacht in schwerem Schlaf erwacht Thomas mit zwei Bissmalen an seinem Hals. Er interpretiert sie jedoch naiverweise als Mückenstiche und schreibt seiner Frau einen Schmachtbrief. Als Graf Orlok am folgenden Abend zufällig das Bildnis von Ellen in einem Medaillon erblickt, nimmt er sofort Thomas‘ Angebot an und unterschreibt unbesehen den Kaufvertrag. Thomas ahnt, dass er damit das Verhängnis in seine Heimatstadt eingeladen hat. Orlok nähert sich in dieser Nacht dem schlafenden Thomas, um sein Blut zu saugen, doch in weiter Ferne erwacht Ellen in Wisborg schreiend und streckt flehend ihre Hände aus. Der Graf lässt von seinem Opfer ab.

Ellen fällt in einen tranceähnlichen Zustand und beginnt zu schlafwandeln. Währenddessen erforscht Thomas tagsüber Orloks Schloss und findet den Grafen in todesähnlichem Schlaf in einem Sarg liegen. Am Abend darauf wird er Zeuge, wie der Graf eilends mit Erde gefüllte Särge auf einen Wagen verlädt. Kaum hat sich Orlok in den letzten, leeren, Sarg gelegt und dessen Deckel über sich gezogen, rast der unheimliche Karren davon. Thomas flieht aus dem Schloss, wird ohnmächtig und von Einheimischen gerettet, die den Fiebernden in einem Hospital gesund pflegen. Orlok hat unterdessen veranlasst, dass die Särge mit einem Floß nach Warna transportiert und auf ein Segelschiff verladen werden. Die Empusa macht sich mit Orlok an Bord auf den Weg nach Wisborg, während Thomas, wieder genesen, auf dem Landweg nach Hause eilt. An Bord der Empusa sterben die Besatzungsmitglieder, einer nach dem anderen, an einer mysteriösen Krankheit. Als die Matrosen nachforschen und einen der Särge öffnen, entweicht ihm eine Horde Ratten. Als schließlich nur noch der Kapitän und sein erster Maat am Leben sind, entsteigt der Graf des Nachts seinem Sarg. Der Maat springt von Bord und der Kapitän bindet sich am Ruder fest. Die Empusa fährt, einem Geisterschiff gleich, in den Hafen von Wisborg ein, wo die Hafenarbeiter nur noch den toten Kapitän auf dem Schiff finden.

Knock, inzwischen wegen seines Appetits auf lebende Fliegen im Irrenhaus gelandet, frohlockt, der „Meister“ sei endlich hier. Der Graf, einen Sarg und die Ratten im Schlepptau, verlässt das Schiff und wandelt durch die nächtliche Stadt. Der Reeder Harding findet auf der verwaisten Empusa das Logbuch, das von der tödlichen Krankheit berichtet. Die Stadt ruft den Notstand aus, doch es ist zu spät: Die Pest breitet sich in Wisborg aus und fordert unzählige Opfer. Selbst der „Paracelsianer“ Professor Bulwer, ein Experte für epidemische Krankheiten, findet kein Gegenmittel gegen die Seuche. Knock ist aus der Anstalt entflohen und wird von einer Meute verfolgt, die ihm die Schuld an der Plage gibt, doch er kann entkommen und sich außerhalb der Stadt verstecken.

Auch Thomas ist es gelungen, Wisborg zu erreichen. Er bringt das „Buch der Vampyre“ mit sich, in dem Ellen liest, nur eine Frau reinen Herzens könne „den Vampyr“ aufhalten, indem sie ihm aus freiem Willen ihr Blut zu trinken gibt und ihn so „den Hahnenschrey vergessen“ macht. Unterdessen ist Orlok in das öde Haus gegenüber den Hutters eingezogen. Sehnsuchtsvoll und beschwörend blickt er aus dem Fenster in Ellens Zimmer. Die junge Frau spielt vor, beinahe zu kollabieren, und schickt Thomas weg, um einen Arzt zu holen. Nun kann sie sich dem Vampir ungestört opfern, so wie sie es im Buch gelesen hatte. Orlok, nichts ahnend, wähnt sich der Erfüllung seiner Wünsche nahe, schleicht in ihr Zimmer und nähert sich Ellen, um ihr Blut zu trinken. Als er sich an ihr labt, schreckt er plötzlich hoch: Der erste Hahnenschrei ist zu hören, Nosferatu hat über seine Lust die Zeit vergessen. Das Morgengrauen ist bereits da, und mit dem ersten Strahl der Sonne vergeht der Vampir zu Rauch. Thomas erreicht mit dem Doktor Ellens Zimmer und schließt sie in die Arme, aber es ist zu spät – Ellen ist tot. Doch wie von Ellen gehofft, ist mit dem Ende des Vampirs auch die Pest besiegt.

Rezension

Kritiker behandeln den Film noch heute mit großer Ehrfurcht, wie 97 Prozent Zustimmung bei Rotten Tomatoes“ belegen.[2] Ein Tenor zieht sich durch viele Texte, auch wenn sie erst in den letzten Jahren entstanden sind und vielleicht ist es gerade die Tatsache, dass seit der Entstehung von Murnaus Werk hundert Jahre vergangen sind, die epische Distanz, die eine Meinung verfestigt hat: „Nosferatu“ ist immer noch der beste Dracula-Film oder doch einer der besten und einer der besten Horrorfilme.

Aber gerade in den letzten Jahren ist noch etwas hinzugekommen: Die Corona-Pandemie hat bewirkt, dass der Film als brandaktuell bezeichnet wird. Keine Frage, daran hatte ich beim Anschauen auch gedacht: Wie die Epidemie an einem einzigen Ort, hier ein baufälliges Schloss in den Karpaten, ihren Anfing nimmt und immer weiter um sich greift. Ich fand es erschütternd, wie die Särge durch die Straßen von „Wisborg“ getragen werden, in einer langen Reihe. Erinnerungen an das Jahr 2020 und Bilder z. B. aus Oberitalien wurden wach, wo die Särge sich stapelten, an Krematorien, an die angebaut werden musste, an leere Straßen und eine Angst, die einem dämonischen Virus geschuldet war, das nach offiziellen Angaben in Deutschland 160.000 Todesopfer gefordert hat. Bis jetzt, es ist ja noch nicht besiegt. Kein Wunder, dass „Nosferatu“ auch zuweilen auch als Antwort auf die 1922 gerade überstandene Spanische Grippe mit ihren enormen Opferzahlen gesehen wurde. Ganz sicher aber als Reflektion über den Ersten Weltkrieg, der in die bürgerliche Welt einbrach wie ein rasender Dämon und eine halbe Generation hinwegraffte.

Bram Stokers Romanvorbild war 1897 veröffentlicht worden und weist zwei wichtige Unterschiede zur ersten Verfilmung des Stoffes auf: F. W. Murnau hat den Film in eine fiktive norddeutsche Hafenstadt verlegt, das ist aber weniger wichtig als a.) die zeitliche Rückdatierung der Handlung auf das Jahr 1838 (Stoker hatte einen Gegenwartsroman geschrieben) und b.) die Tatsache, dass es kein Happy End gibt, während Stokers Werk auch eine Abenteuer- und Liebesgeschichte ist, die letztlich einen optimistischen Schluss fordert. Sicher, die Stadt Wisborg ist gerettet, nach vielen Todesfällen, aber die beiden jungen Menschen, verlieren einander. Ellens Tod ist die Bedingung dafür, dass der Vampir ebenfalls sterben kann. Warum diese beiden Änderungen?

Erstere wird darauf zurückgeführt, dass F. W. Murnau zum Romantizisimus neigte und ihn wohl in der Biedermeier-Epoche am besten verwirklicht fand. Nicht jedoch in dem hochbürgerlich-militaristischen Zeitalter, dessen Mentalität auch den Ersten Weltkrieg auslöste. Die Dialektik des guten Alten und Traditionellen gegen das hektische, verstiegene, macht- und geldgierige Moderne findet sich in vielen Filmen Murnaus aus jenen Jahren, auch in „Der brennende Acker“, den wir kürzlich besprochen haben und der kurz nach „Nosferatu“ Premiere feierte. Die zweite Änderung macht den Film dramatischer, trauriger und weimarischer. Das damalige Kino war nicht so ganz in Moll, wie man denken mag, Fritz Langs Filme beispielsweise enden in der Regel mit dem Sieg des Guten, ohne dass dieses dabei geopfert werden muss. Aber Erlösung im Tod und durch den Tod spielt in Murnaus „Nosferatu“ eine so entscheidende Rolle, dass man den Film heute quasi als prototypisch ansieht, ähnlich „Der letzte Mann“, der so erschreckend genau den Untergang eines Kleinbürgers nachzeichnet. Die bittere Konsequenz gehört dazu, sonst wäre die dämonische Leinwand, die Lotte Eisner im Weimarer Kino entdeckte, weniger dämonisch.

Kehren wir noch einmal zu den heutigen Kritiken zurück, auch, weil wir Lotte Eisner erwähnt haben:

William K. Everson urteilt, der Film leide „unter dem extrovertierten und reichlich überzogenen Spiel von Alexander Granach […] sowie praktisch allen anderen Mitgliedern der Besetzung außer Schreck“.[85] Auch Lotte H. Eisner bemängelt das schwerfällige Spiel, die Darstellerleistungen seien „keineswegs bedeutend“, was sie dem Umstand zurechnet, dass Murnau zu dieser Zeit in der Schauspielerführung noch nicht erfahren genug gewesen sei.[86]

Es sei betont, dass Eisner sonst sehr positiv über diesen Film referiert. Uns hat diese Ansicht zum Schauspiel etwas überrascht. Vielleicht gilt das nicht so sehr für heutige Kritiker aus anderen Ländern, die nicht jeden expressionistischen deutschen Film kennen mögen. Aber ich finde, das Schauspiel ist im Vergleich zu einigen anderen Filmen speziell der direkt auf den  Zweiten Weltkrieg folgenden Jahre gar nicht so überragend extroviertiert. Wir haben gerade „Von morgens bis mitternachts“(1920)  rezensiert, in dem der Expressionismus integral nicht nur in die Dekors, sondern auch ins Spiel eingearbeitet wurde, oder wir denken an „Nerven“ (1919) oder an den berühmten „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Robert Wiene, in dem sich der Wahnsinn auch im Spiel jederzeit Bahn bricht. Max Schreck als Vampir Orlok ist eine Sonderfigur, unvergleichbar mit allem, was es bisher auf der Kinoleinwand gab, auf ihn bezieht sich die negative Kritik aber in der Regel gar nicht, denn seine Darstellung wird allgemein nicht nur als exzellent, sondern häufig als konstitutiv dafür angesehen, dass der Film so eine mächtige Wirkung erzielt. Die übrigen Darstellungen sind vielleicht nicht überragend, aber ich finde zum Beispiel, dass Hutters Wandlung von einem jungen Bruder Leichtfuß mit gut durchbluteten Lippen zu einem gepeinigten Heimkehrer aus dem Land des Grauens durchaus gelungen ist und dass die Figur Knock als Diener des Bösen sehr präsent wirkt. Diese Charaktere sind nicht zweideutig und nicht sehr differenziert, das stimmt – das im damaligen Kino aber auch nicht in dem Maße üblich, wie der Tonfilm es auch durch gesprochene erleichtert hat.

Ich musste mich eher an die Handlungssprünge gewöhnen, die man aber auch als konzeptionell ansehen kann. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass das Publikum, als der Film gezeigt wurde, dafür noch nicht reif war. Noch heute tun sich die meisten Leser zum Beispiel schwer damit, wenn gemächliche bzw. gut erklärte Übergänge zwischen Szenen und Handlungseinheiten in geschriebenen fehlen und sehen das nicht als fortgeschrittenes Stilmittel an. Weil Schnitt und Montage für die damaligen Verhältnisse so ungewöhnlich progressiv sind und die Magie des Films ebenso wie die Verunsicherung, die er hervorruft, zweifellos steigern, gehen wir hier ins Detail gemäß Wikipedia-Angaben:

Mit über 540 Einstellungen[44] ist Nosferatu ein für die damalige Zeit sehr schnell geschnittener Film. Der Einfluss von David Wark Griffiths revolutionärer Schnittarbeit in Intoleranz (1916) wird deutlich.[31] Gemäß Thomas Elsaesser wird der Tempoeindruck des Zuschauers jedoch dadurch verlangsamt, dass die einzelnen Szenen monolithische Einheiten für sich sind und Murnau keine harmonischen, den Handlungsfluss beschleunigenden Anschlüsse einfügt, also nicht nach den Kriterien der Kontinuitätsmontage schneidet.[44] Der Regisseur weist den Geschehnissen keine eindeutige zeitliche Abfolge zu und vernetzt sie nicht nach Kriterien der Kausalität. Der für den Zuschauer entstehende Eindruck ist der einer „Traum-Logik“,[45] in der Ursache-Wirkungs-Mechanismen außer Kraft gesetzt sind und die Nachvollziehbarkeit der Ereignisse für eine eher psychologisch wirkende Darstellung gegenseitiger Abhängigkeiten und Anziehungen der Figuren in den Hintergrund tritt. Seeßlen und Jung bezeichnen den Film deshalb als „großartiges Stimmungsbild viel mehr denn als Film-‚Erzählung‘“.[46]

Diese Filmgestaltung nach Art eines Traums, der sich nie völlig erschließt, führt zu offensichtlichen logischen Brüchen. So bleibt unklar, warum der Graf sich für das Ruinenhaus in Wisborg interessiert, bevor seine Liebe zu Ellen überhaupt entbrannt ist, oder warum Ellen am Strand auf Hutter wartet, wo sie ihn doch eigentlich auf dem Landweg zurückerwarten müsste.[37] Diese und weitere „Fehler“ in Zeit und Raum kulminieren in einer Montage, in der der Vampir und Ellen zueinander in Verbindung gebracht werden, obwohl sie Hunderte Kilometer voneinander entfernt sind: Der Graf, sich noch in seinem Karpatenschloss befindend, blickt ins rechte Off, gefolgt von einer Einstellung, in der Ellen, in Wisborg weilend, ihre Hände flehend ins linke Off streckt. Die Blickachse der beiden Figuren wird verbunden und die räumliche Distanz damit überwunden. Die Szene evoziere „nicht den Eindruck einer räumlichen Beziehung, sondern der einer Ahnung oder seherischen Gabe der Figuren“, stellt Khouloki fest.[47]

Elsaesser nennt diese Brüche in Raum und Zeit die „Logik des imaginären Raumes“, dazu geeignet, die Abhängigkeiten und Manipulationen der Protagonisten anzudeuten: Orlok manipuliert Knock, Knock manipuliert Hutter, Ellen manipuliert Orlok, um Hutter manipulieren zu können. Die gegenseitigen „Kraftströme der Anziehung und Abstoßung“[44] zeigten eine „geheime Verwandtschaft“[48] unter den Figuren auf: alle seien sie „sowohl aktiv als auch passiv, Initiator und Opfer, Rufender und Verrufener“.[48]

Knock war offenbar schon unter dem Einfluss des Grafen, bevor er Hutter nach Transsilvanien schickt, um das Objekt anzubieten, das ein so herrliches, „ödes“ Stadthaus für einen Vampir sein könnte, gefilmt wurden dafür leere Salzspeicher in Lübeck, in deren Fensterhöhlen sich alsbald das leuchtend kahle Antlitz des Vampirs zeigen sollte. Eine Einstellung hat mich unbeschadet des Horrors, den der Film wirklich auslöst, sogar berührt: Wie der aus der Heimat in die Welt gezogene „Tyrann“ durch das Fensterkreuz schaut, Ellen gegenüber in Sichtweite, dabei so traurig wirkt und wie hinter Gittern gefangen. Auch er ein Opfer? Das Opfer des Fluches der Untoten, den er nun schon seit Jahrhunderten mit sich herumschleppt wie die Heimaterde? Seine Reise eine Flucht vor der eigenen Abgeschiedenheit? Ganz realistisch mag man sie damit begründen, dass in der Umgebung niemand mehr zu finden ist, den man aussaugen könnten, weil die Bewohner der Dörfer gebührenden Abstand zum Schloss halten und vielleicht mit Kreuzen und Knoblauch arbeiten, schön persifliert in Roman Polanskis „Tanz der Vampire“, der sich selbstverständlich auch an „Nosferatu“ orientiert und mit ihm eines gemein hat: Ein Ende, das man sich merken kann, denn das Böse ist unweigerlich in der Welt, weil schon per Biss in den Hals einer jungen Frau weitergegeben. Auch dazu gibt es eine politische Implikation, nämlich in Richtung der Nazis. Und damit zum „Tyrannenfilm“, den „Nosferatu“ ebenfalls darstellen soll:

Siegfried Kracauer stellt in seinem Buch Von Caligari zu Hitler (1947)[68] das Kino der Weimarer Zeit in einen Zusammenhang mit dem Aufkommen der Diktatur in Deutschland und nennt die Figur des Vampirs „gleich Attila […] eine ‚Geißel Gottes‘, […] eine blutrünstige, aussaugerische Tyrannenfigur.“[38] Zu diesem Tyrannen stehe das Volk in einer Art „Hassliebe“:[38] einerseits verabscheue es die Gewaltherrschaft des Despoten, andererseits sei es getrieben von einer antiaufklärerischen Sehnsucht nach Erlösung und Erhöhung durch eine unergründliche Macht. Kracauers Sicht folgen etwa Christiane Mückenberger, die den Film „eine der klassischen Tyrannengeschichten“[2] nennt, sowie Fred Gehler und Ullrich Kasten, die Nosferatu ebenfalls als „Tyrannenfilm“[28] einordnen. Auch Seeßlen und Jung sehen den Vampir als „das metaphysische Sinnbild politischer Diktatur“. Wie viele ähnliche Figuren in den Stummfilmen dieser Zeit sei er nur deswegen tyrannisch, weil er das Gefühl habe, nicht geliebt zu werden; er könne nur durch die Liebe bezwungen werden.[69]

Ich glaube, es ist nicht so einfach, die Mystik und das Politische bei „Nosferatu“  auseinanderzuhalten, vermutlich wohnt dem Film beides inne und das macht ihn so vielschichtig und komplett. Eine Epidemie findet statt, ein Krieg, der Aufstieg der Tyrannen, der Opfergang, aber auch die Janusköpfigkeit des Überirdischen, das alles Gute in allem zu zeigen vermag – doch auch das Böse kennt keine Grenzen, sondern mäandert längs und quer durch die Welt. Aus Murnaus sonstigem Werk lässt sich für mich nicht so leicht eine Präferenz herauslesen: Einige seiner Filme sind mehr am Metaphorischen und am Spirituellen orientiert, andere gehen sehr konkret auf die soziale Wirklichkeit ein, als Antipoden seien „Der Gang in die Nacht“ (1921) und „Der letzte Mann“ genannt. Vielleicht, wie es in einer Dokumentation über die Filme der Weimarer Zeit heißt, die mir den Zugang zu bisher unbekannten Werken geöffnet hat, weiß das Kino wirklich mehr als wir, mehr, als die Menschen, die es gemacht haben. Unbewusst also haben sie auch Einflüsse der Zeit aufgenommen und damit herausragende Bilder jener Zeit geschaffen. Sensibel etwas auf emotionaler Ebene zu erfassen, bedeutet nicht, es intellektuell bis in den letzten Winkel durchleuchten zu können. So schätze ich auch Murnau eher ein als z. B. Fritz Lang: als jemanden, der das alles in einem größeren Zusammenhang erfasst, aber sich nicht so davon distanziert – auch wenn einige der Stilmittel von „Nosferatu“ als Ausdruck von Distanz gedeutet werden. Wie etwa die Erzählweise mit mehreren Quellen, die nicht auktorial an uns herantreten, sondern als teils „unzuverlässige“ Zeugen, gesammelt durch einen Chronisten, der das, was er gehört hat, fürs Publikum zusammenträgt und seinerseits über das Geschehen nachgedacht hat, es also einordnet und deutet, wie er uns in mindestens zweien der Zwischentitel verrät.

Vordergründig ist Nosferatu eine schlichte, volksmärchenartige Erzählung, die linear auf ein Ende von unvermeidlicher Konsequenz zusteuert. Ein ähnlicher Erzählaufbau findet sich in Murnaus Der letzte Mann (1924) und Faust – eine deutsche Volkssage (1926).[39] Bei näherer Betrachtung fallen jedoch die vielen unterschiedlichen Erzählinstanzen auf, durch die die Geschichte aus den verschiedensten Blickwinkeln beleuchtet wird: der Chronist der Seuche, Hutters Chef, die abergläubischen Dorfbewohner, das „Buch der Vampyre“, sowie weitere schriftliche Erzählzeugen wie das Schiffslogbuch, Tagebuchtexte, Briefe und Zeitungsausschnitte.[40] Der Zuschauer bleibt über den Wahrheitsgehalt und die Zuverlässigkeit der einzelnen Quellen im Unklaren, zumal die Erzählpositionen oft vage und wenig definiert sind. So merkt etwa Frieda Grafe an, der Bericht des Chronisten sei „für eine Chronik zu persönlich, für ein Tagebuch zu fiktiv.“[41] Für Michael Töteberg ist Nosferatu somit „ein Versuch, die Möglichkeiten des Films zu erkunden“, ein Experimentierfeld für den Gehalt an Wahrheit in der Abbildung und ein Ausloten der Stellung des Films als erzählender Autorität.[34]

Eine wichtige narrative Funktion nehmen dabei die Zwischentitel ein. Ihre Anzahl ist mit 115 ungewöhnlich hoch.[42] Die von Albin Grau kalligraphierten Titel zeigen beim Bericht des Chronisten eine stilisierte lateinische Schreibschrift auf papierartigem Untergrund, bei den Dialogen eine grell eingefärbte, modernere Schrift und bei Briefen eine deutsche Kurrentschrift. Seiten aus dem „Buch der Vampyre“ erscheinen in einer gebrochenen Druckschrift. Die Zwischentitel wirken wie filmische EinstellungenAuf- und Abblenden umrahmen sie, die Kamera fährt auf sie zu oder entfernt sich von ihnen, Seiten werden umgeschlagen.[43]

Man hat angesichts der beeindruckenden Vielfalt der Erzählstimmen oder der Quellen, auf die sich die erzählende Stimme beruft, auch von einem Experiment mit den Möglichkeiten des neuen Mediums Film gesprochen. Ganz klar ist „Nosferatu“ entfesselt und fast so befreit von den Konventionen bis etwa 1919, wie es der Vampir von der Enge seines Schlosses ist oder zu sein scheint. Man muss es sich tatsächlich so vorstellen, dass die Filmkunst damals jedes Jahr erweitert wurde, dass dabei ein atemberaubendes Tempo zu verzeichnen war, das wir heute kaum nachvollziehen können, angesichts der Tatsache, dass es sich beim Film mittlerweile um ein „reifes“ Medium handelt. Zunächst mussten diverse technische Schwierigkeiten überwunden werden, damit war der Film in seinen ersten  zwanzig Lebensjahren befasst – und erst dann, in Deutschland wir allgemein und auch nach Selbstdefinition des Films das Jahr 1913 und „Der Student von Prag“ als Ausgangspunkt des künstlerischen Films genommen, konnte man sich aufschwingen und wahrhaft Neues schaffen, in Form und Inhalt. Dass dies mit dem Ersten Weltkrieg und dessen Ende zusammenfiel, ist gerade in Deutschland sehr logisch und die unsicherer Weimarer Zeit war ebenfalls eine des Aufbruchs. Manches war schon zuvor gestartet, in die Bahnen geführt, aber jetzt kam dieser Schwindel hinzu, der Beschleunigung zum Selbstzweck zu werden lassen schien.

Trotz seiner vielen Einstellungen und Schnitte und der oben beschrieben ungewöhnlichen Montage ist „Nosferatu“ aber kein Delirium von einem Film, sondern sehr konzentriert darauf bedacht, die richtige Wirkung zu erzeugen, jedoch  das auszuspielen, was essenziell ist und oft mit einer Lochblende abgeschlossen wird.

Die technische Perfektion, die seinerzeit nicht nur gelobt, sondern von Einzelnen auch als für einen Horrorfilm unpassend empfunden wurde, kann man heute natürlich nur noch würdigen, wenn man „Nosferatu“ mit anderen Filmen der Zeit vergleicht. Man erliegt allzu leicht den Sehgewohnheiten der 2000er Jahre, wenn man gewisse Holprigkeiten registriert, die ganz sicher nicht der absichtlich an Träumen orientierten Erzählweise liegen. Wie damals üblich, werden einige Szenen mittendrin beendet oder man erfährt nicht, wie Hutter zu den zwei kleinen Einstichen am Hals kam. Waren es doch Moskitos, da diese Stellen weitaus kleiner sind als bei anderen Opfern von Orlok? Es wirkt am Ende nicht, als ob Hutter nun der neue Dämon sei, sondern – als sei er frei. So wird es zumindest teilweise interpretiert, womit wir zu einem weiteren Thema kommen, das in diesem Film unverkennbar und gerade für heutige Augen gut sichtbar so untergebracht wird, dass es sich als Klauselsprache identifizieren lässt. Heutige Augen, die zum Beispiel 30 Jahre US-Film unter der Ägide des Production Code kennen (1934 bis ca. 1965), können manches lesen, was Kinogänger 1922 vielleicht aufgeregt hat, aber nicht so klar für sie ausdeutbar war:

Die im Schnitt des Films angelegte Abhängigkeit und Manipulation der Figuren untereinander lässt sich auch auf den Bereich der Sexualität übertragen. Gunter E. Grimm bezeichnet Nosferatu als „die traumatische Kompensation der in der bürgerlichen Gesellschaft untersagten Sexualität“.[73] Als Ellen dem Vampir schlussendlich Einlass in ihr Schlafzimmer gewährt, kann dies als Repräsentation des alten Volksglaubens gelesen werden, eine unschuldige Jungfrau könne eine Stadt vor der Pest retten. Andererseits ist auch eine Wertung naheliegend, dass die junge Frau mit ihrer Tat gegen die Zwangsinstitution Ehe rebelliert und versucht, die sexuelle Frustration ihrer Beziehung zu Hutter zu überwinden.[73] Entgegen dem asexuell gezeichneten Hutter ist der Vampir „die unterdrückte Sexualität, die in das idyllische Leben der Neuvermählten einbricht“, wie Kaes anmerkt.[72]

Für Koebner ist Nosferatu somit eine „merkwürdige, nur halb verschlüsselte Dreiecksgeschichte“ und der animalische Graf „die puritanische Verschlüsselung sexuellen Appetits“.[74] Die zügellose Triebhaftigkeit, der sich Ellen und Orlok anheimgeben, bleibt im Film nicht ungesühnt: Sowohl der Graf als auch Ellen sterben, und Hutter ist erst wieder frei, nachdem sich seine Frau in fataler, tödlicher Weise mit dem Monster vereinigt hat. Elsaesser wertet die sexuelle Konnotation des Films auch biografisch: der homosexuelle Murnau thematisiere in der Figur des Orlok „die Verschiebung und Verdrängung des eigenen homosexuellen Verlangens auf potente Doppelgänger, die die dunkle Seite der eigenen Sexualität spiegeln.“.[75] Auch Stan Brakhage nimmt einen biografischen Hintergrund an. Die Figurenkonstellation verweise auf Murnaus „eigene[n] persönlichste[n] Kindheits-Terror“; Hutter werde auf das furchtsame Kind reduziert, das dem „Vater“ Nosferatu ohnmächtig ausgeliefert ist. Ellen sei die Mutterfigur, die durch ihr Wesen und ihre Tat das Kind rettet.[76]

Die Codes verdeckt gezeigter Sexualität sind uns heute geläufig, wenn wir die Filmgeschichte weiterverfolgt haben, aber in den 1920ern wurde damit teilweise sehr offen hantiert, auch in den USA, wo nicht zuletzt dies freizügigen Darstellungen in Filmen zum Production Code geführt hatten, als sich die Zeiten hin zu mehr Sitte und zum New Deal hin wandelten. Auch wenn man diese Wende ansonsten nicht mit der zum NS-Staat vergleichen kann: Die Moral wurde konservativer, der Film blieb in Deutschland aber bezüglich sexueller Anspielungen sogar progressiver. In Maßen, versteht sich. Ich habe mich beim Anschauen auch immer wieder darüber gewundert, dass es sich um eine Jungfrau handeln muss, die den Vampir stoppen kann. Demgemäß müsste Ellen, Ehe mit Hutter hin oder her, noch Jungfrau gewesen sein. Das korrespondiert mit seinem anfangs jungenhaften, gar ein wenig kindlichen Wesen. Ich finde die Szene episch, in welcher er mit Knock Hände hält und der Junge nur an die Provision denkt und Knock bereits mit großer Freude an die Befreiung des Bösen aus dem alten Schloss und dem anderen in rascher Abfolge auf die Hand patscht. Das ist keine unterdurchschnittliche Spielleistung, sondern dezidiert stummfilmorientiert und expressionistisch in dem Maße, wie es der übrige Film ist.

In diesem Sinne stimme ich auch der Ansicht zu, dass Murnau die höchste Form des Expressionismus unter Auslassung expressionistischer Dekors erreicht hat, und wo er doch visuell besonders hervorgehoben sein soll, da reicht ein buckeliger Vampirschatten an der Wand, um dem Grauen seine Expression zu geben.

Finale

Ist „Nosferatu“ heutzutage vor allem in der Lage, Schrecken und Grauen auszulösen oder wirkt er mehr im Unterbewusstsein nach – oder ist, sich mit ihm zu befassen, nur noch Kopfkino? Ich fand ihn bei der zweiten Sichtung teilweise atemberaubend und seine Sogwirkung konnte ich zumindest nachvollziehen. Wir haben bereits eine kurze  „Empfehlung“ zu diesem Film veröffentlicht (Filmfest 164), nun folgt also die eigene Besprechung, gemäß der Wichtigkeit des Werkes als „Die große Rezension“. Vielleicht werden wir dazu irgendwann ein Update verfassen, denn es macht Spaß, in dieses alte Gemäuer des Vampirmythos zu steigen und dort immer weitere Türen zu entdecken, die uns am Ende vielleicht ins Hier und Jetzt führen werden. Ob es dann hell ist oder dunkel, wer kann das wissen? Erkenntnis soll ja leuchten. Apropos Leuchten: Als der Film herauskam, fanden ihn einige Kritiker zu gut ausgeleuchtet. Diese Ansicht wird heute nicht mehr vertreten, vielmehr wird seine düstere Farbgebung hervorgehoben. Die Welt verändert sich und wir uns mit ihr. Aber das Böse, das bleibt und das Gute wird immer wieder mit seiner Bekämpfung zu tun haben.

Allerdings ziehen wir die Grenze nun wirklich bei der Corona-Epidemie und bringen nicht auch noch den Russland-Ukraine-Krieg in die Betrachtung ein, um die Überzeitlichkeit des Grauens zu belegen, das in diesem Film prototypisch auf die Leinwand gebracht wurde.

83/100

© 2022Der Wahlberliner, Thomas Hocke

[1] , kursiv und tabellarisch: Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens – Wikipedia

[2] Nosferatu – Rotten Tomatoes

Regie Friedrich Wilhelm Murnau
Drehbuch Henrik Galeen nach Motiven des Romans Dracula von Bram Stoker
Produktion Enrico Dieckmann
Albin Grau
Musik Hans Erdmann
Kamera Fritz Arno Wagner
Günther Krampf
Besetzung

Nicht im Vorspann

 

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