Ordnung ist das halbe Sterben – Tatort 165 #Crimetime 1152 #Tatort #Berlin #Hassert #SFB #Ordnung #Sterben

Crimetime 1152 – Titelfoto © SFB / RBB

Ordnung ist das halbe Sterben ist eine Folge der ARD-Krimireihe Tatort aus dem Jahr 1985 und wurde vom Sender Freies Berlin produziert. In seinem sechsten und letzten Fall muss Kommissar Walther den Tod einer Frau mit Doppelleben aufklären.

Wir haben damit auch unsere Retrospektive alter Berlin-Tatorte  aus den 1970ern und der ersten Hälfte der 1980er Jahre abgeschlossen, die wir uns auf der Basis der Restaurierungen angeschaut haben, die der RBB im Jahr 2017 erstellt hatte. Es fehlen allerdings die Walther-Tatort 4 und 5 

Handlung

Eine Frau wird vermißt. Der Bankangestellte Ulrich Wilpert alamiert beunruhigt die Polizei, aber ihr Verschwinden klärt sich nicht auf. Ein paar Tage später entdeckt Wilpert seine Frau am Fenster eines ihm unbekannten Hauses am Rande der Stadtautobahn.

Es ist früh am Morgen, als Kommissar Walther einen Anruf erhält: Wilpert teilt ihm mit, seine Frau liege ermordet in der Tiefgarage. Die Suche nach dem Mörder beginnt, und wenn auch Wilpert klare Auskünfte erteilt, so bleibt doch der Verdacht an ihm haften.

Warum, muß sich Walther fragen, führt Wilpert ungebeten auf eigene Faust Recherchen durch. Wie in einem Duell stehen sich der Kommissar und der doch unbescholtene Bankangestellte gegenüber, der allem Anschein nach das Verbrechen genauso aufdecken will wie die Polizei. Als Walther den Tathergang rekonstruieren will, wird er von Wilpert in eine Falle gelockt. Zwar glaubt er, das Spiel zu durchschauen, aber ein Pistolenschuß macht ihm klar, daß er doch reingefallen ist.

Rezension

Es ist mit den Tatorten wie mit so vielen Filmen, man ist hin- und hergerissen. Da gibt einerseits Werner Jacobi im Jahr 1985 einen Spießer, der aus den 1950ern übriggeblieben ist, wie sein Verhalten und seine Wohnung belegen. Hingegen seine Frau im Doppelleben: zeitaktuell. Hervorragend gespielt, in vielen Details zu würdigen. Da ist andererseits ein Drehbuch, dessen Fehler die die Klöpse in heutigen Scripts verblassen lassen. Deshalb ist es nicht ungerecht, heutige Bücher zu kritisieren, aber es relativiert sich alles.

Wirklich? Man muss die alten Berliner Tatorte beinahe als Sondergenre „Krimi absurd“ sehen, so krude ist ihre Logik bzw. ihr Umgang mit der Logik meistens – das änderte sich erst mit dem Einsatz von Kommissar Markowitz, da passten auf einmal tolle Atmosphäre und Handlungsqualität einigermaßen zusammen. Hier ist schon der Titel so schräg, dass man darüber eine Abhandlung schreiben könnte.

Allein, wie in „Ordnung ist das halbe Sterben“ der Wilpert im Umleitungsstau steht, weil es damals wohl noch nicht den ohnehin täglichen Stau auf der A100 gab und dann von dort aus sieht, wie seine Frau sich nackt am offenen Fenster zeigt, das ist schon eine mutige Drehbuchvolte. Ein Jahr später wäre sie ohnehin unmöglich gewesen, denn etwa ab 1986 war das Wissen über die neue Krankheit AIDS so weit verbreitet, dass jeder wusste, dass das Anschauen textilfreier Menschen aus der Ferne bereits höchst gefährlich ist. Heute nennt man das PC und es hat dann noch etwas gedauert, bis alle Voyeure und Regisseure wirklich vom Beobachten / Zurschaustellen lassen konnten. Und dann die andere Frau im Film, die Putzfrau. Gut, dass wir in dem Haus, in dem meine Fremdgeh-Zweitwohnung liegt, einen putzenden Mann haben, sonst hätte ich nach diesem Tatort keine ruhige Minute mehr. Woher weiß diese grausame und gerissene Frau bloß den Namen Wilpert und verplappert ihn auch noch an Hassert.

Hassert, das ist der Assistent von Walther, dem Kommissar. Und Walther spielt echt unsympathisch, noch mehr als sonst. Vielleicht wusste er, dass er aufhören muss oder will. Vielleicht war er auch sauer, weil das Drehbuch es neben seinen anderen irren Bestandteilen vorsah, dass Hassert die bessere Nase hat und nicht an Wilperts Schuld glaubt. Wenn der Schauspieler so eitel ist, wie seine Figur rüberkommt, könnten sich Realität und Rollenprofil eventuell zu einem einzigen Klumpen Rotzigkeit zusammengezogen haben.

Und erst das Ende in der Tiefgarage, wo Wilpert die Polizisten dazu provoziert, ihn umzubringen. Das Ende setzt einem üblen Handlungsverlauf die Dornenkrone auf, die jedem einigermaßen mit Krimis vertrauten Zuschauer Hirnstechen verursacht. Das war ja in den letzten Jahren auch mal wieder so eine Mode, dass die Täterfigur sich am Ende noch schnell dramatisch umbringt oder umbringen lässt. Nur ist Wilpert nicht der Täter. Sein Quasi-Selbstmord ist vielmehr durch etwas motiviert, das man heute beinahe nicht mehr verstehen kann: durch massiv verletztes  Scham- und Ehrgefühl. Vor Schreck über das schrecklich  überstylte Ende denkt man schon gar nicht mehr daran, dass es genauso fragwürdig begann, nämlich mit der Tasche von Frau Wilpert, deren Wegschmiss in den Wald zum relevanten Zeitpunkt und grundsätzlich keinen Sinn ergibt.

Gerade, wenn man in Berlin wohnt, wo Entgrenzung eine Art Kulturbestandteil ist, schaut man diesem Typ zu und ist fasziniert, weil er so mysteriös auf uns Heutige wirkt. Seine defensiv-penetrante Art, sein Lebenssetting, sein Opel Kadett. Meist nimmt man, um besonders konservative Figuren zu zeichnen, das Vormodell einer aktuellen Reihe eines unauffälligen Autos. In diesem Fall sind wir auf der Grenze. Der E-Kadett, der viel moderner aussah, auch moderner oder weniger bieder als sein eigener Nachfolger Astra A, und heute Kultstatus hat, kam 1984 heraus, etwa zu der Zeit, als der Film gedreht wurde.

Wir, in unsere Zeit, wenn das passiert, dass die Frau erst ein Doppelleben aufbaut und dann abhaut, suchen uns umgehend online die nächste und klagen gleichzeitig ihr und in allen sozialen Netzwerken unser, wenn man genauer hinschaut, selbst verursachtes Leid so drastisch, dass wir dafür mehr Likes und Hugs bekommen, als wenn uns mal was gelingt.

Letzteres ist in Berlin aber auch viel schwieriger, als Beziehungs- und sonstige Fails zu produzieren. Wie kann es bloß vorkommen, dass eine Figur so schön erdacht ist wie Wilpert, auch der Beruf passt absolut, es handelt sich ja hier nicht um einen Investmentzocker, sondern um einen gewissenhaften Kassierer, wie es sie mal gab, bevor der Computer sogar die Kreditlinienvergabe übernommen hat und jeden Monat irgendwas dran ändert, um seine Existenzrelevanz nachzuweisen.

Ich hatte bei diesem Tatort wieder einmal das Gefühl, dass die 1980er, die ich ja immerhin schon erlebt habe, in ebenjenem Tatort viel ferner wirken, als sie mir persönlich sind, wirken, als ob das eine andere Welt gewesen wäre. Natürlich, die Wende war noch vier Jahre entfernt, aber eben nur vier Jahre. Und es ist dieses 1950er-Gefühl, das Wilpert ausstrahlt, das die gefühlte Distanz zum Jahr 1985 so enorm wirken lässt.

Über diesen Mann noch ein paar Zeilen. Haben Sie beobachtet oder beobachten Sie mal, falls Sie den Film noch nicht gesehen haben, wie er sich während und nach den beiden Gefängnisaufenthalten sehr unterschiedlich verhält. Beim ersten Mal scheint alles noch gut zu sein. Man kann ihm nichts nachweisen und das Doppelleben seiner Frau ist noch nicht aufgeflogen. Er kommt frei, geht beschwingt über die Straße und schaut sogar einer Sexarbeiterin lächelnd nach. Da denkt Zuschauer noch, der Schlaumi, freut sich, dass er alle drangekriegt hat. Tut er ja auch, aber anders, als man denkt, und das ist fein gemacht und stemmt sich mächtig gegen den Verriss, den einige Handlungselemente, siehe oben, provozieren. Beim zweiten Mal ist es noch besser, er ist sich ganz sicher, dass das wieder nix wird, mit seinem dauerhaften Einfahren. Doch während er freudig vor sich hin brummt, wird der Hintergrund seiner Frau offenkundig und als er dann doch frei kommt, schleicht er geradezu von dannen und nimmt es gar nicht wahr, dass ihn nun eine Prostituierte anlächelt.

Schon, als Wilpert umgehend nach dem Tod seiner Frau die Fotos verbrennt, merkt man, dieser Spießer ist aus dem Gleichgewicht. Man ahnt allerdings auch, dass er etwas entdeckt hat, wovon man ausgeht, ist, dass er sie deswegen umgebracht hat. Analysiert man ihn, war es vielleicht logisch, dass sie fremdging, denn er war an der Ehe als bürgerlicher Institution interessiert, nicht am emotionalen Zugang zu dieser Frau. Er ist sehr verletzlich, kann sich aber nicht öffnen. Werner Jacobi mit etwas unkonturiertem und sehr bieder wirkenden Ausdruck ist perfekt für diese Rolle. Und er hätte mich nicht weniger berührt, wenn man ihn am Ende in jenem Imbiss gezeigt hätte, wie er so angelehnt an den Bistrotisch steht. Verloren, vernichtet. Dass der Film dann noch weitergeht, ist geradezu ein Übergriff und wenn man bedenkt, wie schön Wilpert inszeniert wird, fragt man sich verzweifelt, wie man mit den letzten Minuten so viel kaputtmachen kann vom Flair des Ganzen.

Finale

Nun ist ja Verzweiflung über das Niveau audiovisueller Medien, insbesondere deutscher Fernsehserien und –reihen genau das, woraus Kritiker ihren Honig saugen, deswegen hält sich meine Wut über einige Drehbuchstellen und besonders das Ende in Grenzen. Und es war. War einmal. Ist vorbei; Walther ist seit über 30 Jahren außer Dienst und es gibt keine Menschen mehr wie den Wilpert. Vermutlich ist auch die Suizidrate aus Mangel an Gefühl für den persönlichen Fail seit damals gesunken, wir sind viel toleranter geworden, auch unserem eigenen Missgeschicken gegnüber. Geht auch nicht anders, sonst wäre Berlin leer, nicht überfüllt, siehe oben. Man könnte seinem Charakter eine tiefere Bedeutung zuschreiben, aber das ginge zu weit. Diesen Menschentyp, diesen gewissen Wilpert, den gab es früher auch in anderen Ländern ganz gewiss und in einigen, in denen Respekt und Ehre eine höhere Bedeutung haben als bei uns, kann man sich auch vorstellen, dass die betrogenen Ehepartner wirklich die Täter sind, wenn es um ein Tötungsdelikt geht, heute noch, jederzeit.

Ein klasse ausgespieler Verdächtigen-Part steht einer komplett nachlässigen oder auch dreisten Handlungsführung gegenüber, nun müsste sich das gegenseitig aufheben und genau in der Mitte enden, bei 5/10. Tut es aber nicht, dank Werner Jacobi. Der bringt einen Punkt extra. Ich ziehe ihn auch nicht wegen des idiotischen Titels wieder ab.

6/10

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2017)

Regie Wolfgang Tumler
Drehbuch Detlef Michel
Produktion Horst Borasch
Musik Christian Kunert
Kamera Gérard Vandenberg
Schnitt Friederike Badekow
Premiere 6. Jan. 1985 auf Deutsches Fernsehen
Besetzung

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