Mehr Demokratie wagen! „Volksherrschaft“, die diesen Namen verdient, braucht neue Formen der Bürgerbeteiligung (Christian Fischer, Rubikon) #Demokratie #Volksabstimmung #Grundgesetz #GG #direkteDemokratie #Parlament #Exekutive #Judikate #Legislative #Berlin #Partizipation #Gemeinwohl #Solidarität

Wir haben wieder mal einen Titel geändert. Der Beitrag von Christian Fischer, den wir empfehlen und kommentieren, heißt eigentlich „Die Pseudo-Demokratie“ und fängt auch mit starken Worten in diese Richtung an, doch im Verlauf überwiegt die sachliche Darstellung wichtiger Informationen über die Demokratie, wie sie gegenwärtig nach deutschem Muster funktioniert und belegt, dass vieles im Argen liegt, aber das Prinzip doch stimmt.

Das Grundgesetz bietet mehr, wie an vielen Stellen, als derzeit verwirklicht wird, müsste aber auch stellenweise geändert werden. Es geht also darum, was man verbessern sollte. Häufig publiziert Fischer in der Schweiz und das merkt man seiner Sichtweise an. Obwohl man immer etwas vorsichtig sein muss mit OECD-Panels, gleich, ob sie auf Fakten beruhen oder auf Umfragen, ist auffällig, dass die Schweizer_innen mit ihrer Demokratie zufriedener sind als alle anderen, wenn solche auf Umfragen basierenden Rankings veröffentlicht werden.

Allerdings ist die dort geübte direkte Partizipation per Volksabstimmungen auch sehr alt und nicht durch Einbrüche wie zwei Diktaturen gekennzeichnet, die, vor allem, wenn es um die NS-Herrschaft geht, ein gewisses Misstrauen in die politische Vernunft der Mehrheit evozieren. Um neue Formen der Bürgerbeteiligung, wie es der Subtitel des Beitrags suggeriert, geht es eigentlich auch nicht, sondern darum, wie man bekannte Instrumente mehr einsetzt.

Wir können wegen der Rückdatierung dieses Beitrags nicht auf aktuellste Diskussionen eingehen, aber wenn man sich politische Talkshows mit Parteivertreter_innen und Journalist_innen anschaut und das Niveau, das dabei erzielt wird, kommt man leicht auf die Idee, dass der Parteienstaat die Demokratie degeneriert hat, dass er die falschen Persönlichkeiten und damit die falschen Denk- und Verhaltensmuster fördert. In anderen europäischen Ländern sind die klassischen Parteiensysteme auch stärker erodiert als in Deutschland – und Bewegungen bestimmen das Bild. Gerade diese Bewegungen sind aber auch fragwürdig bezüglich ihres Mehrwerts für die Demokratie und dürfen nicht mit partizipativen Strukturen verwechselt werden. Es versammeln sich lediglich Menschen hinter neu wirkenden Köpfen, die dadurch schneller nach vorne kommen können, als wenn sie die „Ochsentour“ durch traditionelle Kaderparteien machen müssten.

Es gibt bei uns keine Konkurrenz der Parteien-Heerscharen mit sachorientierten Volksvertreter_innen, die tatsächlich unabhängig sind, das ist eine Kernkritik in Christian Fischers Beitrag.

Allein die grundgesetzliche Festlegung, dass Abgeordnete nur ihrem Gewissen – und dieses sollte nicht zuletzt durch den Willen derjenigen geprägt sein, die der betreffenden Person durch ihre Stimmen ins Parlament verholfen haben – verpflichtet sind, muss für besondere Abstimmungen erst einmal wieder eingeführt werden, ansonsten: Fraktions- und Koalitionszwang.

Der von denen, die gerne alles verwässern, so gerühmte Kompromiss wird dadurch oft zu etwas ganz anderem bzw. dies wird als Kompromiss verbrämt: Die hemmungslose Unterstützung einer kleinen, kapitalstarken Minderheit zulasten der Mehrheit, die sich durch solche auffällig antidemokratischen Verhaltensweisen von Volksvertretern nicht mehr repräsentiert fühlt.

Es liegt nah, dass insbesondere die Parteilisten, über die viele Abgeordnete den Weg in die Parlamente finden, nicht gerade die Eigenständigkeit der eben nicht direkt Gewählten fördern. Die vielen Überhangmandate im Bundestag sind also nach Christian Fischer auch der Ausdruck einer Fehlentwicklung in der Demokratie.

Wir sind ja auch arm dran mit den gegenwärtigen Parteipolitikern. Wir  müssen uns beispielsweise nicht einbilden, dass ernsthaft klimafreundliche Politik gemacht werden wird, wenn alles erst im Bundestag zwischen überwiegend konservativen Kräften vermittelt und dann noch durch den Schlauch der EU-Kommission muss, die als nicht demokratisch legitimierte Institution wesentlich über den hiesigen politischen Alltag bestimmt und die unter Jean-Claude Juncker strikt neoliberal ausgerichtet ist.

Allerdings erhielten grüne Parteien, wenngleich gestärkt, bei der Europawahl 2019 lediglich ca. 12 Prozent der Sitze im Europäischen Parlament. Dass es nicht mehr wurden, liegt daran, dass in vielen Ländern der EU auch im FfF-Jahr 2019 grüne Themen weitaus weniger im Vordergrund standen als bei uns.

Natürlich könnten wir anders wählen, wenn wir uns denn trauten, das verschweigt der Beitrag allerdings und folgt der bei vielen Alternativmedien vorhandenen Grundlinie, dass wir den „Systemparteien“, die es in der Tat gibt, gar nicht anders als durch eine neue Orientierung des demokratischen Systems entkommen können. Klar wäre das möglich, wenn wir mutiger und systemkritischer wären. Wir, jetzt gemeint im engeren Sinne, haben uns bei der Europawahl, nachdem wir zunächst gar nicht mitun wollten, dafür entschieden, nicht unsere eigene Partei, sondern eine zu wählen, die links davon steht.

Allerdings müsste der Umschwung sehr plötzlich erfolgen, damit eine bisher systemkritische Partei kaum Zeit hat, sich anzupassen und sich ohne jahrelange Lobbyinfiltration mit der Möglichkeit konfrontiert sieht, tatsächlich etwas zu entscheiden und sich dabei wenigstens für eine Zeit den Veränderungswillen bewahrt.

Diesen Veränderungswillen könnte aber man in einer mehr von Abstimmungen zu Sachthemen geprägten Demokratie unterstützen. Es kann ohnehin nicht viel Schlimmes passieren, denn die Grundrechte der Minderheiten stehen dagegen – sie werden durch die Parteiendemokratie und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu manchen Themen so sehr verletzt, dass eine direktere Demokratie vielleicht heilende Wirkung hätte.

Das Gefühl, tatsächlich partizipieren zu dürfen, macht Menschen in der Regel eher toleranter. Die gegenwärtige, sehr konfrontative Diskussion um den Mietenwahnsinn belegt das nach unserer Ansicht: Nur, weil die Menschen in Angst und Wut sind, sich Sorgen um ihre Existenz machen und ihnen die Parteiendemokratie nicht helfen will, wird nun auch von Seiten der Stadtgesellschaft und nicht mehr nur von wenigen Radikalen der Ton härter.

Wie die Anpassung an den finanzkapitalismusaffinen „Mittelweg“, der unter heutigen Gegebenheiten ein Holzweg ist, derzeit allen wichtigen Parteien außer den Grünen massive Stimmenverluste einbringt, zuletzt z. B. auch der LINKEn, sieht man jedoch und auch das ist ein Ausdruck von Demokratie. Ob er von den Parteien verstanden wird, ist eine andere Sache, die jüngsten Diskussionen lassen eher die Befürchtung zu, dass deren Abspaltung von der Wirklichkeit sich verstärkt und die Schuld bei den Falschen gesucht wird.

Auf Länderebene sieht es etwas besser aus als im Bund, in Berlin ist das Volksbegehren und ist die Volksabstimmung nicht nur mittlerweile ein Instrument der Umsetzung politischer Mehrheitswünsche, sondern stößt größere und wichtige Debatten an, wie die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, die gute Chancen hat, den Gesetzgeber in Berlin zu einer Reaktion herauszufordern und außerdem dazu geführt hat, dass weitere Instrumente auf den Tisch kamen, beispielsweise der Mietendeckel. Auch das Nachdenken über das Ungleichland über das Sujet Wohnen hinaus wird dadurch gefördert.

In Berlin hat allerdings auch vor nicht allzu langer Zeit per Volksabstimmung eine Mehrheit für die Offenhaltung des Flughafens Tegel votiert und der Senat hat diesen Wunsch beiseite geschoben.

Weil wir in diesem Fall nicht bei der Mehrheit waren, fanden wir das nicht so schlimm, woran man sieht, dass der Wunsch nach Demokratie immer dann zunimmt, wenn die eigenen Interessen oder Ansichten auf parlamentarischem Weg nicht so leicht durchsetzbar sind. Wenn man ein Verfechter der direkten Beteiligung ist und das in jedem Fall ernst meint, müsste man aber auch dieses Verhalten der Berliner Regierung kritisieren.

Dennoch wollen wir unbedingt für mehr Partizipation plädieren, denn die Zivilgesellschaft muss auch lernen dürfen, wie man mit mehr Macht umgeht, ohne dass das Ganze zu einer überwiegenden NIMBY-Veranstaltung wird. Sie könnte dann beweisen, dass sie, trotz Prägung der Partizipanten im Konkurrenzmodell, in der Lage ist, solidarisch zu sein –  übers eigene Milieu hinaus, mithin am Gemeinwohl orientiert.

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Kommentar 2xx / EBA 29

Kritisch schauen und immer wieder Beiträge außerhalb des Mainstreams und vor allem jenseits unserer aktuellen Zentralthemen lesen, über die wir selbst schreiben – das ist eine Aufgabe, die der Wahlberliner sich gestellt hat. 

Wir empfehlen. in der Regel kommentieren wir die Empfehlungen kurz oder versuchen, die darin geäußerten Gedanken weiterzuführen. Unsere bisherigen Empfehlungsbeiträge der Serie „Jeden Tag ein Blick nach draußen“: 


Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Hinterlasse einen Kommentar