Vollbremsung – das Auto muss weg (Klaus Gietinger, Telepolis) #Automobil #Vollbremsung #Auto #SUV #BVG #ÖPNV #Bahn #Fahrrad #Bus #Wegwerfgesellschaft #Konsum #BMW

Nachdem wir vorgestern die Bekleidungsindustrie angegriffen haben und die Konsumenten, also Menschen, denen wir immerhin täglich begegnen, dachten wir, lasst uns doch gleich weitermachen und zum größten Konsmfetisch unserer Zeit kommen, das Maximum herausgreifen: Das Auto.

Und keine halben Sachen. Das Auto muss weg! Das verlangt Klaus Gietinger in Telepolis, womit er auch sein gleichnamiges, 192 Seiten starkes Buch bespricht.

Wir versprechen aber an dieser Stelle schon, wir werden demnächst auch hin und wieder etwas Schönes vorstellen, etwas für eine bessere Zukunft, denn nur alles schlecht machen, geht auch wieder nicht. Tun wir in den Kommentaren zu den Beiträgen ohnehin immer mal wieder, das Gute am Konsumverzicht anpreisen, wie zum Beispiel qualitatives Wachstum als eine Möglichkeit, die Ressourcenverschwendung zu bremsen – was ja nichts anderes bedeutet als die Rückkehr zu langlebigen und qualitativ Gütern, eine Neuauflage von Made in Germany, wie es mal war. Die asiatische Billigkonkurrenz, die hierzulande tiefe Schneisen in die Industrielandschaft gepflügt hat, war nur ein Zwischenspiel, ein Mücken … ähm, ein Wimpernschlag der Geschichte. Ein schwacher Moment der Industriegeschichte.

Komischerweise gelten die hierzulande entstehenden Autos irgendwie als Premium, auch wenn ihre Vorteile gegenüber den Preisaufschlägen eher gering sind – von der zu hohen Motorisierung abgesehen, die offenbar nahtlos ins Elektrozeitalter übertragen werden soll, wenn man sich neueste E-Produkte deutscher Herkunft so anschaut. Wer jetzt nickt, der soll ich mal fragen, warum er für einen Apple-Computer, der auch in China hergestellt wird, wie fast alle anderen Computer, doppelt so viel ausgibt, obwohl diese Produkte in keiner Weise nachhaltiger sind als z. B. welche von anderen Herstellern. Wir kommen aber im Verlauf noch auf diesen kritikwürdigen Effekt.

Der Ansatz von Klaus Gietinger ist radikal, wir stellen ihn auch nur als Dikussionsbeitrag zur Verfügung. Wir meinen aber auch, es ergibt sich ein Gesamtbild, daher sammeln wir Beiträge zur Zukunft unserer Welt, die verschiedene Aspekte einer Wandlung hin zur Nachhaltigkeit beleuchten. Zum Beispiel haben wir uns vor einiger Zeit mit Arbeitszeitverkürzung und deren positiver Auswirkung auf das Klima und die Umwelt befasst. Eine Arbeitszeitverkürzung macht aber auch viele Autofahrten und überhaupt viele tägliche Fahrten überflüssig. Wenn wir morgens in die Gesichter in der U-Bahn schauen, haben wir sowieso den Eindruck, dass auch diejenigen, die nicht individuell, sondern in einem Massenverkehrsmittel unterwegs sind, etwas weniger Rumfahren gut gebrauchen könnten, um sich wohler zu fühlen. Besonders an Montagen, Dienstagen, Mittwochen und Donnerstagen scheinen viele Menschen mit Mordgedanken unterwegs zu sein, nach deren Mimik zu urteilen.

Man darf also alles, was wir hier empfehlungsweise anbieten, nicht isoliert betrachten und aus den Produkten, die nicht oder viel weniger umweltschädlich sind, kann man auch eine neue Erzählung ableiten. Immer vor sich selbst wegrennen, wie die Deutschen es bekanntlich besonders gerne tun und deswegen nicht mal ein Tempolimit auf Autobahnen zulassen, wirkt jedenfalls nicht sehr zukunftsorientiert. Nein, bei sich stehen bleiben, nachdenken, warum man bestimmte Dinge überhaupt tut oder nötig hat, kann ein Umdenken bewirken. Wir sind früher schon auch mal gerne spazieren gefahren, einfach so, mit dem Auto, aber es gibt keinen Grund, das nicht mit der Bahn zu tun und sein Fahrrad mitzunehmen.

Wir müssen eben wieder lernen, das Geschwindigeitserlebnis, das es sonntags und abseits der großen Baustellengebiete durchaus noch gibt, durch das Naturerlebnis zu ersetzen. Das war doch mal ein deutsches Ding, raus in die Natur. Kein Mensch hatte damals aber ein Auto respektive kaum jemand eine eigene Kutsche. Vielleicht ein Pferd. Manche hatten vielleicht ein Pferd oder zwei.

Die heutige benzingetränkte Entfremdung ist noch nicht so alt, dass sie sich schon in unseren Genen festgefressen hätte, also nur Mut. Dass die junge Generation so verzichtsbereit ist, hat allerdings ganz simple Gründe: Man muss erstmal einen Job haben, der finanziell so ausgestattet ist, dass man stressfrei ein Auto halten kann. Auch in Berlin nimmt die Zahl der zugelassenen Autos immer mehr zu. Hier sieht man das sehr eindeutig, jedes Jahr werden es ein paar tausend Benzinfresser mehr. Klar, die Einwohnerzahl steigt auch, aber es kommt nicht etwa zu einer geringeren Autodichte pro Person, die Steigerung der Autozahlen ist ziemlich genau parallel 1:3 gegenüber dem Bevölkerungszuwachs, was auch der bisherigen, relativ geringen Autodichte entspricht: Eins auf drei Einwohner. In dem Flächenland, aus dem wir stammen, sind es fast doppelt so viele. Ein Umdenken ist aber nicht zu erkennen.

Und nicht nur das, die Autos werden immer schneller, stärker, schwerer und alle technischen Fortschritte führen daher kaum zu geringerem Verbrauch und zu geringeren Emissionen, aber zu höherem Platzverbrauch, weil jede neue Modellgeneration irgendwie wachsen muss – und erst die SUVs. Kürzlich kam die Meldung, dass in Deutschland im Jahr 2018 erstmals mehr als eine Million SUVs neu zugelassen wurden. Ist das irre oder ist das irre? So wenig Gelände, so viele angeblich geländetaugliche Autos. Die Veränderung des Berliner Autobestands bezüglich seiner Zusammensetzung sagt klar aus, dass es hier besonders irre ist.

Vergleichen Sie mal bitte das, was heute an den Straßenrändern seht, mit dem, was man auf Google StreetView sieht. Die Bilder wurden 2008 gemacht, Google traut sich mit seinen Kamera-Autos nicht so oft nach Berlin wie in andere Gegenden, in denen immer wieder ältere durch neuere Fotos ausgetauscht werden. Dokumentarisch ist das aber ein großer Vorteil. Beim Betrachten dieser Bilder sieht man den Unterschied nämlich mittlerweile gut. Im täglichen Leben bemerkt man ihn nicht ständig, weil die Veränderung schleichend verläuft, wie manche andere seltsame und oft mit diesem Auftrieb an Protzkisten verbundene Veränderung.

Es hilft leider nichts, es muss sich was ändern, denn eines nimmt in Berlin nicht zu: Die Fläche für Autos zum Fahren und zum Parken. Klar, größere neue Gebäude müssen Tiefgaragen haben, aber letztlich ist das auch nur eine Zwischenlösung, die viel baulichen Aufwand verursacht und damit das Klima und die Umwelt beeinträchtigt – und wir betrachten mit zunehmender Sympathie den Kampf in bestimmten Kiezen um die Zurückdrängung der Autos aus dem Straßenbild. Letztlich ist er ein Teil des Kampfes gegen einen alles verschlingenden Kapitalismus, auch das sollten wir im Blick haben. Möglich, dass uns Beiträge wie dieser in der Entwicklung unserer Fanzahlen (weiter) einbremsen, aber wir schreiben ja im Wesentlichen aus Überzeugung.

Das Interessante für die einen und das Problem für andere ist. Wenn man erst einmal angefangen hat, über den Sinn und Unsinn unserer Konsum- und Betonwelt nachzudenken und was wir alles tun, um die Erde so schnell wie möglich zu ruinieren, dann gibt es kaum einen Halt auf dem geraden Weg. Natürlich, man kann in die NIMBY-Sackgasse abbiegen oder sagen, bis hierher und nicht weiter, meine 2 x 2 Flüge in die Karibik und zurück pro Jahr lasse ich mir nicht nehmen. Viele denken wirklich so und alle, die weiterdenken, sind schnell Klimanazis, wenn es um die Bequemlichkeit oder um Gewohnheiten geht, von denen man sich wirklich mal fragen muss, wo sie herkommen und was damit ausgedrückt wird.

Aber das Auto ist kein jederzeit sinnvolles Alltagsprodukt mehr, sondern ein Fetisch. Und zwar ein wesentlich umweltschädlicherer als die meisten Fetische. Der übelste, vom selteneren Privatjet- und Motorjacht-Fetisch abgesehen.

Und es ist ein Suchtmittel, damit hat Klaus Gietinger auf jeden Fall Recht. Süchte sind schwer zu verbieten, aber oft therapierbar und man kann die Preise für das Frönen dieser Süchte in astronomische Höhen treiben, wie bei den Zigaretten. Gibt es schon Autosucht-Entzugskliniken? Da steht dem medizinischen Komplex noch ein großes Erweiterungsfeld offen, mit dessen privatwirschaftlicher Ausgestaltung man einen Teil des BIP-Verlustes durch weniger Autoverkauf und -produktion auffangen könnte.

Die Folgekosten des Autoverkehrs sind ohnehin um ein Mehrfaches höher als das, was Autofahrer selbst dafür zahlen müssen – ähnlich wie beim Alkohol. Bier ist nicht so teuer, unverständlicherweise kosten simple nicht-alkoholische Getränke oft mehr, Schäden durch Alkoholismus sind schwer zu beziffern, dürften aber einen hohen Milliardenbetrag jährlich betragen, für den die Gesellschaft im Ganzen aufkommen muss.

Dass wir hier die Autosucht mit dem Alkoholismus vergleichen, ist durchaus kein Zufall. Allerdings kommt beim Auto etwas hinzu, was nicht totzukriegen und eine spezielle Ausformung von Suchtverhalten darstellt: Das Prestigedenken. Wir haben es oben schon angedeutet und man könnte es ebenso „Apple-Effekt“ wie „BMW-Effekt“ nennen (für jene, die BMWs scheußlich finden: Jede „Premium“-Marke ist an der Stelle beliebig einsetzbar).

Dieses rückständige Denken ist in weiten Kreisen, auch speziellen städtischen Milieus, immer noch weit verbreitet unnd stellenweise breitet es sich sogar weiter aus.

Welchen Quatsch jemand macht, um sich abzuheben, ist seine Sache, solange es seine Sache ist. Es darf aber nicht den anderen, die davon Abstand halten oder genommen haben, die Umwelt verpesten oder zustellen. Auch das ist Demokratie: Dass nicht ein paar retardierte Angeber dem größeren Rest ungefragt ihren Lifestyle aufs Auge drücken und den größeren Rest jeden Tag daran erinnern, wie schwierig gesellschaftliche Progression sich darstellt und wie zum Verzweifeln die Anstrengungen für ein nachhaltigeres Leben oft sind, wenn sie nicht – ja, eben doch administrativ unterstützt werden.

Im Stadtraum wohnen wir alle zusammen und wir haben ein Recht auf Stadt. Darüber schreiben wir im Zusammenhang mit dem Mietenwahnsinn recht oft, aber auch der Aspekt der Gestaltung des Verkehrsraums und des öffentlichen Raums im Ganzen gehört dazu.

Vermutlich ist das wieder ein Fehlzitat, welches die Rechten im Netz umgehen lassen, weil sie sich auf bestimmte Politiker_innen besonders eingeschossen haben, aber wenn zum Beispiel der Hofreiter Toni von den Grünen wirklich gesagt hat, das Benzin müsste 6 oder 7 Euro pro Liter kosten, dann hat er damit lediglich einer schlichten Tatsache im wörtlichen Sinn Rechnung getragen: Das könnte der faire Preis für die echten Folgekosten der Verwendung von Autos sein, über den gesamten Lebenszeitraum eines solchen Vehikels hinweg. Falls es überhaupt hinkommt, wir sind uns nicht sicher, ob der ökologische Fußabdruck oder die ökologische Radspur eines Autos nicht noch breiter ist.

Einige Ansätze von Gietinger erscheinen radikal, andere hingegen gar nicht. Es steht auch Fragwürdiges in dem Beitrag wie das von den Nazis gepushte Auto, andere Länder hatten in den 1930ern eine höhere Autodichte als Deutschland – die Tendenz zum Auto ist kein typisches Merkmal für den NS-Staat, trotz des KdF-Wagens, der den „Rückstand“ beseitigen sollte. Und wichtige Aspekte wie die sachgerechte Ausstattung des ÖPNV mit Fahrrad-Mitnahmemöglichkeiten werden nicht angesprochen. In Berlin kann man zu Stoßzeiten das Mitnehmen des Fahrrades in der U-Bahn vergessen. Priorität hat immer der Transport von Fahrgästen. Es ist ja auch richtig, dass nicht für ein Fahrrad drei oder vier Menschen draußen bleiben müssen, aber dann muss eben die Taktung erhöht oder jeweils ein Wagen für Fahrrad-Bahn-Pendler angehängt werden. Damit kann man auch ein Geschäft machen, denn die Mitnahme von Rädern kostet bekanntlich extra. Sollte sie nicht, aber man kann nicht alles auf einmal verlangen. Der ÖPNV umsonst ist eine Vision, die von den Autofahrern zu bezahlen wäre, aber gegenwärtig werden in Berlin eher neue Ungleichheiten geschaffen. Wieso dürfen Schüler umsonst fahren, die reiche Eltern haben, viele andere Gruppen, die finanziell knapper dran sind, jedoch nicht?

Aber wir wollen nicht abschweifen. Das Auto muss weg. Sagt Klaus Gietinger. Er schreibt zumindest im Telepolis-Artikel nur übers Auto, das wirkt sehr harsch auf viele Menschen, aber wir haben es bereits oben angerissen und in seinem Buch stellt er das vielleicht auch mehr heraus: Das vernetzte Denken verknüpft die Notwendigkeit, den motorisierten Individualverkehr zu begrenzen, mit anderen sinnvollen Reduktionen wie jener der Arbeitszeit, jene wiederum mit einem besseren Steuer- und Verteilungssystem. Mit Veränderungen also, die gut für ein gutes Leben sind. So wird ein bequemer, die geistige und körperliche Fitness fördernder Laufschuh daraus und der Fußabdruck dieses Schuhs macht keine Probleme, wenn es um seine ökologische Vermessung geht.

TH

EBA 39

Kritisch schauen und immer wieder Beiträge außerhalb des Mainstreams und vor allem jenseits unserer aktuellen Zentralthemen lesen, über die wir selbst schreiben – das ist eine Aufgabe, die der Wahlberliner sich gestellt hat. 

Wir empfehlen. in der Regel kommentieren wir die Empfehlungen kurz oder versuchen, die darin geäußerten Gedanken weiterzuführen. Unsere bisherigen Empfehlungsbeiträge der Serie „Jeden Tag ein Blick nach draußen“: 


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