Werden die USA sozialistisch? – Kommentar zu Florian Rötzer, Telepolis / #USA #Socialism #Neoliberalism #Capitalism #Trump #Communism #Commies

Mit dem heutigen Empfehlungsbeitrag „Werden die USA sozialistisch?„, den Florian Rötzer für „Telepolis“ geschrieben hat, starten wir auch das „Dossier USA“, das sich vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht mit den Vereinigten Staaten von Amerika befasst. Selbstredend fließen dabei alle Aspekte amerikanischer Politik ein, denn in diesem, aber nicht nur in diesem Land wird alles von der Wirtschaft her gedacht.

Die Frage, ob die USA sozialistisch werden, die Florian Rötzer in Telepolis stellt, wirkt auf den ersten Blick, als ob die Idee, die Erde sei eine Scheibe, vielleicht doch wieder diskussionsfähig sein könnte. Wir empfehlen diesen Artikel  einerseits in der Reihe „empfohlene Beiträge anderer Autoren“, wollen aber mit ihm auch ein Dossier über die USA starten.

Dabei ist uns klar, dass wir, anders als bei unserer China-Serie, über einen Gegenstand schreiben, den viele als ihnen sehr bekannt einstufen dürften. Der Ansatzpunkt kann also nicht sein, überhaupt Informationen zu liefern, sondern einen besonderen und besonders dezidierten Blickwinkel einzunehmen. Dass eine linke Sicht auf die USA kritisch sein muss, versteht sich von selbst, aber wir werden strikt antiamerikanische, vor allem verschwörungstheortische Sichtweisen, ebenfalls mit gebotenem Abstand kommentieren und bei deren Einbindung in eine US-Betrachtung darauf hinweisen, wenn wir sie als eine Wahrnehnmungsweise ansehen. Andererseits darf man nicht zu kleinteilig denken. Selbstverständlich ist die Ballung von Kapital, die wir heute nicht nur in den USA sehen, demokratiegfährdend und es gibt nie ein Machtvakuum.

Wo eine Seite, die Politik signalisiert, dass sie gerne Verantwortung abgeben würde, werden die Großkonzerne und mächtige Einzelpersonen gerne zugreifen. Dass diese mit ihrer verengten, am eigenen Profit orientierten Sicht nicht das Weltgeschehen lenken dürfen, sollte jedem klar sein. Gerade in den USA ist dies aber vielen Menschen nicht klar – und das gilt nicht nur für jene, die aus dem Finanzkapitalismus einen persönlichen Gewinn ziehen.

Könn(t)en die USA also (dennoch) sozialistisch sein?

Dieses riesige Land bietet aufgrund seiner Bodenschätze und eben des vielen Landes, das man problemlos besiedeln oder fast ebenso problemlos den Ureinwohnern wegnehmen konnte, immer noch ein ganz anderes Raum- und Chancengefühl als das eng besiedelte Europa und speziell als Deutschland, wo die wenigen fossilen Rohstoffe, die man abbauen kann, auch noch aus ökologischen Gründen als hoch problematisch gelten.

Die amerikanische Freiheitsideologie haben wir zwar bis zu einem gewissen Grad übernommen, aber es fehlen die Ausbreitungsmöglichkeiten, um sie konsequent umsetzen zu können. Nicht, dass alle Amerikaner sie konsequent umsetzen können, aber der amerikanische Traum ist Teil des Bewusstseins fast aller Amerikaner. Und der basiert unter anderem darauf, dass kollektive Strukturen Quatsch sind, weil jeder eh sein eigenes Glück schmieden kann oder, falls es nicht klappt, auf eine Weise unfähig ist.

Allerdings wird man in den USA auch nicht mit dem ewigen sozialen Bann belegt, wenn mal wirtschaftlich etwas schiefgeht. Das ist ein Teil des Deals und das muss man fairerweise erwähnen. Wie sagte kürzlich ein führender KI-Techie, der von Sachsen nach Kalifornien auswanderte und dort reüssierte, in einer Talkshow? Nicht so schlimm, wenn einem mal ein Startup geplatzt ist oder mehrere, besser, als nie eines gegründet zu haben. Auch in den USA wachsen die Startups, die zu Kapitalmaschinen werden, trotz einer Forschungslandschaft, die der hiesigen nach wie vor turmhoch überlegen ist, nicht mehr auf den Bäumen.

Doch wie von Anbeginn des Aufbaus einer Nation strömen Menschen ins Land, die einfach nur einen Job haben wollten, da sind Arbeitnehmerrechte kaum durchsetzbar. Unter dieser Ägide ist auch die „Legalisierung“ der vielen mexikanischen Einwanderer ein zweischneidiges Schwert: Neue Legionen für die hemmungslose kapitalistische Verwertung, das ist die eine Seite. Die andere: Ohne offizielle Arbeitserlaubnis wären sie noch schlimmer dran. Aber auch die Hochqualifizierten aus Europa oder Asien, die in die USA gehen, sind Teil dieses Stroms. Es drückt vom Süden hinein, wird aber auch aus aller Welt gezielt angesaugt. Jeder Arbeitsmarkt, der höher entwickelt ist, saugt an, wir kennen diese Kette auch in Europa, wo Deutschland ziemlich oben in der Verwertungskette steht, aber eben seinerseits Arbeitskräfte an die USA oder auch innerhalb Europas an Großbritannien oder die Schweiz oder andere Länder mit gutem Arbeitsmarkt verliert. Arbeitsmigration ist längst globale Realität, man darf dabei nicht immer nur an die Einwanderung nach Deutschland denken, man muss auch die Abgänge im Blick haben, die in den 2000ern zeitweise zahlreicher war als die Zugän.

Allerdings wird man in den USA auch nicht mit dem ewigen sozialen Bann belegt, wenn mal wirtschaftlich etwas schiefgeht. Das ist ein Teil des Deals und das muss man fairerweise erwähnen. Wie sagte kürzlich ein führender KI-Techie, der von Sachsen nach Kalifornien auswanderte und dort reüssierte, in einer Talkshow? Nicht so schlimm, wenn einem mal ein Startup geplatzt ist oder mehrere, besser, als nie eines gegründet zu haben. Auch in den USA wachsen die Startups, die zu Kapitalmaschinen werden, trotz einer Forschungslandschaft, die der hiesigen nach wie vor turmhoch überlegen ist, nicht mehr auf den Bäumen.

Der Trump-Wahlkampf 2020 soll also unter dem Motto „Freiheit oder Sozialismus“ laufen? Weil auch in den USA mehr Menschen einsehen, dass es wie bisher möglicherweise nicht weitergehen wird? Wir haben ohnehin unsere eigenen Ansichten zur virtuellen Ökonomie 4.0 – wir halten sie für sehr fragil, weil sie nichts produziert, was Menschen tatsächlich noch brauchen, wenn es mal härter wird und die Kapitalblasen platzen. Sie basiert im Wesentlichen auf neuen Kommunikations- und Vertriebswegen bzw. auf deren Digitalisierung. Und die alte Industrie und auch die neue Industrie sind außerdem zu ressourcenverschleißend. Da wird guter Rat teurer, sogar in den USA.

Es wohl eher ein mulmige Gefühl gegenüber der Fortsetzung des American Way of Life entstanden, der zu einer etwas höheren Affinität gegenüber dem Begriff Sozialismus geführt hat und, ja, wir wollen es nicht so genau nehmen mit dessen Definition, denn die ist in den USA vermutlich schon gegeben, wenn man wieder eine Interventionspolitik betreiben würde wie einst Franklin D. Roosevelt, um der Great Depression zu begegnen. Und höhere Steuern? Nie waren die Steuern höher als während der Zeit der Kommunistenhetze in den frühen 1950ern und noch für ein paar Jahre danach. Sofern man die grundsätzlichen Besitzverhältnisse nicht in  Frage stellt, kann man sagen, damals war der Verteilungsgerechtigkeit Genüge getan. Das stimmt nicht ganz, auch wenn fast alle an der Prosperity teilnehmen konnten.

Die hohe Steuern dienten in erster Linie dazu, Kriegs- und Kriegsfolgekosten, mithin die damals hohe Staatsverschuldung zu bewältigen. Aber der Deal funktionierte.

Auch der erwähnte Bernie Sanders ist nach hiesigen Maßstäben Sozialdemokrat, allerdings einer alter Schule, aber nicht Sozialist, denn an den Eigentumsverhältnissen will auch er nichts ändern und wer das tun wollte, wäre nach amerikanischer Sicht Kommunist – nicht europäischer noch lange nicht. Dass es in den frühen 1950ern eine Identität zwischen dem „Commie“ und dem – vermuteten – Anhänger des Systems der Sowjetunion gab, hat dazu geführt, dass der Sozialist mit in die Tüte gesteckt wird. Jedenfalls ist uns nicht bekannt, dass es zur Unterscheidung auch den „Socie“. Anders als bei uns ist es in den USA ein Privileg weniger, zwischen unterschiedlichen Spielarten einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft mit unterschiedlichen, teilweise sogar mehreren parallelen Eigentumsformen unterscheiden zu können, denn diesseits von ihnen allen steht die uneingeschränkte Herrschaft des Privateigentums und des Kapitalismus.

Ist das in den USA wirklich so oder gibt es nicht sogar Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, die „sozialistischer“ geregel sind als hierzulande. Auch damit werden wir im Verlauf der Erarbeitung des Dossiers befassen.

„Erstaunlich ist auch, dass mit 40 Prozent mehr Amerikaner sagen, die Wirtschaft sei eher staatlicher Kontrolle unterworfen. 34 Prozent sagen, sie sei stärker vom freien Markt kontrolliert, für 25 Prozent ist eine gleichwertige Mischung aus beidem“, schreibt Florian Rötzer.

Ist das so erstaunlich? Selbstverständlich gibt es auch in den USA Regeln für die Wirtschaft, die Frage ist eben, wie sind sie ausgestaltet? Die erwähnten Verschwörungstheoretiker würden sagen: Die Wirtschaft gibt dem Staat die Regeln vor, nach denen sie spielen soll und das Wort „Deregulierung“, das bei uns mittlerweile ein Schreckgespenst darstellt, ist lediglich eine Regeländerung. Die Wirtschaft darf eben mehr und ob sie das selbst durchgedrückt hat oder dies eine Staatsideologie vom freien Markt folgt, ist auf der Ausführungsebene nicht so wichtig. Wohl aber bezüglich des vermuteten Hintergrundes. Kann der Staat mehr eingreifen, wenn er es für richtig hält, oder ist er schon so machtlos, dass es kein Zurück mehr gibt auf dem Weg in ein totalitäres kapitalistische System?

Dass diese Überlegungen für uns in Europa eine zentrale Bedeutung haben, muss nicht betont werden: Seit Jahrzehnten folgt beispielsweise die deutsche Regierung   dem amerikanischen Modell und schränkt soziale Rechte immer mehr ein. Einige Grundtatbestände wie das staatliche Rentensystem lassen sich nicht so leicht abschaffen wie etwa die Wohnungsgemeinnützigkeit, aber man kann ein System auch so herunterreiten, dass es zu Altersarmut führt und damit private „Zusatzversorger“ ins Spiel bringen, deren Erträge in gefährlicher Weise vom Auf und Ab der Kapitalmärkte abhängig sind.

Korrekturen an der Durchsetzung neoliberaler Politik in jüngster Zeit, die auch unter dem Druck der Zivilgesellschaft vorgenommen werden, sind auf Systemebene minimal und können jederzeit geändert werden werden – etwa dann, wenn eine erneute Wirtschaftskrise dem Kapital hilft, noch mehr als bisher durchzugreifen. Wir haben 2008 gesehen, wie die herrschende Klasse auch Krisen nutzt, um voranzukommen, das könnte sich in wesentlich stärkerer Form wiederholen – wenn die nächste Krise einschneidender ist als die letzte.

Um zu eruieren, was in Europa geschehen kann, ist es deshalb unerlässlich, einen scharfen Blick über den Atlantik zu werfen. Würden die USA sozialistisch, hätten wir kein Problem und könnten gemeinsam für eine bessere, nachhaltigere Zukunft arbeiten. Gibt es tatsächlich Anzeichen? Immerhin hat die Stadt New York, die Weltkapitale des Kapitalismus, gerade einen Mietendeckel beschlossen. Ein Instrument, das im roten Berlin erst einmal durchgesetzt werden muss. In den USA geht das aber einfach so. Die USA sind ein föderales Staatsgebilde, die starke Stellung der deutschen Bundesländer ist, eine Nachbildung dieses Systems, entspricht ihm aber nicht exakt.

Die Gallup-Umfrage, die Rötzer zitiert, bezeichnet er selbst als suggestiv und offenbar sind ihre Kriterien so ausgelegt, dass allein die Fragestellung von einer sehr wirtschaftsliberalen Konzeption dieses „Polls“ zeugt. Daher kann das, was wir lesen, nur eine Art Idee von einer Stimmungsveränderung vermitteln, aber nicht davon, wie   in den USA das Wort „Sozialismus“ ausgelegt wird. Sehr weit, das dürfen wir vermuten, ohne uns zu überheben.

Wir werden künftige Betrachtungen über die USA auch anhand der Fragestellung vornehmen: Worum kämpfen dort beispielsweise Arbeitnehmer*innen im Vergleich zu den werktätigen Menschen in Deutschland und in Europa? Das wird Rückschlüsse darauf zulassen, was dort bereits als sozialistisch oder gar kommunistisch gelten könnt

Kurz und beispielhaft wollen wir das anhand der Krankenversicherung darstellen.

Wir haben erlebt, wie „Obamacare“, das 15 Millionen ärmere Menschen endlich vor den Unbilden plötzlich auftretender Arztkosten schützen sollte, von rechts auf eine Weise denunziert würde, als stecke Marx oder der Teufel selbst hinter einer Maßnahme, die doch nur dafür sorgen sollte, eine Grund-Gesundheitsversorgung sicherzustellen, ohne sich auf existenzielle Weise verschulden zu müssen, wenn eine Krankheit auftritt. Wir haben vor einiger Zeit erwähnt, dass 39 Prozent der US-Amerikaner*innen nicht in der Lage sind, problemlos eine 500-Dollar-Ausgabe zu leisten. Das ist in einem Land, in dem die Arztrechnung direkt vom Leistungsempfänger bezahlt werden muss, was bei uns nur auf wenige Menschen zutrifft, tragisch, manchmal tödlich. Und dennoch war diese Reform hoch umstritten und ist es immer noch. Das können wir selbst nach Jahrzehnten neoliberaler Indoktrinierung in Europa kaum verstehen. In den USA sehen viele aber den Grundbestand der Freiheit dadurch gefährdet. Wer also das Wort „Sozialismus“ aus amerikanischer Sicht deuten will, der muss solche Haltungen einbeziehen. Für einige ist nämlich „Obamacare“ schon der Einstieg in den Sozialismus, und dass dieser bekämpft werden muss und hohe Symbolwirkung hat, versteht sich aus der Perspektive der Neoliberalen von selbst.

Und doch – selbst in den USA ist nicht alles, wie es scheint.

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

EBA 42

Kritisch schauen und immer wieder Beiträge außerhalb des Mainstreams und vor allem jenseits unserer aktuellen Zentralthemen lesen, über die wir selbst schreiben – das ist eine Aufgabe, die der Wahlberliner sich gestellt hat. 

Wir empfehlen. in der Regel kommentieren wir die Empfehlungen kurz oder versuchen, die darin geäußerten Gedanken weiterzuführen. Unsere bisherigen Empfehlungsbeiträge der Serie „Jeden Tag ein Blick nach draußen“. Ab dem 42. Empfehlungsbeitrag nehmen wir eine erste Gliederung vor und stellen die Artikel „Dossier USA“ besonders heraus.

Dossier USA

  • Bisher wurde nur der vorliegende Artikel als Kommentar zu „Werden die USA sozialistisch?“ von Florian Rötzer, Telepolis, hier eingegliedert.

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