Babylon Berlin – die Serie | Staffel 3, Folge 6 (Gesamtfolge 22) + die Rote Hilfe | #Crimetime 832 #BabylonBerlin #RoteHilfe #Babylon #Berlin #ARD #Sky #Quoten #Zuschauer

Crimetime 832 - Titelfoto und weitere Bilder © ARD Degeto / X-Filme / Beta Film / Sky Deutschland / Frédéric Batier

Überblick über die Situation in den Folgen 17 bis 28 (Staffel 3)

Berlin im September 1929: eine Metropole in Aufruhr. Ökonomie und Kultur, Politik und Unterwelt – alles befindet sich in radikalem Wandel. Spekulation und Inflation zehren bereits an den Grundfesten der immer noch jungen Weimarer Republik. Wachsende Armut und Arbeitslosigkeit stehen in starkem Kontrast zum Exzess und Luxus des Nachtlebens und der nach wie vor überbordenden kreativen Energie der Stadt. „Babylon Berlin“ erzählt in der neuen, dritten Staffel die Geschichte des jungen Kommissars Gereon Rath weiter, der sich in den Illusionswelten des 20er-Jahre-Stummfilmkinos zu verirren scheint, während um ihn herum der Wahnsinn herrscht: Menschen verschulden sich, die Hochfinanz spekuliert auf den Untergang, und die rechtsnationale Partei versucht, Polizei und Verwaltung sukzessive mit kaltblütigen Mitteln zu unterwandern. Doch es gibt Hoffnung: Trotz Mord und Verzweiflung findet Rath Liebe und Solidarität, und die „Roaring Twenties“ spiegeln in all ihren Facetten Lebenshunger und Leidenschaft.

Kurzfassung der Handlung von Folge 22

Journalist Katelbach wird wegen seiner Enthüllungs-Story in der „Tempo“ unter Druck gesetzt. Rath kommt im Fall Benda weiter, doch Polizeipräsident Zörgiebel warnt ihn vor Bendas politischen Gegnern.

Alle bisherigen Rezensionen zu „Babylon Berlin“ (1)

Kann die Rote Hilfe helfen?

Die Wiederholung zu Beginn konzentriert sich auf den Fall Benda / Overbeck, der weiterhin eine wichtige Rolle spielen – und möglicherweise eine überraschende Wendung nehmen wird, nachdem Greta Overbeck zum Tode wegen Mordes am Regierungsrat und Chef der politischen Polizei Ernst Benda verurteilt wurde und man wird noch einmal kurz daran erinnert, dass Kommissar Rath ein ungelöstes privates Problem hat.

Die „Lügenpresse“ wird aufgemischt

Die folgeninterne Handlung beginnt in der Redaktion der „Tempo“, dort beschließt nun der Chefredakteur, Katelbachs Lufthansa-Staaken-Investigation doch auf der ersten Seite zu bringen, denn der österreichische Journalist hat nun auch „Beweismaterial“, das ihm in Folge 20 zugespielt wurde. Aber es geht weiter auf Seite 15, vier Seiten hintereinander mit einem Artikel, nicht in der Tempo! Der Chef wird übrigens von Martin Wuttke gespielt, der nicht in der unten abgebildeten Besetzungsliste erwähnt ist. Die Verwendung eines Pseudonyms lehnt Katelbach ab, es kennt ihn ja eh jeder (und etwas Eitelkeit kann man sich 1929 vielleicht auch noch leisten, zumindest bis … aber das werden wir gleich sehen). Die Tempo sitzt übrigens im Ullstein-Haus in unserem Wohnbezirk Tempelhof-Schöneberg, am Tempelhofer Damm gelegen. Dann kriegt der Chef aber die Meldung „Tristan Rot unter (Mord-) Verdacht“ und will dies doch als Aufmacher bringen. Wegen mit Fotos!

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Was kommt auf die erste Seite? Politik oder Sensation? Und wer stört?

Die Diskussion darüber mit dem aufgebrachten Katelbach wird beendet durch einen Überfall von ca. 20 Nazis, woran auch der berüchtigte „Fritz“ beteiligt ist, der Greta geframed hat. Wir erinnern uns: Die Nazis haben dem Rechtsnationalen Wendt erklärt, sie schlagen erst wieder los, wenn der Fall Benda gelöst ist. Dies ist mittlerweile so oder scheint so und die „Lügenpresse“ ist ein erklärtes Ziel der Nazis. Den Begriff gab es damals wohl wirklich schon und wir wissen ja, wie er gegenwärtig fröhliche Urständ feiert. Die Bezüge der Serie zum Hier und Jetzt sind ohnehin stellenweise sehr deutlich und daran hat man bestimmte Darstellungen auch orientiert: Menschen, die sich nicht jeden Tag stundenlang mit Politik befassen, Grundzüge der damaligen Situation zu erläutern und die Gefahr zu vermitteln, die auch heute wieder für die Demokratie droht. Man hat in der Tat das Gefühl, man sieht viele Wiederholungen, mit einem wichtigen Unterschied: Es spielt sich alles nicht in einem so atemberaubenden Tempo ab, wie die Weimarer Republik ab Ende der 1920er zerstört wurde. Wir hätten also Zeit genug, gegenzusteuern – aber tun wir’s entschlossen genug, wenn es z. B. um die Diskursverschiebung nach rechts geht?

Der Chefredakteur Heymann versucht, die Ruhe zu bewahren, schließlich war er schon Offizier im Ersten Weltkrieg, da haben die Jungnazis noch in die Windeln … (oder Kadett zu werden). Doch was nützt es, wenn rohe Gewalt in Überzahl waltet? Das Netzwerk von Demokraten, auf das sich Heymann bezieht, wird der offenen Straßengewalt der Nazis und ihrem Walten ab 1933 nichts entgegenzusetzen haben.

Die Macht der Presse wird geringer, der Druck von der Straße wächst.

Die Tochter des Herrn General

Mit Marie-Luise Seeghers wird eine neue Figur eingeführt. Sie ist die Tochter des Generals, der nun Chef der Heeresleitung geworden ist und den wir aus den Staffeln 1 und 2 als Mitinitiator der „Schwarzen Reichswehr“ kennengelernt hat. Er ist im Wesentlichen Monarchist und strebt eine Revitalisierung des Militärs an. Und seine Tochter? Die wird uns noch überraschen. Das fängt bereits damit an, dass sie sich mit ihrem Vater über ihre Pflichtanwesenheit bei Ereignissen streitet, bei denen sie als eine Art Dekoration dienen soll, was zu einer juristischen Grundsatzdiskussion führt, die m. E. etwas an der Sache vorbeigeht, zumindest das BGB-Familienrecht betreffend. Aber zumindest lernen wir, dass Charlotte möglicherweise Verstärkung bekommen wird.

Der Sohn des Herrn Kommissars

Es folgt eine Mutter-Sohn-Diskussion über das Mitmachen bei der NS-Jugend zwischen Helga und Moritz Rath. Das entspricht wieder mehr ihrer Haltung, die sie einst auf einer Veranstaltung der Kriegerwitwen zeigte, weniger derjenigen, dass sie Nüssen, den sie damals scharf angegriffen hatte, jetzt dated und sich sogar von ihm in einem Hotel-Appartement unterbringen lässt. Wütend wird sie, als sich herausstellt, dass es sich beim Treiben der „Pfadfinder“ auch um eine paramilitärische Ausbildung handelt – der Verlust des Mannes im Krieg! Wenn sie wüsste …

Der Bruder Gereon versucht nun, Menschen auf der Liste zu erreichen, die er vom Fotografen Gräf bekommen hat und stößt auf Ablehnung oder die Menschen darauf sind inhaftiert oder tot. Ein Telefonverkäufer ist er nicht, das merkt man, und in einer wirklich blöden Position. Als er die Liste durch hat, bepricht er sich mit Polizeipräsident Zörrgiebel. Was bedeuten die Abkürzungen hinter einigen Namen? Aber das soll doch eine Liste der Guten sein? Stimmt wohl nicht so ganz, auch wenn Zörrgiebel von einer „schwarzen Liste“ spricht. Der Polizeipräsident warnt Rath davor, mit wem er sich bei weiteren Forschungen einlassen könnte. Charlotte ist nun bei Anwalt Litten. Und wer arbeitet dort? Marie-Luise Seeghers. Litten sagt, das Urteil über Greta war politisch gewollt, der Pflichtverteidiger hätte unbedingt Berufung einlegen müssen und man wird nun den Beschwerdeweg einlegen. Und Litten stellt klar, dass er einer Freiwilligenorganisation angehört, die auch Mandant*innen vertritt, die nicht zahlungsfähig sind. Anwalts- und Prozesskostenhilfe gab es damals noch nicht? Dafür würde Litten sich freuen, wenn Charlotte ihm ab und zu etwas zur Hand ginge, wie Marie-Luise Seeghers.

Falsche politische Einstellung, falsche Namen

Anhand der Verhörprotokolle von Greta Overbeck bekommt Rath nun heraus, wer O. W. und F. H. sind, die Abkürzungen auf der Liste. Es stellt sich heraus: Die beiden jungen Männer, die Greta am Wannsee getroffen hat, woraus sich die verhängnisvolle Mordsache Benda entwickelte. Fritz Heckert und Otto Wollheim. Und als wer ist O. W. nun unterwegs? Als Horst Kessler. Aber wieso finden diese sich auf derselben Liste wie investigative Journalisten? Vielleicht doch nicht ganz unlogisch, denn die „Politische“ hat auch unter Benda bereits Personen überwachen lassen, die aus ganz verschiedenen Gründen auffällig waren. O. W. und F. H. sind also die Mörder von Benda und ich bin etwas konsterniert, weil ich diesen Otto nicht mehr wiederkannt habe – in der Person des Horst Kessler, der gerade versucht, eine Prostituierte von ihrem Zuhälter loszukaufen. Vielleicht ist das Angebot, das dieser nicht ablehnen können soll, auch nicht Geld, sondern Druck von den Nazikumpanen des H. K. oder O. W.

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Nazischläger am Eingang des Hauses, in dem die Witwe Behnke wohnt. O. W. sucht schon mal den richtigen Dietrich, damit man vor die Wohnungstür kommt.

Katelbach will nun seine Zelte bei Witwe Behnke abbrechen und fliehen, doch die Nazis sind schon unterwegs und sie versteckt ihn in einem Schrank, den sie vor den Eingang seines Zimmers gerückt haben. Die Wohnung wird durchsucht, aber Katelbach nicht entdeckt. Das ist ein Wunderschrank, in dem er vervorgen wird, durch dessen Rückwand man in das dahinterliegende Zimmer entweichen kann. Katelbach gewinnt die Witwe dafür, Unterlagen an seinen Chefredakteur zu übergeben, da er selbst sich auf der Straße nicht mehr sehen lassen kann. Die Nazis sind aber noch unten und versuchen, die Witwe zu verfolgen. Eine der bisher witzigsten Szenen, wie sie durch das rasche Wechseln von Autobussen die Truppe abhängen kann – und lächelt. Trotzdem gab es damals doch wohl keine Sitzordnung in Bussen, nach der Frauen im Parterre und Männer oben im Zugwind Platz zu nehmen hatten? Jedenfalls kann Greta die Unterlagen glücklich an den Chefredakteur Heymann weiterreichen, und der ist richtig mutig und will die LH-Geschichte jetzt doch groß aufmachen.

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Das hat geklappt. Die Witwe Behnke unterwegs mit den Dokumenten von Katelbach.

Man erfährt immer noch nicht, um welche Ergebnisse es geht, die Helga Rath bei der Ärztin mit den Versuchsmäusen abholt. Aber eine Gratulation kriegt sie schon mal. Glücklich eingeleitete Risikoschwangerschaft bei einer Frau um 40? Könnte ja nur Gereon Rath als Vater in Frage kommen. Rath besucht nun die karge Wohnung des Horst Kessler, dort findet er – die Prostituierte auf dem Sofa. Und ein Hitler-Bild, an der Wand hängend. Der Frau gegenüber gibt er sich als ein Kader von der NSDAP-Zentrale München aus. Wetten, dass bei den Jungnazis der O. W. den Moritz Rath anleiten wird? Berlin (damals ca. 4 Millionen Einwohner)  ist auch nur ein etwas größeres Dorf.

Ein Abend bei den Nüssens. Man sieht sie alle. Die Matriarchin Annemarie, den Seegers, den Wendt, auch Herrn Brüning, den nächsten Reichskanzler. Und die beiden Töchter spielen ein Duett. Nur Alfred scheint nicht anwesend. Aber improvisiert die Marie-Luise da nicht zwischendurch etwas, während sie Franz Liszts Liebestraum interpretiert? Da kommt er ja doch, vielleicht hatte er gerade eine nette Unterhaltung mit Helga Rath. Wieso stellt er sich Seegers vor? Die beiden kennen einander doch von der Jagd und der gemeinsamen Protektion der schwarzen Reichswehr? Oder sind Dritte anwesend, die das nicht wissen sollen? Marie-Luise ändert eigenständig die Sitzordnung, um neben den Wendt zu gelangen.

Die (r)echte Gesellschaft und eine politische Diskussion für Fortgeschrittene

Währenddessen werden die Risse im rechten Lager sichtbar. Seegers ist gegen die Gewaltaktionen der Nazis, Wendt behauptet, die Nazis zu benutzen, obwohl er merken müsste, dass diese ihn schon beginnen unter Druck zu setzen, wie man im Fall Benda gesehen hat. Entweder, Greta wird beseitigt, oder es gibt keine handfeste Action mehr.

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Inmitten der reaktionern Bewegung hat sich ein Chello spielender Freigeist entwickelt.

Der sich zwischen ihr und Wendt entpsinnende Disput, den die Generalstochter selbst einleitet, ist vielleicht der beste Dialog aller bisherigen Staffeln. Sie misst der Musik, die sie selbst spielt und der Musik allgemein keine über sie selbst als „Wohlklang“ hinausgehende Bedeutung zu und hält deren Verklärung zu etwas Höherem für eine bürgerliche Strategie, die das kritische Bewusstsein vernebeln und hin zum Ornamentalen lenken soll. Wendt zielsicher: Sie sind Kommunistin? Natürlich will Wendt wissen, was ihr Vater davon hält. In dem Moment wird es lapidar, weil man Seegers niemals zugerechnet hätte, dass er seine Töchter frei ihre Ansichten entwickeln lässt, sie aber häufig zur Repräsentationsaufgaben zwingt. Vielleicht ist er als Vater wirklich viel gütiger, als seine reaktionären politischen Ansichten es vermuten lassen.

Doch in der Partei ist Marie-Luise noch nicht. Uff. Sie rechnet Wendt aber eine NSDAP-Mitgliedschaft zu. „Da muss ich Sie enttäuschen“. Falls er PM ist, dann wohl eher bei der DNVP und glaube, wie so viele mit dieser politischen Ausrichtung es damals taten, siehe oben, die Nazi-Prolls für seine  Zwecke benutzen zu können. Marie-Luises Schwester behauptet als Gag einem jungen Offizier gegenüber, die Ältere sei mit Wendt verlobt. Klingt aber auch nicht so, als Wendt von Schicksalsgemeinschaft spricht, sagt die Generalstochter, das sei ein offenes Bekenntnis zur politischen Irrationalität, er zitiert Ernst Jünger („In Stahlgewittern“), sollten Sie lesen, junge Frau. In einer Sache hat er allerdings nicht ganz Unrecht: Im Leben wie in der Politik ist der Instinkt der Intelligenz überlegen. Sie: „Der destruktive Geist ist heiter und fröhlich, seine einzige Bestimmung ist es, Platz zu schaffen.“ Sagt wer? Walter Benjamin, sollten Sie lesen, Herr Oberst. Ob Marie-Luise damit ihrem Vater schadet, werden wir noch sehen. Denn sie vertritt hier die Intelligenz, der Wendt hingegen glaubt, politischen Instinkt zu besitzen.

Auf der Gesellschaft tritt nun auch Außenminister Stresemann auf, der versucht, die Anwesenden auf ein europäisches Deutschland einzuschwören, obwohl er weiß, dass sie seine politischen Gegner sind, von wegen konservative Revolution und so. Marie-Luise ist hingegen von Wendts Ansprache enttäuscht, sagt, sie habe ihre (gesellschaftlichen) Verpflichtungen erfüllt und verlässt die Szene. Starker Abgang, ich musste lachen.

Zwischenbilanz: Weit mehr als die Männer, die wir in der Serie gezeigt bekommen, sind die Frauen auch Kunstfiguren mit beinahe unendlichen Kapazitäten, zumindest trifft das nach Charlotte Ritter, die eine Art Generalprojektionsfläche für alles darstellt, für was Frauen kämpften und wovon sie träumten, in jenen Jahren, nun auch wohl auf die Tochter des Generals zu – die Jurastudentin wird sich eine Menge Femi-Punkte verdienen. 

Die politische Strategie der Eskalation, die von der Rechten gefahren wird, bekommen wir noch einmal genau erläutert und wir sollen als Zuschauer auch merken, wie wenig man hinzugelernt hat. Die Duldung und heimliche oder gar offen gezeigte Sympathie der Konservativ-Liberalen für die AfD und diejenigen, die noch weiter rechts stehen sowie für die Tendenzen der AfD selbst, immer weiter nach rechts zu rücken und den Diskurs mit sich zu ziehen, ist genau jene Haltung, die wir bei einigen der Reaktionäre in der Weimarer Zeit sehen. Nicht alle von ihnen wollten den späteren Nazi-Terror, aber sie alle haben ihn mitverursacht. Stresemann erkennt die Gefahr und versucht eine Art Einheitsfront für ein europäisches Deutschland zu schmieden – aber glaubt er wirklich daran, bei all seiner Erfahrung? Oder ist es nur eine letzte Ansprache, die er sich selbst zu schulden glaubt?

Die Raths in stürmischen Gewässern

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Senior Rath ist doch der Beste. Hat mich ein wenig an „Vater und Sohn“ erinnert, doch diese beiden Trickfiguren gab es erst ab 1934.

Gereon Rath und sein Sohn Moritz besuchen Raths Lieblingskneipe und der Vater zeigt mehr Verständnis für die Freizeitgestaltungswünsche seines Sohnes als die Mutter und erkennt weniger als sie, um was es geht. Das passt prima zum vorherigen Absatz. Da will Moritz sogar wieder bei seinem Daddy wohnen. Obwohl er doch das „Rheingold“-Appartement so schick fand. Der Sohn scheint aber mit Wissen seiner Mutter zum Vater gegangen zu sein, denn er übergibt ihm einen Brief von Helga, in dem sie erklärt, dass sie nicht mehr gesucht werden möchte und dass sie nicht weiß, welchen Gefühlen sie trauen kann, die in ihr sind. Manchmal mutet ihre Trennung sie falsch an. Dann denkt sie wieder an die jüngere Zeit und weiß, wie richtig ihr Fortgehen war. Das ist wieder eine Stelle, auf die ich eine versierte Leserin des Wahlberliners besonders hinweisen möchte. Auch wenn ich intuitiv auf Raths Seite bin, weil ich die Hintergründe kenne, sie hat m. E. Recht, diese Beziehung ist vergiftet, obwohl sie nicht weiß, warum. Ob es ausgerechnet der manipulative Geldsack Nüssen als nächste Station ihres Beziehungslebens sein muss, ist eine andere Frage. Die Art, wie der Nüssen gestaltet wurde und sich gibt, erinnerte mich übrigens die ganze Zeit über an etwas oder jemanden, aber ich konnte nicht darauf zugreifen. Jetzt weiß ich’s: Fritz Rasp. Der genialste Bösewichtdarsteller, den es je im deutschen Kino gab. So, wie er in jungen Jahren wirkte. Selbst die Frisur von Nüssen scheint man seinem Stil der 1920er teilweise nachempfunden zu haben, als er die Haare noch nicht zurückgekämmt trug.

Das falsche Alibi

Beim Abtippen von Verhörprotokollen stellt Charlotte fest, dass Vera Lohmann gelogen hat, als sie behauptete, sie habe den Geschäftsführer Weintraub nie persönlich gekannt. Ich kann mich allerdings auch nicht an eine Szene mit den beiden erinnern, anders als Charlotte, die natürlich ihre neue alte Freundin dazu befragt. Diese gibt preis, dass die beiden einander sehr wohl kennen, und das recht intim. Weintraub wollte aber, dass Vera ihm ein Alibi gibt für die Zeit, in der Betty Winter ermordet wurde. Nur: Wie kann sie das, wenn sie aussagt, dass sie Weintraub nicht persönlich kennt? Klar, sie versucht die Falschaussage, das falsche Alibi, zu vermeiden, indem sie lieber bei der Befragung so tut, als ob sie Weintraub gar nicht kennt. Es ist aber ein Eventual-Alibi (falls sie gefragt wird), meint Weintraub. Hm. Jetzt hat Vera Angst, dass Weintraub sie umbringt, wenn sie das Alibi fallen lässt – was sie Charlotte gegenüber aber schon getan hat. Dass Vera die Person aus Folge 17 ist, die im Auto saß mit Weintraub, muss ich auch nochmal aufnehmen – sie Person sah dort sehr jung, fast minderjährig aus.

Ebenjener Weintraub macht gerade Kasse oder Buchhaltung und – Schmu, etwa ein Viertel wandert gleich ins eigene Rucksäckel. Ach ja, alles wie wir’s aus unserer angeblich so viel besseren Zeit kennen, aber die Abschaffung des Bargeldes wird’s auch nicht richtigen, ganz sicher nicht. Esther kommt und konzediert ihm, dass er im Gefängnis bestimmt die Buchhaltung am meisten vermisst hat. Und dich!, sagt Weintraub. Sie insistiert, dass niemand den Film kaufen wird, der einfach mit einer Doppelgängerin fertiggedreht werden wird, sie habe eine andere Idee … und sie will unbedingt diesen Film retten. Warum sagt er, er will sie schützen, wenn er sie da nicht ranlässt? Wir wissen, sie hätte gerne die Rolle der ermordeten Betty Winter, siehe vorausgehende Folge. Tja, ist sie nun eher Schauspielerin oder die Frau des obersten Mob-Bosses? Fragen, die sich noch klären werden. Weintraub sagt Esther klar, dass sie nicht mitmachen darf, sie schmeißt mit einer Flasche, die am Tisch zerschellt. Welch ein seltsames Gespann, Weintraub, Kasabian und dessen Frau. Sie hat übrigens m. E. nicht recht: Wenn man den Mord und den daraus folgenden Austausch der Hauptdarstellerin richtig vermarktet, wird man in diesem fiktiven Babylon-Berlin damit sicher viele sensationslustige Zuschauer in die Kinosäle zu locken.  

Kurze Einschätzung

Die Folge 22 ist die bislang aktionsärmste der gesamten Serie, trotz der anfänglichen Gewalt in der Redaktion von „Tempo“. Dafür ist sie diejenige, die am meisten die politische Situation ins Visier nimmt und dabei durchaus ansehnliche Höhen erreicht, besonders im Dialog zwischen Marie-Luise Seegers und Oberst Wendt. Allerdings ist die Frage, wie die Zuschauer damit umgehen, dass es immer mehr in Richtung Edukation geht und das Fiebrige der ersten beiden Staffeln fast verschwunden ist. Die  nachlassenden Quoten habe ich in der Kritik zu Folge 21 erwähnt. Für mich ist es kein Problem, diesen politischen Spuren zu folgen, aber der Wahlberliner ist auch ein politisches Meinungsblog, daher versteht sich mehr oder weniger von selbst, dass ein stark politisierendes Fernsehprodukt ins Konzept passt.

(2) Die Rote Hilfe gibt es auch heute wieder, sie hat ca. 10.500 Mitglieder (2019). Anfang der 1930er war sie jedoch eine richtiggehende Massenorganisation, die mit über 500.000 Personen mehr Mitglieder zählte als z. B. die SPD heute. Der Anwalt der Roten Hilfe, Litten, der ab Folge 22 eine Rolle spielt, ist eine historische Persönlichkeit. Zur Geschichte der Roten Hilfe in den 1920ern und frühen 1930ern bis zum Verbot 1933 (Quelle: Wikipedia):

Im April 1921 entstanden als Folge der politischen Repression nach den Märzkämpfen Rote-Hilfe-Komitees auf Beschluss einer Konferenz der KPD. Im November 1921 konstituierte sich ein „Berliner Komitee“ als „Zentralkomitee“.

Beim IV. Weltkongress der Komintern in Moskau (5. Oktober bis 12. November 1922) wurde die Bildung eines „proletarischen Roten Kreuzes“ beschlossen, der späteren Internationalen Roten Hilfe (IRH, russ. МОПР/MOPR). Am 1. Oktober 1924 gründete sich dann die „Rote Hilfe Deutschlands“ (RHD) als KPD-nahe Organisation. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte der Künstler Heinrich Vogeler, der auch in den Zentralvorstand gewählt wurde. Ihr erster Vorsitzender war der spätere erste und einzige Präsident der DDR Wilhelm Pieck, der zuvor Leiter der „Juristischen Zentralstelle der Landtags– und Reichstagsfraktion der KPD“ war. Ab 1925 übernahm Clara Zetkin die RHD-Leitung. Nach dem Tod Julian Marchlewskis im selben Jahr leitete sie auch die Internationale Roten Hilfe.

Anfangs war die Organisation mit der Kampagne „Rote Hilfe für Opfer des Krieges und der Arbeit“ für den Internationalen Bund der Opfer des Krieges und der Arbeit aktiv. Der Schwerpunkt der Arbeit lag jedoch auf der Unterstützung der inhaftierten Mitglieder des Rotfrontkämpferbundes, der SAP, KAP, Gewerkschaftern wie auch Parteilosen und deren Angehörigen. Zu diesem Zweck wurden Rechtsberatungsstellen aufgebaut und justizkritische Publikationen herausgegeben.[1]

Die Rote Hilfe erklärte 1923 den 18. März (Pariser Kommune) zum „Internationalen Tag der Hilfe für die politischen Gefangenen“ und hielt diesen bis zu ihrem Verbot durch die Nationalsozialisten 1933 ab.

Im März 1930 war die RHD an der Gründung einer deutschen Sektion der „Internationalen Juristischen Vereinigung“ (IJV) beteiligt, die sich mit Straf-, Völker-, Verfassungs- und Arbeitsrecht befasste.

1933 wurde die RHD im Zuge der Reichstagsbrandverordnung verboten. Anwälte und Juristen wie Hans Litten, Felix Halle und Alfred Apfel wurden in derselben Nacht verhaftet. Bis 1935/36 wurde die Rote Hilfe von der Geheimen Staatspolizei aufgelöst. Einige Mitglieder arbeiteten einige Zeit im Untergrund weiter, wie Lore Wolf, die gemeinsam mit Johanna Kirchner, die der der SPD nahestehenden Arbeiterwohlfahrt angehörte, bedrohten Personen über das Saargebiet ins Exil verhalf. Die Leitung der Auslandsorganisation der RHD übernahm ab 1933/34 Wilhelm Beuttel von Paris aus. (…)

1933 hatte die Rote Hilfe 530.000 Mitglieder von denen 119.000 der KPD und 15.000 der SPD angehörten (1931 gesamt 405.000); 55.600 waren zugleich IRH-Mitglied.

Von 1924 bis März 1929 finanzierte die RHD Rechtsschutz und Unterstützung für 27.000 Personen und 16.000 Inhaftierte in Höhe von 4 Mio. Reichsmark. 1932 waren es 9.000 politische Häftlinge, 20.000 Familienangehörige und 50.000 Linke mit Ermittlungsverfahren und Prozessen. Der RHD-Zentralvorstand war personell mit der Juristischen Zentralstelle der KPD verbunden und arbeitete auch mit der Berliner IRH zusammen.

© 2020 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

(1) Unsere bisherigen Rezensionen zu „Babylon Berlin“

Folge 21 (Staffel 3)
Folge 20 (Staffel 3)
Folge 19 (Staffel 3)
Folge 18 (Staffel 3)
Folge 17 (Staffel 3)

Folge 16 (Staffel 2)
Folge 15 (Staffel 2)
Folge 14 (Staffel 2)
Folge 13 (Staffel 2)
Folge 12 (Staffel 2)
Folge 11 (Staffel 2)
Folge 10 (Staffel 2)
Folge 09 (Staffel 2)

Folge 8 (Staffel 1)
Folge 7 (Staffel 1)
Folge 6 (Staffel 1)
Folge 5 (Staffel 1)
Folge 4 (Staffel 1)
Folge 3 (Staffel 1)
Folge 2 (Staffel 1)
Folge 1 (Staffel 1)

Rolle Darsteller
Gereon Rath Volker Bruch
Charlotte Ritter Liv Lisa Fries
Greta Overbeck Leonie Benesch
Alfred Nyssen Lars Eidinger
Günter Wendt Benno Fürmann
Helga Rath Hannah Herzsprung
Armenier Misel Maticevic
Walter Weintraub Ronald Zehrfeld
Esther Kasabian Meret Becker
Dr. Schmidt „Anno“ Jens Harzer
Elisabeth Behnke Fritzi Haberlandt
Dr. Völcker Jördis Triebel
Katelbach Karl Markovics
Ernst Gennat Udo Samel
Reinhold Gräf Christian Friedel
Zörgiebel Thomas Thieme
Ullrich Luc Feit
Litten Trystan W. Pütter
Henning Thorsten Merten
Wilhelm Böhm Godehard Giese
Czerwinski Rüdiger Klink
Malu Seegers Saskia Rosendahl
Tristan Rot Sabin Tambrea
Fritz Jacob Matschenz
Otto Julius Feldmeier
Musik: Johnny Klimek
  Tom Tykwer
Kamera: Bernd Fischer
  Christian Almesberger
  Philipp Haberlandt
Buch: Tom Tykwer
  Hendrik Handloegten
  Achim von Borries
Regie: Tom Tykwer
  Achim von Borries
  Hendrik Handloegten

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