Babylon Berlin – Die Serie | Staffel 4, Folge 1, Gesamtfolge 29) + #Zukunft #Raketen| #Crimetime 1172 #DGR #BabylonBerlin #Babylon #Berlin #ARD #Sky #Nazis #SA #Undercover #RocketScience #Brüning #NSDAP #WeimarRepublic #Germany

Crimetime 1172 - Titelfoto und weitere Bilder © ARD Degeto / X-Filme / Beta Film / Sky Deutschland / Frédéric Batier – Die große Rezension

Überblick über die Situation in den Folgen 29 bis 40 (Staffel 4)

Die vierte Staffel „Babylon Berlin“ beruht auf Volker Kutschers Roman „Goldstein“. Zwölf neue Episoden versprechen ein Wiedersehen mit vielen bekannten Figuren. An ihrer Seite erleben wir grandiose Schaukämpfe in den Boxcl ubs der Unterwelt, schweißtreibende Tanzmarathons im Moka Efti und die Katakomben der Roten Burg, dem Polizeipräsidium, in dem alle Fäden zusammenlaufen. Gleichzeitig wirft die vierte Staffel einen neuen Blick auf das Pulverfass Berlin. Es ist der Blick von Abraham Goldstein. Der Amerikaner ist zurückgekehrt, um ein gestohlenes Juwel seines Vaters zu finden. Die Suche führt ihn von seiner jüdischen Verwandtschaft im Scheunenviertel bis in die Gemächer der Familie Nyssen. Eher nebenbei entfacht Goldstein einen Bandenkrieg, in dessen Verlauf sich das Gefüge der Unterwelt von Grunde auf ändert. Und Kommissar Rath ahnt nicht, dass der Pakt mit dem Teufel den Kampf gegen seine inneren Dämonen neu entfacht. Die Reise in die Nacht hat gerade erst begonnen.

Überblick über die Situation in den Folgen 17 bis 28 (Staffel 3)

Berlin im September 1929: eine Metropole in Aufruhr. Ökonomie und Kultur, Politik und Unterwelt – alles befindet sich in radikalem Wandel. Spekulation und Inflation zehren bereits an den Grundfesten der immer noch jungen Weimarer Republik. Wachsende Armut und Arbeitslosigkeit stehen in starkem Kontrast zum Exzess und Luxus des Nachtlebens und der nach wie vor überbordenden kreativen Energie der Stadt. „Babylon Berlin“ erzählt in der neuen, dritten Staffel die Geschichte des jungen Kommissars Gereon Rath weiter, der sich in den Illusionswelten des 20er-Jahre-Stummfilmkinos zu verirren scheint, während um ihn herum der Wahnsinn herrscht: Menschen verschulden sich, die Hochfinanz spekuliert auf den Untergang, und die rechtsnationale Partei versucht, Polizei und Verwaltung sukzessive mit kaltblütigen Mitteln zu unterwandern. Doch es gibt Hoffnung: Trotz Mord und Verzweiflung findet Rath Liebe und Solidarität, und die „Roaring Twenties“ spiegeln in all ihren Facetten Lebenshunger und Leidenschaft.

Alle bisherigen Rezensionen zu „Babylon Berlin“ (1)

Kurzfassung der Handlung von Folge 29 

 Eine Wiederholung von Vorgängen aus der dritten Staffel oder den Staffeln 1 und 2 findet dieses Mal nicht statt, wohl aber wird ab Folge 30 (Staffel 4, Folge 2) wieder das angerissen, was bisher, als in dem Fall in Folge 29, geschah. Wir steigen also neu ein. Geht das ohne Vorkenntnisse? Manche Filme und Romane beginnen so, erst ein Setting, die Aktion, die Personen, danach lernt man erst schrittweise die Zusammenhänge kennen. 

Nach meiner Ansicht funktioniert die vierte Staffel nicht richtig, wenn man die drei vorherigen nicht gesehen hat. Insbesondere die erste Szene ist dann nicht zu deuten: Wer ist dieser pockennarbige Typ, der Gereon Rath in einer fancy Wanne liegen hat, um mit ihm elektrotechnische Methoden der Befreiung von Angst auzuprobieren? Es ist Dr. Schmid, der über das Verbrechen und die Traumata forscht und kybernetische und transzendierende Ansätze verfolgt, wie sie damals durchaus nicht unüblich waren. Es war eben eine verrückte Zeit, das zeigt sich auch an der Art, wie Wissenschaft betrieben wird. Eine weitere Wissenschaft werden wir in Folge 29 kennenlernen: Es ist im wörtlichen Sinne eine Raketenwissenschaft. Es bitet sich aber an, den Übergang mit einem Textteil aus unserer Beschreibung zu Folge 25 zu kombinieren, der sich mit Dr. Schmid befasst, denn dieser ist in Wahrheit Gereons Bruder.  Die Synthese von Natur- und Geisteswissenschaften, das Ende der Verletzlichkeit des Menschen. Die Jubiläumsfolge 25 setzt damit ein, dass Dr. Schmidt darüber philosophiert, wie gut die nach dem großen Krieg zerrütteten Seelen sich dazu eignen, Menschen zu erschaffen, die nicht mehr verletzbar sind – Maschinenmenschen oder Menschmaschinen. Metropolis hat wirklich einen tiefen Eindruck hinterlassen, aber in jener aufgeregten Weimarer Zeit ist auch dieser Film wieder ein Ausdruck der Ängste vor der Entmenschlichung gewesen. Dass der im Krieg schwer verletzte Anno sich damit beschäftigt, ist stimmig, zumal er sich nun als Dr. Schmidt neu erfunden hat, traumatisiert auf dem Schlachtfeld, verraten durch seinen Bruder und letztlich auch durch seine Frau (…).

Nach dem Wasserbad

Vor dem bekannten und auch für Folge 4 nicht geänderten Vorspann liegt also die Szene mit den beiden Brüdern, die nicht etwa irgendwo zusammensitzen und die Vergangenheit besprechen, sondern, wo der eine am anderen experimentiert. Vielleicht ein Sinnbild dafür, dass er es einst war, der vom Mut und der Treue seines Bruder abhing und ganz und gar hilflos war. Jetzt hat er die Macht und vielleicht kann er seinerseits das Kriegstrauma seines Bruders heilen. Aber mit den Methoden, die wir sehen? Die Buchreihe von Volker Kutscher um den Kriminalisten Gereon Rath, um Charlotte Ritter und einige andere reicht bis ins Jahr 1936. Mein Gefühl: Gereon Rath wäre als Figur viel zu harmonisch, wenn sein Bruder es bis dahin wirklich geschafft hätte, ihn von allen seinen Altlasten zu befreien.

Man will tanzen geh’n

In der nächsten Szene sucht Charlott Ritter nach einer Schallplatte, der Sänger des LIedes ist ihr aber entfallen, doch die Verkäuferin weiß Rat: „Es ist von Emil Engel und es heißt ‚Ein Tag voller Gold und in den Adern 100.000 Volt.'“ Emil Engel wird von Max Raabe gespielt. Wie schon in unserer Vorschau geschrieben: Es war so logisch, dass er in „Babylon Berlin“ endlich zum Einsatz kommt, als der einzige europäische Bandleader und Sänger von Format, der dem Schlager-Filmmusik-Jazz-Liedgut der 1920er und 1930er Jahre neue Impulse verleihen und so für ein gewisses Revival der gesamten Ära sorgen konnte. Sicher habe ich in einer der vorherigen Rezensionen irgendwo einmal geschrieben: „Wo ist Max Raabe?“. Aber, auch hier in Anlehnung an die Vorschau: Bisher wurde die Musik entweder in Originalaufnahmen eingespielt, die damals populär war,  oder es wurde neue Musik geschaffen, die einge ganz ungewöhnliche und wiedererkennbare Transplantation der 1920er ins Hier und Jetzt darstellt, wie „Zu Asche, zu  Staub“. Die Musik damals war nicht so, sie ist aber  heute auch nicht so. Sie ist eine künstlerische Verbindung zwischen der Zeit vor fast 100 Jahren und heute, die auf ihre eigenständige Art funktioniert. Da wirkt natürlich Max Raabe fast schon konservativ, zumal man sein Lied „Tag aus Gold“ anfangs, auf Platte, so spielt, als sei es eine alte Plattenaufnahme, wohingegen dann, als das Lied Charlotte beschwingt über die Straße trägt, die Tasche mit der Platte drin schwenkend, die jetztzeitige Tonqualität zu hören ist. Aber was für ein Entsetzen auf die Vorfreude auf den Silvester-Tanzabend mit Gereon noch folgen wird! Wir erfahren in einer kurzen Szene, dass die Platte für Gereon Rath ist, damit er für das gemeinsame Abfeiern in der Silvesternacht die Schritte üben kann.

Charlotte steigt in den U-Bahnhof Uhlandstraße hinab. Ach, das ist ja auch ganz bei uns in der Nähe.

Wie heißt das Lied, wie heißt der Interpret? Pfeifen, summen, dann hat sie’s, dank der kenntnisreichen Verkäuferin. Es ist Erich Engel und der Foxtrot heißt „Tag aus Gold, in den Adern 100.000 Volt.“  Vorfreude auf den Silvesterabend, denn die Platte ist für Rath, damit er sich mit ihr eintanzen kann.

Intermezzo: Old -School-Novität

Die Tanzmusik begleitet es noch, nun aber als Kontrast und, wie wir einige Szenen später erfahren werden, als böse Vorahnung: Die Bilder von Not und Elend der Menschen in der Weltwirtschaftkrise werden eingespielt. Nicht sehr lang, koloriert, aber erkennbar altes Material. Das ist ein Moment, in dem die Realität stärker wird als jemals zuvor in Babylon  Berlin und ein bedrückender. Er bricht beinahe den Vertrag zwischen Zuschauern und Machern des Films über dessen Fiktionalität. Es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass Dokumentarmetrage in einer Serie oder einem Spielfilm verwendet wird, aber hier merkt man besonders stark, wie sehr sich die damalige Welt noch einmal anders darstellt als die individuellen Settings, die wir in Babylon Berlin sehen. Insbesonders jene Settings, die wir auch in Folge 29 noch sehen werden , wo die Elite feiert und dem nationalistischen Rausch entgegenfiebert, während auf der Straße die Menschen darben. Diese Fallhöhe ist größer als bei Spielszenen wie dem Arbeitskamp des Blutmai 1929, der komplett arrangiert wurde und ohne Dokumentarmaterial auskommt, auch wenn es sich dabei, wie häufig in der Serie, um ein tatsächliches, historisches Vorkommnis handelt.

Dunkle Vorzeichen

Gereon Rath spricht mit einem Polizisten, es geht um eine Aktion, die um 21 Uhr beginnen soll. Derweil im Präsidium: Charlotte übt mit einer Kleinbildkamera und fertigt ein Erinnerungsfoto mit ihren Kollegen, das letzten im alten Jahr. Schnitt. Der Schock. Zunächst für die Zuschauer. Gereon Rath, den wir doch letztlich als integer wahrgenommen hatten, am Ende der dritten Staffel, legt das Braunhemd an. Die SA-Uniform, sogar ein kleiner Anführer ist er schon, ich glaube, Gruppenführer, dem Abzeichen nach.  Rot sticht die Armbinde mit dem Hakenkreuz auf weißem Grund ins Bild. Ganz sicher gibt es eine Verbindung zu der Aktion von eben: Wird Rath die Polizei auf die SA ansetzen? Aber müsste er dazu selbst mitmachen?

Es gibt von der Kostümierungszene kein offizielles ARD-Foto und wir widerstehen der Versuchung, einen Screensthot zu fertigen, aber in dem Moment war ich unweigerlich in dem Film drin und genauso geschockt, wie wir das bei Charlotte noch im Bild sehen werden. Sofort im Anschluss sehen wir den Zweck der Verkleidung oder Ankleidung: Ein Nazi-Treffen. Ein gewisser Herr Fritsch gibt den Scharfmacher, schimpft Hitler ein quasi schwules Weichei und sagt den in Ledermänteln angereisten Männern aus der Parteizentrale, bald wir die Provinz (München) Berlin nichts mehr zu sagen haben (wer wollte dem nun widersprechen?) und widersetzt sich der Weiseung, keine Straßengewalt auszuüben. Dasfand ich sehr interessant und habe nachgeschaut, ob es der Wahrheit entspricht. Es gab  zwar einen SA-Mann Walter Fritsch in Berlin-Brandenburg, aber damit ist sicher nicht der junge Typ gemeint, den wir im Film sehen und der sicher irgendwann liquidiert werden wird, weil er für die Pläne der Führung mit seiner zu frühen Gewaltsamkeit gefährlich werden wird. So jedenfalls stelle ich  mir den weiteren Verlauf vor. Jedenfalls wird das Innere der damaligen Nazi-Organisationen so dargestellt, als sei Hitler in der Reichshautpstadt nicht besonders beliebt. In umgekehrter Richtung ist das belegt: Hitler mochte das „rote Berlin“ nicht, aber der Weg zur Macht führte selbstverständlich nur über Berlin.

Die SA ist jedenfalls ungeduldig und der Marsch durch die Institutionen, der aus München vorgegeben werden soll, wir verworfen, der Aufmarsch auf der Straße ist das sofortige Ziel. Vielleicht habe ich aber auch einen Namen falsch verstanden, denn das, was wir hier sehen, passt genau zur Wikipedia-Beschreibung und ich habe Fritsch mit Stennes verwechselt: 

Im April 1931 erhoben sich Teile der Berliner SA-Gruppe unter Rädelsführung ihres Führers Stennes im Zuge des sogenannten Stennes-Putsches gegen die Münchener Parteileitung der NSDAP und die Oberste SA-Führung um Hitler und seinen im Januar 1931 ernannten SA-Stabschef Ernst Röhm. Hintergrund dieser Auseinandersetzung waren Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der zweckmäßigsten Vorgehensweise im Kampf gegen den Staat von Weimar bzw. der effektivsten Methode zur Errichtung eines Staates der den NS-Vorstellungen entsprechen würde: Während Stennes und seine Anhänger für einen gewaltsamen Umsturzversuch auf revolutionären Wege plädierten, beharrten Adolf Hitler und sein Umfeld auf einer formal legalen Gewinnung der staatlichen Macht auf parlamentarischen Wege, um das System von Weimar „mit seinen eigenen Mitteln“ zu schlagen. Nach kurzen Anfangserfolgen wie der Besetzung der Büros der Berliner Gauleitung und der Druckerei ihrer Zeitung Der Angriff wurde die revoltierende Berliner SA von dem aus München entsandten Sonderkommissar Paul Schulz und seinem Adjutanten Edmund Heines mit Hilfe der Berliner SS-Gruppe um Kurt Daluege sowie von München-treuen Teilen der Berliner SA zerschlagen und von Grund auf neuaufgebaut.

So wird der Charakter, den wir schon kennen sollten, hier beschrieben:

Walther Stennes ist ein SA Leutnant und der Führer des SA Bezirks Berlin. In Staffel 3 taucht er das erste mal als ein Verbündeter von Regierungsrat Wendt auf. Größere Präsenz zeigt er in Staffel 4. Er ist ein überzeugter Nationalsozialist und ein grausamer und brutaler Mann. Er schreckt nicht vor Gewalt zurück, um seine Ziele zu erreichen und er verabscheut die freie Presse. Außerdem ist er kein Freund der Parteiführung in München.

Staffel 3

Stennes wird als Verbündeter von Wendt eingeführt, als er ihn auf dem Reithof der Nyssens trifft. Er fragt Wendt mehrmals wo sich seine SA Schläger Richard Pechtmann und Horst Kessler befinden, welche Wendt benutzte um August Benda zu töten. Währenddessen organisierte Stennes einen Überfall auf den Verlag bei dem Samuel Kattelbach arbeitete, konnte ihn jedoch nicht finden. Er setzte daraufhin Pechtmann auf ihn an. Bendas Dienstmädchen Greta Overbeck wäre in der Lage gewesen, Pechtmann und Kessler auszuliefern. Stennes sagte, als er davon erfuhr zu Wendt, dass ein Dienstmädchen doch nicht zum Stolperstein der Nationalen Bewegung werden könnte. Wendt wollte das Risiko nicht eingehen, von den beiden verraten zu werden und ließ sie töten. Stennes bekam davon mit, und kündigte seine Allianz mit Wendt auf.

Staffel 4

In Staffel 4 ist Stennes etwas mehr in den Vordergrund gerückt und wird von Gereon Rath als verdeckter Ermittler beschattet. Rath scheint ein enger vertrauter Stennes‘ geworden zu sein, besonders weil er für ihn als Kontakt innerhalb der Berliner Polizei fungiert. Er wird nach den Silvesterunruhen 1930 von Regierungsrat Wendt gefangen genommen und eingesperrt. Silvester feiert er mit Rath gemeinsam in einer Arrestzelle.

Ja, in der Szene sind sie zusammen, aber Rath wendet sich ab und ist sehr nachdenklich. Er denkt wahrscheinlih an die ungewollte Begegnung mit Charlotte während der Randale  und ob und wie er ihr erklären soll, was Sache ist. Nämlich, dass er nach meiner Ansicht wohl doch als verdeckter Ermittler bei der SA tätig ist. Und wie das bei V-Leuten ist: Wenn sie sich an der Randale nicht beteiligen oder gar an Morden geraten sie sofort unter Verdacht. Die Grenze zum Agent Provocateur ist dann auch schnell überschritten, wenn man sich Vertrauen in solch einer Terroristengruppe dadurch erarbeiten will, dass man Vorschläge für weitere „Aktionen“ macht und sich an ihrer Planung führend beteiligt, weil man ja ein helleres Köpfchen ist als diese Gewalt-Dumpfbacken.

Wo die Nazis hoffähig werden werden

Wir sind auf der Silvesterparty bei Nyssens oder kurz davor. Dass die Frau von Gereon Rath sich dem Alfred Nyssen angenähert hat, war in den letzten Folgen der 3. Staffel bereits zu sehen, unter anderem kam es in Folge 9 zu einer legendären tätlichen Auseinandersetzung zwischen Rath und Nyssen; das Rotblaue unter seinem Auge hat aber damit nichts zu tun, sondern könnte ein Brandmal sein, mit dem Lars Eidinger als Darsteller von Alfred Nyssen geschmückt wird. Es ist wohl das Kainsmal, das er trägt, als eigentlich schwarzes Schaf der Unternehmerfamilie, das diese den Nazis immer mehr nahebringen wird. 

Wie Alfred Eidinger ausstaffiert wird und die Silvesterparty schmeißt, ist hinreißend böse und cranky, so eine Figur gab es im deutschen Unternehmertum sicher nicht; aber sie seht natürlich für die Hybris und eine Krankheit im  kapitalistischen System, die mit dazu beigetragen hat, dass die Nazis siegen und vor allem nach dem Sieg sich festigen konnten.

Es ist angerichtet. Silvesterparty 1930. Gleich  kommt die Ankündigung, gegen die die Ehelichung der Frau Rath eine Kleinigkeit ist. Es geht um Raketenwissenschaft.

Uns wurde kürzlich erzählt, dass Lars Eidinger auch in der Realität ziemlich schräg sein soll, aber nicht unsympathisch. Wer ist auf dem Fest? Auch Reichskanzler Brüning. Der von Nyssen als der Retter im deutschnationalen Sinn gefeiert wird, nach 9 Monaten im Amt und als Krisenmanager des deutschen Reiches.

Im Politischen Katholizismus verwurzelt und konservativ-national eingestellt, war Brüning 1929 Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Reichstag geworden. Er unterstützte in dieser Eigenschaft die Große Koalition von Hermann Müller. Am Tag nach dem Rücktritt des Kabinetts Müller (27. März 1930) wurde er von Reichspräsident Paul von Hindenburg mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt – das erste der sog. Präsidialkabinette, die nicht aus einer Koalition der im Reichstag vertretenen Parteien hervorgingen. Brüning war der letzte Kanzler der Weimarer Republik, der auf verfassungsgemäßer Grundlage regierte. Sein „System Brüning“ stützte sich auf sogenannte Notverordnungen des Reichspräsidenten, die die normale Gesetzgebung des Reichstags zunehmend ersetzten. Im Mai 1932 ließ Hindenburg Kanzler Brüning fallen, weil dieser immer noch auf die parlamentarische Tolerierung durch die Sozialdemokraten angewiesen war.

Brüning war wegen seiner Sparmaßnahmen zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre als Kanzler unbeliebt. Ob diese Maßnahmen dazu dienten, Deutschland von seinen Reparationsverpflichtungen zu befreien, wie es wenige Wochen nach seinem Rücktritt gelang, ist in der Forschung umstritten. Brünings Haltung gegenüber den Nationalsozialisten schwankte zwischen Bekämpfung und Einbindung der NSDAP in eine Rechtskoalition. Im Juli 1933 wickelte er als Vorsitzender das Zentrum als letzte demokratische Partei ab. 1934 floh er aus Deutschland; den Rest seines Lebens verbrachte er vor allem in den USA, wo er an Universitäten lehrte, zwischen 1951 und 1955 kurzzeitig auch wieder in Deutschland.

Wir werden sehen, wie Brüning im weiteren Verlauf dargestellt wird, denn er wird uns ja noch eine Weile begleiten. Mit seinem Namen verbinden sich mögliche schwere Fehler bei der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, die ganz im Gegensatz zum 1933 allerdings erst wirksamen F. D. Rooseveltin den USA und dessen New Deal standen, womit Brüning zum Aufstieg der Nazis erheblich beitrug. Das scheint einigermaßen gesichert zu sein, aber es gibt um seine Person und deren Wirkung auch einige Kontroversen, deshalb ist es so interessant, wie die Serie mit dieser historischen Figur umgeht, deren Darsteller etwas freundlicher wirkt, als Brüning es zumindest auf Fotos ist.

Die Vorab-Rezensenten pfiffen es von den Dächern: Die 4. Staffel von Babylon wird so politisch werden wie keine  zuvor. Wir werden also wohl noch mehr kursive Einschübe machen müssen als in den Staffeln 1 und  2 wegen des Blutsonntags, wegen Stresemann, Hindenburg und der trotzkistischen Zelle, die darin eine wichtige Rolle spielt. 

 Zurück zu Nyssen, der auch ein Meister der Bonmots ist: „Die ganze Stadt will zu  uns, aber wir wollen das ganze Land“, sagt er auf der Party, weil eben Menschen wie Brüning und andere Hochprominenz sich dort sehen lassen.  Wem sollte man derlei in den Mund legen wenn nicht Lars Eidinger in dieser Rolle? Ich bin sicher, trotz der Tatsache, dass es sich um eine negative, beinahe diabolische Figur handelt, wird sie uns rhetorisch noch viel Freude machen. 

Wo gekauft, gestohlen und gebrandschatzt wird und alles zusammendrängt zum zweiten Schock

Die Straße. Das Kaufhaus Tietz und die Umgebung in der City West. Charlottes Schwester Toni entpuppt sich als kleine Diebin und hat einen kleinen Kompagnon. Auf dem Dach sind aber auch Nazis, die ein Transparent herunterrollen: Kauf nicht bei Juden. Ich fand dieses fiktionale Zusammentreffen krass: Drinnen klauen Kleinkriminelle im jüdischen Kaufhaus Tietz, die Polizei wird über eine moderne Alarmanlage alarmiert, ist aber vor allem damit beschäftigt, sich draußen zurückzuhalten, während der SA-Mob jüdische Geschäfte demoliert, tritt aber dann doch die Verfolgung an und nach Flucht aufs Dach treffen Toni und der Bub auf die Jungnazis und die Polizei kann nichts mehr auseinanderhalten. Außerdem lässt sie im Kaufhaus selbst die Finger lang werden und eignet sich auch die Beute des Diebs ab, den ein bösartiger Polizist zum Fall in den Tod zwingt. Das passiert also, während bei Nyssens Party gemacht wird, und hier kommt es auch zu einem Moment, der mich sehr berührt hat. Wie Charlotte als Polizeifotografin den Leichnam des Diebes fotografiert, erst ihre Schwester als vermutliche Komplizin erkennt und kurz darauf in den SA-Aufmarsch gerät und dort mit ihrem Gereon geradezu zusammenstößt, der die SA-Uniform trägt. Da kann man sich anschließend nur noch alleine in die Kneipe setzen und sich besaufen, das neue Jahr fängt maximal beschissen an. Wegen dieser heftigen Twists, Wendungen und Schockmomente für Charlotte haben wir von dieser Szenenfolge auch zwei Fotos von ihr ür Sie aktiviert.

Hier hat sie gerade über ihre Schwester nachzudenken und ist außerdem über den SA-Aufmarsch entsetzt.

 Und hier hat sie gerade ein Gespenst gesehen: Gereon Rath als Braunhemd.

Das ist gut gemacht, denn nachdem wir als Zuschauer schon den ersten Stich bekommen haben, als wir Gereon allein beim Ankleidne sehen, wiederholt sich das Erlebnis durch die Augen von Charlotte Ritter. Wunderschön hat man übrigens das Kaufhaus Tietz von innen ausgestattet. Ob das wirklich so grandios bestückt und dekoriert war? 

In Wirklichkeit hatte die Firma Tietz mehrere Warenhäuser in Berlin. Nach dem Lageplan der Ereignisse müsste das hier gezeigte Kaufhaus eigentlich das spätere KaDeWe sein, in der Tauentzienstraße, das noch immer eine Sonderstellung unter den Berliner Einkaufstempeln hat.  Diese Montage ist schon sehr geschickt, wie drinnen bei Tietz Auslagen von ihren Glaskästen befreit und geplündert werden, mehr aus Not oder simpler Raffgier, und draußen politisch die Schaufensterscheiben klirren. Es ist infernalisch. 

Das Leben muss noch erledigt werden.

„Das Leben muss ja noch von dem Tod erledigt werden.“ Oder gelebt werden. Von der hochwertigen Warenwelt bei Tietz wieder zurück nach ganz oben, zu den Nyssens und dmait zu einem weiteren Bonmot von Alfred.  Und damit zu seiner großen Ankündigung. Nicht die Ehe, sondern die Rakete. Tatsächlich ist auf der Dachterrasse eine kleine Rakete aufgebaut, die auch gezündet wird. Erst einmal passiert nichts, dann startet sie wirklich ins neue Jahr, explodiert etwas später, aber grundsätzlich hat es funktioniert. Und Nyssen verkündet: „Der erste Mensch auf dem Mond lebt schon. Ich werde es sein.“ Ich kann es nicht ändern, mich hat er in dem Moment stark an Elon Musk erinnert, obwohl dessen Starship-Unternehmen ja wirklich kommerziell funktioniert und noch keine Mondreisen anbietet; aber die Hybris dieser Männer ist durchaus von ähnlicher Größenordnung, auch Musk mischt sich bekanntlich auf eine äußerst rechtskonservative Weise in die Politik ein, was besonders seit seiner Übernahme von Twitter, jetzt „X“, sichtbar wird. Außerdem ist es ja tatsächlich so, dass die Raketen- und Weltraumforschung, die einst zu groß dafür erschien und nationale Aufgabe wurde, in allen Ländern, wieder privatisiert wird, weil es tatsächlich Unternehmen gibt, die das Kapital dafür aufbringen und auch von Leuten buchstäblich angetrieben werden, die in solchen Dimensionen denken und handeln. Dass wir das nicht gut finden, liegt auf der Hand, denn so viel Macht in wenigen Händen, die politisch dazu äußerst fragwürdig agieren – irgendwie verschmelzen die Wirtschaftsführer von einst und die Entrepreneure von heute zusammen zu einer Bedrohung, nicht zu einer Hoffnung; selbst dann nicht, wenn sie technologisch Avantgarde sind. Kapitalistische Unternehmer dominieren die Politik, das kann für die Mehrheit nicht gut sein. Damals, bei den Nazis, war es eine Kollaboration zum beiderseitigen Nutzen.

Da staunt nun auch der amerikanische Attaché, der auch auf der Party nicht schlecht, als die Rakete wirklich abhebt. Ja, in der Technik waren die Deutschen und später die Nazis eindeutig vorne. Schon 1928 gab es den berühmten Opel-Rekordwagen mit Raketenantrieb. 

Wer in der Silvesternacht aufspielt

Und Erich Engel als Orchesterleiter bzw.Max Raabe spielt „EinTag wie Gold, in den Adern 100.000 Volt“. Dazu muss man nicht viel sagen, es wirkt integral, überfällig und doch ein wenig zurück hinter der exzentrischen, expressionistischen Grandezza des Clubs Moka Efti in den ersten drei Staffeln, den wir zumindest in Folge 1 der Staffel vier noch nicht sehen.

Max Raabe sieht genau aus wie Emil Engel oder umgekehrt, auch ohne Integration in eine Deko, die den Stil von 1930 interpretieren soll. Eine Violinistin , die gerne von den Kameras herausgehoben wird, gab es in damaligen Bands eher nicht, wohl aber gibt es sie in Raabes Palast-Orchester seit vielen Jahren.

Warum heißt das Buch, nach dem die Staffel 4 entstand, eigentlich „Goldstein“?

Nachdem wir Rath und seine angeeigneten Spießgesellen von der SA gemeinsam im Gefängnis gesehen haben, bitter melancholisch, Charlotte vollkommen melancholisch in der Bar und Toni, ihre Schwester, todtraurig über den Verlust des Freundes und Klaukumpels, kommen wir zu etwas, was wir bisher ausgespart haben, weil es im Zusammenhang erzählt werden muss.

Alfred Nyssen hat seiner Frau, der Ex-Frau von Rath, einen großen blauen Diamanten an einer goldenen Kette geschenkt, vor jener Silvesterparty. Die Mutter ist darüber erbost. Wirklich  nur, weil sie diese Übergabe eines alten Familienstücks als Anmaßung empfindet? Oder weil der Stein lange vor der Nazizeit unrechtmäßig von jüdischem Besitz zu den Nyssens gelangt ist, sozusagen als zeitlich zurückverlegtes Symbol für die Arisierung? Wir werden es noch im Verlauf der Staffel erfahren. Vielleicht gewinnt dieser Stein ähnliche Präsenz als Quasi-McGuffin wie der Schatz des Zaren, um den sich verschiedene Revolutionäre balgen, in den Staffeln 1 und 2, nur dass dieser spektakulär großformatig war und man die Wände der Kesselwgaen eines ganzen Güterzuges daraus  formen konnte. Oder wenigstens eines Wagens. 

Jedenfalls telefoniert ein Mann, der wohl Goldsein ist, auf der Party ebenfalls anwesend, nach New York, nachdem er den Stein am Hals der neuen Frau Nyssen gesehen hat. Dort ist das Empire State Building schön durchs Bürofenster eines Mannes zu sehen, den wir nur von hinten sehen. Ein klassischer Cliffhanger wird arrangiert, denn dieser Mann wird uns im Folgenden ganz sicher noch beschäftigen, weil er ganz sicher nach Berlin kommen wird. Der Diamant heißt übrigens „Der blaue Rothschild“, ein netter Gag.

Zwischenstand

Obwohl ich die Staffel 3 vor fast drei Jahren rezensiert habe, fiel es mir ganz leicht, wieder in „Babylon Berlin“ Fuß zu fassen und mich an viele Details aus den ersten drei Staffeln zu erinnern. Die großartige Visualität der Serie wirkt nach und gleichzeitig ist es eine Hilfe, dass die Handlung, kriminalistisch und politische gesehen, mehr oder weniger von vorne einsetzt und nicht ein „Was bisher geschah“ unbedingt notwendig ist. Um die herausgebildeten Beziehungen zu verstehen, ist es allerdings doch ein großer Vorteil, vor allem Staffel 3 zu kennen, wegen der Entwicklung des Verhältnisses von Charlotte und Gereon, die vor allem in den letzten Folgen dieser Staffel Fahrt aufnahm, ebenso wie die Beziehung zwischen dessen Frau und Alfred Nyssen. Auch das Echo der Nazi-Verbindungen aus Staffel 3 ist hörbar und alles hat sich weiterentwickelt.  

Wir müssen noch die drei letzten Folgen der Staffel 3 nachholen (insgesamt die Folgen 26, 27 und 28), von ihnen existiert noch keine Rezension, insofern ist die folgende Liste also vollständig. Wir haben zwar noch Audiodateien von vor drei Jahren, aber es wird wohl darauf hinauslaufen, dass wir uns diese drei Folgen noch einmal anschauen werden. Was ja auch den Einstieg in Staffel 4 vertieft. 

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

(1) Unsere bisherigen Rezensionen zu „Babylon Berlin“

Folge 25 (Staffel 3)
Folge 24 (Staffel 3)
Folge 23 (Staffel 3)
Folge 22 (Staffel 3)
Folge 21 (Staffel 3)
Folge 20 (Staffel 3)
Folge 19 (Staffel 3)
Folge 18 (Staffel 3)
Folge 17 (Staffel 3)

Folge 16 (Staffel 2)
Folge 15 (Staffel 2)
Folge 14 (Staffel 2)
Folge 13 (Staffel 2)
Folge 12 (Staffel 2)
Folge 11 (Staffel 2)
Folge 10 (Staffel 2)
Folge 09 (Staffel 2)

Folge 8 (Staffel 1)
Folge 7 (Staffel 1)
Folge 6 (Staffel 1)
Folge 5 (Staffel 1)
Folge 4 (Staffel 1)
Folge 3 (Staffel 1)
Folge 2 (Staffel 1)
Folge 1 (Staffel 1)

Als Autoren der neuen Staffel fungieren Achim von Borries, Bettine von Borries, Henk Handloegten, Khyana El Bitar und Tom Tykwer. Die Regie liegt wie bisher bei Henk Handloegten, Achim von Borries und Tom Tykwer. In den Hauptrollen kehren Volker Bruch als Gereon Rath und Liv Lisa Fries als Charlotte Ritter auf die Bildschirme zurück. Neben ihnen sind zahlreiche Schauspieler aus den ersten Staffeln wieder mit von der Partie, darunter Benno Fürmann, Lars Eidinger, Hannah Herzsprung, Christian Friedel, Udo Samel, Godehard Giese, Fritzi Haberlandt, Karl Markovics, Jördis Triebel, Ronald Zehrfeld, Meret Becker, Hanno Koffler, Martin Wuttke, Trystan Pütter und Saskia Rosendahl. Neu im Darsteller-Ensemble von Staffel Vier sind u.a. Mark Ivanier in der Rolle Goldstein, Barbara Philipp, Moisej Bazijan, Ronald Kukulies, Thomas Arnold, Lenn Kudrjawizki, Hannes Wegener und Max Raabe.

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