Das Elend ist beabsichtigt – Eröffnungsvortrag beim Kongress „Gesellschaftliche Spaltungen – Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit” der Neuen Gesellschaft für Psychologie (Klaus-Jürgen Bruder, Rubikon) / #Pychoanalyse #Psychologie #Psychotherapie #Gesellschaftskritik #oben und #unten #Ungleichheit #Ungleichland #Transformation #FFF #Angebot #Nachfrage

Gestern haben wir hier einen Beitrag besprochen, der uns ziemlich getriggert hat: „Gibt es für Staatsschulden eine obere Schranke? Um es kurz zu machen, es gibt keine feste Obergrenze, wie bei so vielen Dingen nicht, wohl aber eine Kapazitätsgrenze. Außerdem ist das Auslassen der Eigentumsfrage ungehöriger Defätismus. Heute befassen wir uns wieder mit dem Tatbestand, der uns gestern dazu veranlasst hat, die Substitution gesellschaftlicher Auseinandersetzungen durch Schulden machen abzulehnen: Es geht um die fundamentale Ungleichheit, den immer mehr anwachsenden Gap zwischen Oben und Unten.

Wir gehen dafür mehr als zwei Jahre zurück. Das hat mit unserer Auswertung des Magazins „Rubikon“ vom Beginn seines Erscheinens an zu tun, aber der Beitrag, den wir heute besprechen und der sich „Das Elend ist beabsichtigt“ nennt und von Klaus-Jürgen Bruder, einem der Vorsitzenden der NGP (Neue Gesellschaft für Psychologie) stimmt. Der Text hat vor allem dadurch seinen Platz im Besprechungs-Pantheon erlangt, dass er eben aus psychiatrischer Sicht verfasst wurde. Wir sind bei während des Lesens wieder ins Assoziieren gekommen. Untypischerweise führte das zu einem Beispiel von Abspaltung anhand einer erdachten, aber an uns bekannte Menschen angelehnte Person, gleichzeitig haben wir aber auch das Kernthema eingegrenzt: Was tragen Behandler dazu bei, dass Menschen sich selbst finden und was hilft dabei gar nicht?

Wir treffen dabei wieder auf einen alten Bekannten, den Schulz-Hype. Wir hatten uns in unserem damaligen Magazin „Rote Sonne 17“ verständnislos gegenüber diesem Hpye gezeigt. Das Ende trat schnell ein. Was wir bei der Bundestagswahl bekamen, war trotzdem das Gleiche wie bisher. Selbst schuld, Wähler*in? Bis zu einem gewissen Grade ja.

Aber wer hat schon den Mut, keine der sieben Systemparteien, keinen der sieben Demokratiezwerge zu wählen? Wir hatten ihn damals nicht, fanden ihn aber endlich bei der Europawahl 2019. Nachdem uns wegen des Mietenwahnsinns immer mehr der Kamm geschwollen war, um es in der unverfälschten Sprache der Vorväter und -mütter auszudrücken. Da sind wir dann aus dem linken Mainstream ausgebrochen.

Wir treffen in Bruders Text auf viel Gesellschaftskritik, die interessant formuliert ist, weil es sich um einen Vortrag handelt, der verschriftlicht wurde, nicht um einen für ein Lesemedium verfassten Artikel. Daher wirkt einiges ein wenig sprunghaft, auf jeden Fall aber ist es assoziativ und instruktiv, wirkt gesprochen sicher sehr lebendig und die Berührungspunkte mit vielen Aspekten des Klassenkampfes regen zum Nachdenken an.

Dieser Artikel könnte zum Beispiel als Basis verwendet werden, um verschiedene Aspekte der Ungleichheit zu strukturieren. Wir haben das nicht getan. Wir werden aber in nächster Zeit viel mehr zu diesem Thema schreiben und Geschriebenes anderer empfehlen. Wir sind nämlich sehr unzufrieden mit der Entwicklung des kollektiven Klassenbewusstseins.

Das Besondere an unserer heutigen Empfehlung ist, dass die Psychologie nicht nur untersucht, wie der immer gleiche Wein von der herrschenden Klasse in stets neuen Kommunikationsschläuchen dargeboten wird, sondern auch, wie der Klassenstatus von heute Abspaltungen verursacht, die, das ergänzen wir hier, nicht mit Framing, auch nicht mit Denk- und Formulierungsverboten bekämpft werden können. Die Ungerechtigkeit, das Empfinden fundamentaler Benachteiligung, lässt sch so nicht in den Griff bekommen.

Aber welchen Anteil haben die Psycholog*innen und Therapeut*innen daran, dass es nicht besser wird mit dem Klassenbewusstsein? Einen sehr großen. Leider. Auch sie sind Zwängen unterworfen. Aber kritisieren müssen wir’s doch:

Dadurch, dass sie jedes Problem, das jemand mit der Integration in eine materialistische, ressourcenverwendende, sozial unterentwickelte Lebens- und Berufswelt hat, als dessen persönlichen Mangel zu klassifizieren und an ihm herumdoktern wollen, anstatt das System, in dem er funktionieren soll, zu hinterfragen, sind sie Teil des Kampfes von oben gegen unten. Auflehnung wird als Fail angesehen, nicht als Rest individueller Widerständigkeit; pathetisch: als der göttliche Funke in uns. Diese falsche Ausrichtung ist aber genau die, die vom System unausweichlich vorgegeben wird und daher umgesetzt werden muss. Da ist wenig Raum zur subversiven Aktion, denn ein mangelhafter Integrationserfolg aufgrund Stärkung der inneren Unabhängigkeit fällt auf auch auf einen Behandler zurück, der diesen von der Gesellschaft als Mangel betrachteten Zustand möglicherweise durch Ermutigung zum Widerstand mitverursacht hat.

Es geht nicht darum, dass wir es super finden, wenn jemand gar nichts mehr zur Gesellschaft beiträgt, es geht um sinnvolle Beiträge. Auch wenn sie nicht offen protestieren und aus nachvollziehbaren Gründen ihre eigenen Muster nicht hinterfragen, die meisten Menschen haben ein Gefühl für Sinn und Unsinn und sind unglücklich, weil sie aus ökonomischen Zwängen heraus den ganzen Tag Unsinn machen müssen, zum Beispiel als Jobcenter-Angestellte.

Manchmal ist dies alles sehr offensichtlich, weil das Kontraproduktive der Arbeit jedermann ins Auge springt.

Manchmal ist es etwas schwieriger. Nehmen wir ein Beispiel, das halb fiktional ist: Jemand ist sehr sprachbegabt und kann auch kreativ mit Wörtern umgehen, kann sich Geschichten ausdenken, kann Menschen erfreuen mit dem, was er schreibt. Beruflich jedoch: Wer kann davon schon leben, in dieser Verwertungswelt? Also hat er vielleicht einen guten Job, nach herkömmlichen Maßstäben, ist verantwortlicher Redakteur eines technischen Verlags oder Magazins. Er macht seinen Job exzellent, er hat Germanistik studiert und kann korrigieren und lektorieren. Er trägt Verantwortung, geht auch mal auf Dienstreise zu internationalen Kooperationspartnern. Verdient ein gutes Salär und bekommt es auch.

Aber das Magazin befasst sich hauptsächlich mit Technik für Produkte, von denen wir alle wissen, dass sie nicht nachhaltig sind oder gar darauf zielen, Menschen zu entmündigen. Vielleicht geht es um Technik, die Menschen überflüssig machen soll. Vielleicht auch um eine, mit der man, und sei es in derivativer Anwendung, Menschen vernichten kann. Auf dieser Ebene tritt eine ethische Frage auf, die unseren Redakteur umtreibt.

Nicht der Job an sich ist fragwürdig, nämlich für die sprachliche Korrektheit und die gute Lesbarkeit einer Publikation zu sorgen, sondern die Beihilfe zur weiteren Verselbstständigung der Welt der Mächtigen. Mag es Sicherheits- oder Waffentechnik sein, um die es geht, mögen es Module sein, die irgendwo verbaut werden, woher der Kapitalismus Mittel bezieht, mit denen er die Ungleichheit weiter fördern kann.

Etwas stimmt nicht mit der Seelenlage des Redakteurs, denn er kann ja das, was er liest, doch nicht immer vom Sinn her ausblenden. Er ist ein denkender Mensch. Vermutlich hat er studiert, als die Welt noch nicht aus Credit Points bestand.

Vielleicht kommt es dann so weit, dass dieser Mensch abends immer ziemlich fertig ist, obwohl seine Arbeit für ihn Routine darstellt und ihn nicht besonders anstrengt. Er fühlt sich ausgepowert und versteht irgendwann, warum das so ist. Er versteht, dass er viel Sport macht, nicht, um körperlich noch fitter zu werden, sondern, um sich abzulenken – und um mit den Kalorien auch Aggressionen abzubauen.

Er stellt desweiteren fest, dass seine Kreativität flöten geht Im Berufsalltag wird sie kaum gebraucht, da fällt dieser Abgang nicht auf. Er hat keine Ideen mehr für schöne Geschichten, schreibt nicht den Roman, der ihm schon lange vorschwebt, weil er die Freizeit zur Erholung braucht und in ihr nicht neue kreative Spannung aufbauen kann; das wäre zu viel, das würde er nicht aushalten. Vor allem dann nicht, wenn es nicht perfekt läuft und dadurch neuer Frust entsteht.

Nicht so schlimm, es wird eh immer weniger gelesen? Ein Roman weniger ist eine gute Tat? Aber warum lässt der Zugang zum geschriebenen Wort nach? Warum lässt der Kulturdurst nach? Warum sind neue Medien, die alles aufs Bequeme ausrichten, so sehr das, was in unsere Zeit passt?

Wir lassen die Psycholog*innen nicht aus den Augen. Die Therapeut*innen vor allem nicht. Nur keine Sorge. Jetzt greifen wir wieder auf sie zu.

Natürlich könnten sie uns empfehlen, ein gutes Buch zu lesen, manche werden das auch tun. In erster Linie tun sie aber etwas anderes. Sie definieren den sozialen Kontakt per se als etwas Positives. Je mehr soziale Kontakte jemand hat, desto integrierter ist er, was vor allem bedeutet: funktionabler, besser steuerbar,. Vor allem, wenn diese Kontakte reibungslos verlaufen, gilt das als großer Erfolg, umso mehr, wenn es zuvor anders war, wegen der erwähnten Widerständigkeit.

Aber wie steht es um die Qualität dieser Kontakte? Ist Netzwerken ein Heilmittel gegen Defizite aller Art? Zum Beispiel das selbst empfundene Defizit an tiefgründiger Rezeption? Der Einzelgänger, der diesen Widerspruch nicht beiseite schiebt, sondern ihn durch viel Zeit mit sich und der eigenen Gedankenwelt aufzulösen versucht, ist aber gefährlich. Man weiß nicht in jeder Minute, was er denkt, er bewegt sich zu selten im kontrollierbaren sozialen Raum. Das schafft Unruhe bei jener Macht, die immer mehr darauf angewiesen ist, diejenigen zu kontrollieren, die im Grunde die Macht legitimieren sollten. Was ihnen aber meistens verwehrt wird, wie wir gerade wieder auf europäischer Ebene sehen.

An jenen ungebärdigen Eremiten wird nun aber auch technisch gedacht: Vom Rauchmelder (bloß nicht versehentlich was anbrennen lassen) bis zu Alexa und dem Kühlschrank, der selbst einkaufen kann, wird er in der smarten Wohnung angedockt an die Welt. Niemand wird vergessen, bekommt auf diese Weise eine ganz neue Bedeutung.

Anstatt, dass Psychotherapeuten die Widerständigkeit von Menschen gegen ein System stärken, das uns allen schadet, auch den Therapeuten und vor allem ihren Kindern und Enkelkindern, fördern sie brav die Eingliederung ins Sinnfreie.

Nicht alle tun das gleichermaßen, aber wenn sie im System arbeiten und sich vom System bezahlen lassen, haben sie auch Aufgaben für das System wahrzunehmen und können allenfalls durch findige Formulierungen in ihren Berichten ein wenig Einfluss nehmen und Einfluss begrenzen. Das tun Seelenheilende auch, denen es um die Patienten geht. Das muss man ihnen sehr hoch anrechnen. Und sie denken an die Tatsache, dass wir die Falschen therapieren, wie Manfred Lütz in seinem Buch „Irre! – Wir behandeln die Falschen!“ dargestellt hat.

In jedem Berufszweig sind auch kritische Menschen tätig. Bei den Juristen, bei den Ärzten, sogar bei den Polizisten. Bei den Psycholog*innen liegt eine distanzierte Haltung zu den Erzählungen aus Politik und Wirtschaft besonders nah, weil sie sehr dicht an den Folgen des Kapitalismus sind und versuchen müssen, diese Folgen für ihre Patienten zu mindern.

Wie ausgeübte Macht und eine auf grober Ungleichheit aufgebaute Ökonomie auf die Seele von Menschen einwirkt, die sich nach Freihheit und Selbstbestimmung sehnt, das ist nicht trivial. Und es ist richtig.

Es ist sogar wundervoll, dass wir uns nach diesen Dingen sehnen. Uns zu stärken, muss also Aufgabe der Psychologie sein. Denn nur Menschen, die stark in sich selbst sind und nicht jederzeit beeinflussbar und austauschbar, können die Welt retten. Solche hingegen, die zu Funktionsobjekten degradiert oder gleich ganz aus dem Spiel genommen werden, wie etwa durch Hartz IV, werden nicht Teil des Wandels sein können, dessen Notwendigkeit uns doch allen bewusst ist.

Wir gehen das Problem der Verteilung und wie sie fundiert ist, in dieser Publikation in erster Linie ökonomisch an, aber selbstverständlich hängt alles miteinander zusammen und die kritische Masse in allen Professionen muss sich der Herausforderung stellen, mit der ökologischen Transformation auch eine solche der Besitzverhältnisse zu denken. Das eine wird nicht ohne das andere möglich sein. Eine Welt, die uns nicht gehört, an der wir nicht partizipieren, findet keinen Platz in unserer Seele. Besitzanhäufung zulasten anderer ist ebenfalls eine Belastung, die aber selten als solche erkannt und entsprechend therapiert wird.

Durch das professionell enge Verhältnis zu anderen Menschen können Psycholog*innen besonders viel dazu beitragen, Herrschaftsstrukturen und deren Akzeptanz zu durchbrechen. Sie können zu den Progressiven gehören, wenn sie mit Patienten arbeiten. Ob es neben dieser anstrengenden Aufgabe noch dazu reicht, sich selbst zivilgesellschaftlich zu engagieren, ist sicher eine Frage der Disposition und der Ressourcen. Wichtig ist: Die Fähigkeit zum Widerstand gegen die Ausbeutung der eigener Person und anderer Personen stellt keinen Mangel dar, sondern eine Ressource. Es geht sehr wohl darum, Tatbestände zu individualisieren – aber auf die richtige Weise.

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

EBA 49

Kritisch schauen und immer wieder Beiträge außerhalb des Mainstreams und vor allem jenseits unserer aktuellen Zentralthemen lesen, über die wir selbst schreiben – das ist eine Aufgabe, die der Wahlberliner sich gestellt hat. 

Wir empfehlen. in der Regel kommentieren wir die Empfehlungen kurz oder versuchen, die darin geäußerten Gedanken weiterzuführen. Unsere bisherigen Empfehlungsbeiträge der Serie „Jeden Tag ein Blick nach draußen“. Ab dem 42. Empfehlungsbeitrag haben wir eine erste Gliederung vorgenommen und stellen die Artikel „Dossier USA“ besonders heraus, eine weitere Aufteilung erfolgt ab EBA 45 mit dem Thema Kinder, Bildung, Erziehung.

Dossier Kinder, Bildung, Erziehung

Dossier USA

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6 Kommentare

      1. Gute Idee, allerdings ist es mit dem Umdenken, dass es schwierig ist, da wir uns gern an dem festhalten, was wir kennen. Aber ich werde gern bei Gelegenheit dazu etwas schreiben. Natürlich werde ich dich auch als Muse zitieren.

        lg

        deine Bärbel W.

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          1. Es ist doch immer wieder schön zu sehen, wie wir gut zusammen arbeiten können, ohne uns jemals gesehen zu haben. Das finde ich einfach wunderbar. Bloggen verbindet.

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