Polizeigewalt in Deutschland – Dunkelland / #Polizei #Gewalt #Rechtsstaat #Verdacht #Anzeige #StA #Anklage

Vor einem Monat ging eine Zahl durch die Medien, die uns nicht entgangen ist, wir schreiben aus Zeitgründen erst heute einen kurzen Beitrag dazu. Es geht ja bei den 12.000 Verdachtsfällen illegaler Polizeitgewalt pro Jahr nicht um einen Fakt, der von heute auf morgen seine Aktualität verlieren würde. DER SPIEGEL und das ARD-Magazin „Kontraste“ haben anhand einer Studie diese Zahl auf die Medienreise geschickt, wir verlinken aber einen Beitrag der ZEIT dazu, weil etwas mehr drinsteht als in der frei zugänglichen Online-Version des SPIEGEL.

Wir hatten vor einigen Jahren erstmals über Polizeigewalt und deren Legitimität geschrieben, als es um die Rigaer Straße 94 in Berlin ging, später noch einmal zum selben Thema. Diese im „alten“ Wahlberliner erschienen Beiträge sind noch nicht wieder veröffentlicht. Wir haben uns mit der Gewalt beim G20-Gipfel 2017 beschäftigt, und zwar der Gewalt von zwei Seiten, kamen aber dabei heraus, dass offenbar illegale Polizeigewalt vorlag und Gewalt von Staatsseite sogar mit verdeckt arbeitenden Personen provoziert wurde. Der damals stark in der Kritik stehende Einsatzleiter der Polizei hat inzwischen einen Karrieresprung gemacht und Olaf Scholz (SPD), damaliger Hamburger Bürgermeister, ist inzwischen Bundesfinanzminister und schickt sich an, die SPD zu führen. Ob die Karrieren übergriffiger und diese Übergriffe auslösender Personen in Berlin auch so verlaufen, wäre sicher einer Untersuchung wert. Bei Frank Henkel, dem damaligen Innensenator, ging der Schuss, Polizeigewalt exzessiv einzusetzen, nach hinten los – aber nur, weil die CDU aus der Regierung abgewählt wurde. Vielleicht auch wegen solcher Vorgänge, aber nicht, weil Henkel etwa zurückgetreten wäre.

In Berlin gibt es noch lange keine neue Linie, die Polizeigewalt so gering wie möglich hält, 2RG hin oder her. Wir haben das gerade im April erlebt, als im Anschluss an eine Mieterdemonstration eine symbolische Besetzung gewaltsam verhindert wurde. Immer wieder spielen bei solchen Vorgängen unterschiedliche Darstellungen eine Rolle und selten sind die Versionen der Polizei frei von kritikwürdigen Elementen. Die Polizei, so der Eindruck, schützt und stützt das Kapital mit ganzer Härte, tut aber gegen Rechts viel zu wenig. Kein Wunder, angesichts der politischen Einstellung vieler Polizist*innen bis hin zu den Führungsebenen.

So passt es auch ins Bild, dass gegen Beamte, die übergreifen, nicht konsequent ermittelt wird und ganz selten Urteile ergehen. In Berlin zeigt sich im Kampf Oben gegen Unten gerade ein sehr differenziertes Bild, aber das ändert nichts daran, dass die grundsätzliche Richtung gleich bleibt: Die Sicherheitsgesetze werden immer weiter verschärft und deren Rechtsstaatlichkeit dabei ausgetestet: Wie weit darf man unter der Ägide des Grundgesetzes gehen? Zum Beispiel beim Überprüfen von Personen ohne konkreten Verdacht? Bei der Überwachung des gesamten öffentlichen und auch immer mehr des privaten Raums? Bei der Durchsetzung von Maßnahmen, die dazu führen, dass Menschen im Anschluss obdachlos sind?

Bevor wieder die Stunde der Zerbröselungs-Statistiker schlägt, nehmen wir die Uhr gleich weg: 12.000 vermutete Fälle von illegaler Staatsgewalt sind ja so wenig, im Vergleich zu über 5 Millionen erfassten Straftaten von Menschen aller Art, die jedes Jahr in Deutschland verbucht werden, nur bei 20 Prozent davon wird von der Staatsanwaltschaft Anklage erhoben. Dieser Abgleich ist aber nicht zielführend.

Zum einen sind dabei viele Delikte, die nicht mit körperlicher Gewaltanwendung einhergehen, insgesamt ist das die weit überwiegende Mehrzahl. Zweitens kommen auf 1000 Einwohner nur etwa 3-5 Polizist*innen, je nach Bundesland.

Am wichtigsten aber: Für die Vertreter des Rechtsstaates hohe Anforderungen. Gerade, wer den Rechtsstaat schützen soll, muss seine Grundsätze und die ihm gemäßen Normen beherzigen. Das ist im Fall schwerer Verbrechen, Tötungsdelikte im Wesentlichen, nicht immer so einfach zu verkraften, aber gerade deshalb notwendig, denn Demokratieschutz bedeutet auch, impulsives, emotionales Verhalten darf nicht wieder zum Maßstab für staatliches Handeln werden. Von Fällen, in denen sogar bewusst provoziert wird, um es der anderen Seite in die Schuhe schieben zu können, wie beim G20-Gipfel, nicht zu reden.

Es ist bedenklich, dass auch Polizeigewalt wieder gruppenbezogene Merkmale hat: Diejenigen, die ohnehin die wenigsten Rechte haben oder denken, wenig Rechte zu haben, die auf der sozialen Leiter unten sind oder die von Rechten in der Polizei als minderwertig erachtet werden, trifft es besonders häufig und gleichzeitig gehen sie selten dagegen vor, weil sie kein Vertrauen in die deutsche Exekutive haben. Persönlich kennen wir diesen Effekt bisher nicht, aber einen anderen: Die Polizei ermittelt bei vielen einfachen Delikten quasi im Null-Prozent-Bereich. Wir mussten bereits mehrfach Strafanzeige stellen, obwohl wir ziemlich sicher waren, dass nichts passieren wird – aber aus versicherungstechnischen Gründen war das notwendig. Diese Seite der Medaille darf man nicht vergessen, wenn es darum geht, zu bewerten, ob die Polizei eher ihrer Aufgabe nachkommt, die Bürger*innen zu schützen und für Ordnung zu sorgen, oder ob sie Teil eines zunehmend unordentlichen Umgangs mit den Rechtsstaat und den Individualrechten Einzelner ist.

Wenn die Darstellung der ZEIT stimmt und sich die Zahl der tatsächlich gegen Polizeibeamte wegen nicht verhältnismäßiger Gewaltanwendung nur auf 20 pro Jahr beläuft, ist das genau der gegenteilige Effekt. Es wird wenig ermittelt und noch weniger Recht gesprochen. Die Justiz schützt die Exekutive gegen die Menschen. Wer also glaubt, es werde nicht hart genug über Verbrecher aller Art gerichtet, der muss auch diesen Aspekt in die Überlegungen einbeziehen: Die das Recht wahrenden Institutionen ziehen sich immer weiter aus der Verantwortung zurück und nicht etwa gültige Normen, die zivilisierend wirken sollen, sondern die Stärkeren setzen sich durch. Ob das die Polizei ist oder die Gegenseite – Verlierer sind diejenigen, die sich für Bürger- und Menschenrechte engagieren und diejenigen, deren eigene Rechte nicht mehr gewahrt werden.

TH

Dossier Kinder, Bildung, Erziehung, Wissenschaft

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