Vom doppelt falschen Sprachgebrauch gegen die Armen (Magda von Garrell via „Rubikon“)

Heute übernehmen wir wieder einmal einen Text komplett, was bisher die große Ausnahme war und nur möglich ist, wenn eine entsprechende Verbreitungslizenz vorliegt. Wir werden, um die Unterversorgung mit Beiträgen in bestimmten Bereichen abzubauen, in nächster Zeit vermehrt auf dieses Mittel zurückgreifen müssen.

Der Artikel erschien am 13. April 2017 in „Rubikon“. Das Magazin „Rubikon“, dem der im Anschluss veröffentlichte Artikel von Magda von Garrell entnommen ist, veröffentlicht Beiträge in der Regel unter den am Ende des Beitrags genannten Bedingungen. Diese gelten dann auch für unsere Leser*innen, sofern sie die Lizenzbedingungen einhalten.

Es geht in dem Beitrag um etwas sehr Einfaches: Wie mit Sprache soziale Welten bewertet, aber auch konstituiert werden. Wir alle führen täglich den Kampf um die Deutung von Vorgängen und dabei ist uns klar, dass die „Deutungshoheit“ einfacher zu erlangen ist, wenn man es schafft, Begriffe zu erfinden oder vorhandene Begriffe zu besetzen und den eigenen An- und Absichten gemäß zu auszudeuten, möglicherweise an der Veränderung einer Deutung mitzuwirken. Zugleich ist dies ein schöner, geradezu entspannender Sonntagsbeitrag von uns in Zeiten aufgeregter Diskussion über aktuelle Themen – in der viele Kampfbegriffe verwendet werden, um den Gegner in die Ecke zu drängen. Es ist eben kein wissenschaftlicher Diskurs, sondern – sic! – ein Kampffeld. Wir können in diesem Moment aber auch über Sprache nachdenken, denn Sprache ist Macht – besonders gerne die Macht der Beherrscher einer gewissen Sprache über die Nichtbeherrscher.

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Vom doppelt falschen Sprachgebrauch wider die Armen

Zu Recht regen wir uns darüber auf, dass es den (zumeist unsichtbaren) neoliberalen Vordenkern gelungen ist, eine ihren Interessen dienende Meinungsführerschaft zu übernehmen.

von Magda von Garrel

Dazu haben sie sich allerlei Mittel bedient, zu denen nicht zuletzt die Verankerung sprachlicher Umdeutungen gehört. Um nur zwei der bekanntesten Beispiele zu nennen: Die mehr als überfälligen Umverteilungsforderungen wurden zu moralisch verwerflichen und somit nicht mehr ernst zu nehmenden „Neid-Debatten“ umdefiniert. Gleichzeitig wurde sichergestellt, dass diejenigen, die trotzdem weiterhin mehr Gerechtigkeit forderten, den Status blauäugiger „Gutmenschen“ verpasst bekamen.

In einem schon älteren Versuch zur Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung wurde anstelle diffamierender Umdeutungen gleich eine komplette Verdrehung von Begrifflichkeit und Zuordnung vorgenommen. Die Rede ist von der Bezeichnung der Armen als „sozial Schwache“.

Trotz (oder vielleicht sogar wegen) des relativ harmlosen Klangs dieser Bezeichnung handelt es sich hierbei um einen üblen Kampfbegriff, der die Realitäten völlig auf den Kopf stellt.

Vom Wortsinn her bedeutet „sozial schwach“ nicht etwa – wie es gerne suggeriert wird – eine Kombination aus geringem Einkommen und charakterlichen Defiziten, sondern eine wenig ausgeprägte Bereitschaft zur Ausübung gemeinschaftsdienlicher Handlungen. Tatsächlich ist gerade diese Bereitschaft bei den Armen in einem besonders hohen Maße vorhanden.

Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass viele Arme bereit sich, sich in ihrer Not gegenseitig zu helfen: Ältere Geschwister kümmern sich um jüngere Geschwister, Frauen unterstützen sich vor und nach der Geburt, Arbeitssuchende tauschen Beschäftigungstipps aus und über alle Gruppen hinweg werden Dinge des täglichen Bedarfs ausgeliehen oder sogar verschenkt.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es die Reichen und Superreichen sind, die mit ihrer äußerst gering ausgeprägten Bereitschaft zum Abgeben und Teilen als „sozial Schwache“ bezeichnet werden müssten.

Doch genau das entzieht sich der Wahrnehmung vieler Menschen. Stattdessen wird – und das ist die zweite Konsequenz der völlig falschen begrifflichen Zuordnung – in der breiten Öffentlichkeit darüber diskutiert, inwieweit die Armen ihr Schicksal selbst verschuldet haben. Je stärker dieses Denken um sich greift, desto schwächer wird die Einsicht, dass die faktisch vorhandene Spaltung unserer Gesellschaft ausschließlich den Vermögenden nützt.

Und das, obwohl die Gegensätze immer krasser werden. Da kann man sich schon die Frage stellen, weshalb es denjenigen, die noch über einen unverstellten Blick auf die Realitäten verfügen, nicht besser gelingt, sich Gehör zu verschaffen. Von den vermutlich vielen hierfür ausschlaggebenden Gründen soll an dieser Stelle nur der eine zum Thema Sprache passende Grund herausgegriffen werden.

Damit spiele ich auf die in den „gebildeten Kreisen“ übliche Gepflogenheit an, sich in einer für „Normalbürger“ unverständlichen Art und Weise auszudrücken. Wohlgemerkt: Es geht in diesem Fall nicht um sprachliche Manipulationsversuche, sondern um sehr zutreffende Einsichten, denen aber jede „Vermittlungsfähigkeit“ abgeht. Auch das ist in meinen Augen ein falscher Umgang mit Sprache.

Um ein relativ aktuelles Beispiel zu zitieren:

„Auch eine per se monologische Kommunikationsform wie die zwischen Politikern und der Bevölkerung folgt dann einem pluralistischen demokratischen Denken, wenn sie im Geiste struktureller Dialogizität geführt wird.“ (Ekkehard Felder in der FR vom 4. April 2017)

Dabei geht es in dem Artikel, aus dem dieser Satz herausgerissen worden ist, um das Aufspüren bedenklicher Gemeinsamkeiten zwischen populistischem und elitärem Sprechen, d.h. um ein eigentlich wichtiges Thema. Nur: Was soll das Ganze, wenn diejenigen, die von den entsprechenden Erkenntnissen profitieren könnten, gar nicht in der Lage sind, diese zu verstehen?

Mit anderen Worten muss eine Sprache, die etwas bewirken will, einfach und zugleich möglichst konkret sein. Genau das ist es, was Populisten und Eliten (was ja kein Gegensatz sein muss) in einer ihnen sehr nutzbringenden Weise erkannt und umgesetzt haben.

Um dem etwas entgegenhalten zu können, wäre es meines Erachtens geboten, wenn die „Dichter und Denker“ dieses Landes, die sich der Beseitigung der Armut verpflichtet fühlen, von ihrem hohen sprachlichen Ross herabstiegen und den von Ausbeutung und Ungleichheit Betroffenen in schlichten Worten erklären würden, wer welche Interessen verfolgt.

Also: Schaut dem Volk auf’s Maul und findet zündende Formulierungen, die der fortschreitenden Manipulation Paroli bieten können!

Weiterlesen:

Magda von Garrel: „Die Armen sind nicht sozial schwach!

Magda von Garrel ist Sonderpädagogin sowie Diplom-Politologin und war als Integrationslehrerin an Grund-, Haupt-, Sonder- und Berufsschulen tätig. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Instandsetzungspädagogik: Integrationsansätze für lernentwöhnte Kinder“. Weitere Informationen unter www.magda-von-garrel.de.

Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.

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Dossier Kinder, Bildung, Erziehung, Wissenschaft

Dossier USA

  • Besteuert die Reichen endlich! Argumentationshilfe durch historische Steuersätze in den USA (dieser Beitrag)
  • Mein Leben als Pleite (M. H. Miller, Wirtschaft / Gesellschaft, Der Freitag)
  • Werden die USA sozialistisch? (Florian Rötzer, Gesellschaft, Telepolis)

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2 Kommentare

  1. Vielen Dank für das Teilen des Artikels. Doch diese Propagandamaschine geht immer weiter voran. Das Gerechtigkeitsgefühl wird als Neid difamiert. Nur auf die Dichter und Denker zu warten ist mir zu passiv. Haimart versucht in einfachen klaren Worten sich gegen die Ungerechtigkeiten zu stellen.

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