Vor vier Tagen hatten wir uns ausführlich und retrospektiv mit den Gelben Westen in Frankreich beschäftigt. Aufgrund eines Telepolis-Artikels, der ebenfalls schon im April 2019 erschienen ist, möchten wir ein paar wichtige Punkte nachtragen.
Wir hatten uns in dem Essay, zu dem sicher geplante Kommentar vom 4. August „ausgewachsen“ hat, die Frage gestellt, wieso bei den Gelben Westen nicht eine Führungsfigur sichtbar wird, weil wir der Meinung sind, das liegt in der natürlichen Dynamik solcher Bewegungen. Wir haben aber die Gelbwesten gleichzeitig über- und unterschätzt. Unterschätzt bezüglich ihrer basisdemokratischen Eindeutigkeit und psychologisch überschätzt:
Die Versammlung der Versammlungen bekräftigt ihre Unabhängigkeit gegenüber politischen Parteien und Gewerkschaften und erkennt keine selbsternannten Führer an. Wir glauben, dass es notwendig sein wird, den Kapitalismus zu beenden.
Gemeinsame Erklärung der Gilets Jaunes – Versammlung der Versammlungen der Gelbwesten vom 7. April in Saint-Nazaire
Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass niemand „hervortritt“ und dass es nicht jetzt an der Zeit wäre, Strukturen herauszubilden, die eine gewisse Personalisierung erlauben. Wir haben auf das genaue Gegenbeispiel von Greta Thunberg mit ihrer Bedeutung von FfF verwiesen. So extrem muss es ja nicht in die andere Richtung gehen, das hat auch wieder nichts mit Demokratie zu tun, sondern ist massenpsychologisch mindestens Starkult, wenn nicht eine Art von religiöser Verehrung. Hier weiter mit der Erklärung vom 7. April, zu Punkten, die das ansprechen, was wir bereits im Essay behandelt haben.
Trotz der repressiven Eskalation der Regierung, der Anhäufung von Gesetzen, die die Regeln für alle verschärften, die Lebensbedingungen, die Rechte und Freiheiten zerstören, hat die Mobilisierung der Bewegung Wurzeln geschlagen.
Verändern wir das von Macron verkörperte System. Als einzige Antwort auf die Gilets-Jaunes-Bewegung und andere kämpfende Bewegungen reagierte die Regierung in Panik mit autoritärer Verschärfung. Über fünf Monate hinweg fordern wir Solidarität und Würde, überall in Frankreich, in Kreisverkehren, auf Parkplätzen, auf Plätzen, auf Autobahnen, bei Demonstrationen und in unseren Versammlungen, und bekämpfen alle Formen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit.
Wir fordern die allgemeine Anhebung der Löhne, Renten und sozialen Mindestbeträge sowie öffentliche Dienstleistungen für alle. Unsere Solidarität im Kampf gilt insbesondere den neun Millionen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Wir sind uns der Umweltkrise bewusst und versichern, dass das Ende der Welt und das Ende des Monats von derselben Logik herrühren und denselben Kampf erfordern.
Gemeinsame Erklärung der Gilets Jaunes s. o.
Dieser Satz trifft es auf den Punkt:
Wir sind uns der Umweltkrise bewusst und versichern, dass das Ende der Welt und das Ende des Monats von derselben Logik herrühren und denselben Kampf erfordern.
„Das Ende des Monats“ erschließt sich aus dem Zusammenhang. So einfach ist die Abstraktion gar nicht, für Wohlstandskinder, die zwar für die Umwelt demonstrieren, aber noch nie Probleme damit hatten, finanziell bis zum Ende eines Monats über die Runden zu kommen. Wieviele Gelbwesten aus der linksökologischen Szene kommen, ist hingegen für uns schwierig zu bestimmen. Die Bilder von Demonstrationen lassen aber den Schluss zu, dass sehr wohl einige Menschen dabei sind, die vom Gepräge am meisten auf die hiesigen Grünen kommen, die „Altgrünen“ vor dem Ende der Friedensambitionen dieser Partei.
Die Polizeigewalt, über die bei uns nachrangig berichtet wird ist ein weiteres Thema. Noch gestern schrieben wir an Freunde angesichts von Polizeigewalt in Barcelona, die gegen Menschen ausgeübt, die sich gegen die Inhaftierung von katalanischen Autonomiepolitiker*innen einsetzen, wir sollten mal langsam eine Art Dauer-Artikel über Polizeigewalt schreiben, der immer wieder geupdatet wird, eine Art Timeline. Vor allem über die Polizeigewalt in sogenannten Demokratien mitten im alten Europa. Wir würden Russland oder Hongkong nicht aussparen, aber auch klarstellen, dass es ein gewisses Missverhältnis in der Berichterstattung gibt. Es kommt in weiten Teilen der Medien stark darauf an, wer Gewalt einsetzen lässt.
Es ist allerdings, das sei an dieser Stelle übergreifend angemerkt, unfassbar schwierig, wirklich gerecht zu sein bei der Bewertung von Vorgängen, die nie genau gleich sind und außerdem immer unserer subjektiven Wahrnehmung ausgeliefert: Wenn uns die Bedrängten sympathisch sind, ist es leicht, gegen ihre schlechte Behandlung zu protestieren, wenn wir aber ideologisch eher denen nahestehen, die Repression ausüben, wird’s kritisch. Die allermeisten, die berichten, verfallen dann in hemmungslose Subjektivität. Oder sie widmen sich, das ist nicht dumm, nur einem Kampf oder einer kleinen Anzahl von Kämpfen und sparen die anderen aus. Damit ersparen sie sich auch viele Whataboutismen, wie wir sie im Telepolis-Artikel und vor allem in den Kommentaren dazu wieder einmal sehen.
Interessanterweise nimmt auch Telepolis hier eine Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus vor und macht damit jenen Kummer, die versuchen, die von interessierter Seite gewollte Gleichsetzung dieser Begriffe abzuwehren. Das Interview, das Grundlage unseres Essays war, liefert bezüglich der Infiltration von rechts die wesentlich besser zur Analyse geeigneten Grundlagen.
Sehr interessant ist wiederum der Verweis auf Algerien in den frühen 1960ern. Diese Geschichte ist hierzulande wenig bekannt und durchaus einer Verbreitung wert. Für Frankreich ist Algerien ein weiteres Trauma nach dem Zweiten Weltkrieg, das sich bis heute auf die Politik auswirkt – nicht nur wegen der vielen Migranten, die aus dem Maghreb nach Frankreich kamen. Wir werde uns mit diesem linken Kampf, über den wir bis jetzt wenig wissen, noch befassen und haben uns dafür zwei Artikel zum Weiterlesen aufgeschrieben. Eine Bemerkung aus deinem dieser Beiträge wird uns auf jeden Fall in Erinnerung bleiben, bis es soweit ist, aber wir lösen nicht nur die Person, um die es dabei geht, aus ihren Zusammenhängen, sondern auch den Zusammenhang mit der Person auf und verallgemeinern: Welche revolutionären Figuren könnten heute ein Vorbild für einen Aufstand der verarmten Großstadtjugend sein? Und welche Interpretationen und Reinigung von falschen Mythen und Zuschreibungen wäre dafür erforderlich? Die Gelbwesten können gemäß ihrer Konstitution zwar keine Ikonen erstrahlen lassen, aber sie können sehr wohl historische Personen für ihren Kampf in Bezug nehmen.
TH
Dossier Kinder, Bildung, Erziehung, Wissenschaft
- Hurra, hurra, die Schulpflicht brennt! (Sven Böttcher, Bildung, Rubikon)
- Die Exzellenzinitiative und der Großberliner Siegestaumel in Relation zur Weltwirklichkeit (Thomas Hocke, Bildung / Wissenschaft, Der Wahlberliner, Quellen)
- Sicher ist sicher nicht – Eltern verfolgt heute eine fundamentale Angst … (Ursula Wesseler, Rubikon)
Dossier USA
- Besteuert die Reichen endlich! Argumentationshilfe durch historische Steuersätze in den USA (Thomas Hocke, Wirtschaft, Der Wahlberliner)
- Mein Leben als Pleite (M. H. Miller, Wirtschaft / Gesellschaft, Der Freitag)
- Werden die USA sozialistisch? (Florian Rötzer, Gesellschaft, Telepolis)
Andere Beiträge
- Rückkehr zu den Gelben Westen – Essay über ein „Interview zum Stand der Gilets Jaunes“ (Thomas Hocke, Gesellschaft, Der Wahlberliner) zu einem Artikel in „Ramba Zamba“ – dieser Artikel
- Tanz um das kalte Feuer (Bärbel Weisshaupt, Gesellschaft / Kapitalismusmus, Haimart) – dieser Beitrag
- Rentenbeitragszahler finanzieren den Staatshaushalt mit 30 Milliarden Euro (Seniorenaufstand / FAZ)
- „Lasst uns der Albtraum der Kriegsprofiteure sein!“ Konstantin Wecker im Gespräch mit Florian Ernst Kirner über notwendigen Widerstand gegen kapitalistische Zumutungen (Rubikon)
- Zeitsouveränität – ein wichtiger Begriff für künftige Arbeitskämpfe (nd, WZB, Katja Kipping, Gesellschaft / Arbeit, DIE LINKE)
- Vom doppelt falschen Sprachgebrauch gegen die Armen (Magda von Garrell via „Rubikon“)
- Polizeigewalt in Deutschland (Thomas Hocke, Der Wahlberliner, Gesellschaft, nach „DIE ZEIT)
- Wir lassen uns das Essen liefern und sind auf der gönnerhaften Seite Wie Journalisten dilettieren (…) (Thomas Hocke, Wirtschaft / Gesellschaft, Der Wahlberliner)
- Das reiche Land – Dichtung und Wahrheit (2) – IWF warnt vor Ungleichheit in Deutschland (Wirtschaft / Gesellschaft, Blog Haimart)
- Das reiche Land – Dichtung und Wahrheit (1), Gini-Koeffizient, Medianvermögen (Thomas Hocke, Wirtschaft, Der Wahlberliner)
- In vier Jahren ist alles weg (Thomas Hocke, Welt, Der Wahlberliner, Grundlage: taz)
- Willkommen im Club. Optimierung: Politik und Konzerne definieren soziale Kontakte neu. Freundschaften sollen nun bestimmten Zwecken dienen (William Davies, Gesellschaft / Wirtschaft, Der Freitag)
- Steuersenkungen – die mangelnde Weisheit der Wirtschaftsweisen als Ausdruck für ein nahes Ende des Systems (Thomas Hocke, Wirtschaft, Der Wahlberliner, Besprechung FAZ „Chef der Wirtschaftsweisen fordert Steuersenkung“)
- „Die Tea Party lässt grüßen“ (Peter Bach, Wirtschaft, DIE ZEIT)
- Umherschweifen bei den Gelbwesten (Peter Nowak, Telepolis)
- Übers Klima reden alle, aber nicht über Massenentlassungen (Matthias Weik, Marc Friedrich, Telepolis)
- Die Wüste wächst (Georges Hallermayer, Rubikon)
- Auch ein Blog schreiben ist Klimakacke (Umwelt, basierend auf „Aus Scham wird selten Wut“, Nina Scholz, Umwelt, Der Freitag)
- Fachkräftemangel und andere Trigger für eine zünftige Arbeitsmarktdiskussion – am Beispiel eines Telepolis-Artikels
- Das Elend ist beabsichtigt – Eröffnungsvortrag beim Kongress „Gesellschaftliche Spaltungen – Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit” der Neuen Gesellschaft für Psychologie (Klaus-Jürgen Bruder, Arbeit, Gesellschaft, Rubikon)
- Gibt es für Staatschulden eine obere Schranke? Bernd Murawski, Wirtschaft, Telepolis
- Wir müssen verstehen, dass das kapitalistische System allen schadet. – Interview mit Judith Oeltze vom Gärtnerhof Wanderup
- Wie die Konzerne die Vereinten Nationen unter ihre Kontrolle brachten (Norbert Häring, Geld und mehr)
- Vollversorgt und überbezahlt (Interview mit Hans Herbert von Arnim, Telepolis)
- SUVs: Botschaft von Rücksichtslosigkeit, Herrschsucht und vermeintlicher Überlegenheit (Detlef zum Winkle, Telepolis)
- Werden die USA sozialistisch? (Florian Rötzer, Gesellschaft, Telepolis)
- A Tectonic Shift in German Politics (Matthew D. Rose, Politik / Gesellschaft, Brave New Europe)
- „Alle gegen Alle“, aber bloß nicht: „Arm gegen Reich“ – Wie manche Medien die Gesellschaft aufteilen (Tobias Rieger, Gesellschaft, Nachdenkseiten)
- Vollbremsung – das Auto muss weg (Klaus Gietinger, Umwelt / Wirtschaft, Telepolis)
- Zum Wegwerfen. Warum das Geschäftsmodell der großen Textilkonzerne in die Mülltüte gehört. (Ralf Wurzbacher, Umwelt / Wirtschaft, Nachdenkseiten)
- Was kostet krieg wirklich? (USA: Die Kosten der Kriege gegen den Terror auf Schulden kommen erst noch), Florian Rötzer, Wirtschaft / Krieg und Frieden, Telepolis
- Lehren der Geschichte und Sorgen der Zukunft „Die EU sollte sich ehrlich machen“ (Kiran Klaus Patel, Gesellschaft, Politik, DER SPIEGEL)
- Es gibt keine Klimarettung aus der Portokasse (Norbert Häring, Umwelt, Wirtschaft, Blog Geld und mehr)
- Der Rüstungsrekord (Fred Schmid, Krieg und Frieden, Rubikon)
- Vermögensbegrenzung oder Oligarchie (Jörg Gastmann, Wirtschaft, Telepolis)
- Die Umverteilung von Arm nach Reich durch Zinsen (und Profite) (Jörg Gastmann, Wirtschaft, Telepolis)
- Zivilgesellschaftliche Erklärung zur Nachhaltigkeit (Umweltforum)
- Warum keine Vermögensstatistik stimmt (Jörg Gastmann, Wirtschaft, Telepolis)
- Mehr Demokratie wagen! („Die Pseudo-Demokratie“, Christian Fischer, Gesellschaft, Rubikon)
- „Kurze Vollzeit“ (ATTAC, Wirtschaft / Gesellschaft)
- Wasserstoff als politisch verfemter Energiespender (Originaltitel: „Wir werden verarscht, was das Zeug hält“) (Marcus Klöckner interviewt Timm Koch, Wirtschaft, Nachdenkseiten)
- Elektromobilität hat blutige Hände (Bärbel Weisshaupt, Wirtschaft / Gesellschaft, Blog Haimart)
- Warum Tesla die Welt nicht retten wird (Angelika Seliger, Wirtschaft, Telepolis)
- Was ist Sozialismus? (Ludger Eversmann, Gesellschaft, Telepolis)
- Radikale Verkürzung der Arbeitszeit als Beitrag zum Klimaschutz (Tom Strohschneider, Wirtschaft / Gesellschaft, OXI)
- Haben Menschen ein natürliches Gefühl für Fairness? (Andreas von Westphalen, Gesellschaft, Telepolis)
- Rezo und die Relativierung der Ungleichheit (Julian Bank, Gesellschaft / Wirtschaft, Makronom)
- Mythos Europa (Régis Debray, Gesellschaft, Le Monde diplomatique)
- Entwicklung durch Auswanderung? (Alexander King, Gesellschaft / Wirtschaft, Nachdenkseiten)
- Tag der Lebensmitelverschwendung (Ökologie, Blog Campogeno)
- Der Grund-Konflikt – Enteignungen würden soziales Unrecht bei einer seiner Wurzeln packen (Roland Rottenfußer, Wirtschaft / Gesellschaft, via Rubikon)
- Update: „Der Siegeszug der Wohltätigkeit“ – Bill Gates greift dem SPIEGEL unter die schwachen Arme (Norbert Häring + meedia)
- Der Siegeszug der Wohltätigkeit: Egal ob im globalen Norden oder Süden – private Stiftungen sind Teil des Problems, nicht der Lösung (Linsey McGoey, Wirtschaft / Gesellschaft, Adamag)
- Es geht ums Ganze! Nicht nur Assanges Leben steht auf dem Spiel — auch der Fortbestand der Pressefreiheit und damit ein Grundpfeiler der Demokratie (Jake Johnson, Pressefreiheit, Rubikon)
- Für Irrlichter sich ausbrennen lassen (Bärbel Weisshaupt, Gesellschaft / Arbeit / Wirtschaft, Blog Heimart)
- Linke Kontroverse um Repression in der DDR (Sebastian Bär, Gesellschaft, nd)
- Ein Plädoyer für den gepflegten Streit (Gerhard Kugler, Gesellschaft, Neue Debatte)
- Manning / Assange – Erklärung der ILANA (Gesellschaft, via Augen auf! Und durch …)
- Die soziale Rutschbahn – als Folge falscher globaler Weichenstellungen geht es mit … (Werner Voß, Wirtschaft / Gesellschaft, Rubikon)
- Unternehmen werden zur Sparbüchse der Aktionäre (Norbert Häring, Wirtschaft, Blog Geld und mehr)
- Neues aus den Unterklassen: Panik vor Karlsruher Hartz-IV-Urteil? (Susan Bonath, Gesellschaft, RT Deutsch)
- 21th Century Victorians (Jason Tebbe, Gesellschaft, Jacobin)
- Wider die Mär vom Humankapital (Norbert Häring, Wirtschaft, Blog Geld und mehr)
- 100 Jahre Faschismus: „Mussolinis Terrorschwadronen – vor 100 Jahren wurde mit der Gründung der Fasci di combattimento die Keimzelle des italienischen Faschismus gelegt“ (Gerhard Feldbauer, Geschichte, Junge Welt)
- „Klimareligion – Das erste Buch Greta“ (Jan Fleischhauer, Umwelt & Klima, Der Spiegel)
- „Atlantisch bleiben, europäischer werden“ (Sevim Dagdelen, deutsch-französische Militärpolitik, Spiegel online)
- Gelenkte Kritik: Die Eliten manipulieren unser Denken und Handeln zum Umweltschutz (Susan Bonath, Umwelt & Klima, Telepolis)
- „Instrumentalisierte Ökologie“ (Bärbel Weisshaupt, Umwelt & Klima – Blog Heimart)